Niemand entwickelt sich außerhalb des Systems und der Gesellschaft, in der sie/er lebt. Die Zeit, in der ein Mensch aufwächst und reift, beeinflusst das Denken. Unverkennbar ist, dass sich heute viele Menschen auf sich selbst zurückziehen und aufhören, sich für allgemeine Dinge („das Politische“) zu interessieren. Doch eine atomisierte Gesellschaft führt zu Apathie und Demoralisierung. Auch winzige Brennpunkte des Trotzes werden vernichtet, die enttäuschte und müde Öffentlichkeit tut so, als ob sie nichts von Problemen wisse; das unabhängige Denken und Schaffen zieht sich in die Gräben der Privatheit zurück. Doch das ist, was die Macht braucht, um ihre eigentliche Intention zur verwirklichen: das Leben gleichförmig zu machen und alles nur ein wenig Unabhängige aus ihm herauszuoperieren.
Die osteuropäischen Dissidenten der 70er Jahre machten Schluss mit dem Warten auf Besserung der Welt und bekannten sich zu ihrem Recht, aktiv Stellung zu beziehen. Václav Havel, Leitbild der tschechischen Dissidenz, hat immer daran gedacht, was Jan Patočka einmal sagte: die wirkliche Prüfung des Menschen ist nicht, wie er/sie die Rolle ausfüllt, die man sich selbst ausgedacht hat, sondern die, welche einem vom Schicksal zugemessen wurde. Das Leben ist nicht außerhalb der Geschichte, und die Geschichte ist nicht außerhalb des Lebens. Freiheit ist für eine Gesellschaft, was Gesundheit für den Einzelnen ist. Und wo das Recht endet, beginnt immer Tyrannei. Das intellektuelle Vermächtnis der Dissidenz gewinnt im Kontext der autoritären Entwicklungen weltweit eine neue Bedeutung und Dringlichkeit.
Radka Denemarková ist freischaffende Schriftstellerin und zurzeit Jan Patočka-Fellow des IWM.
Das Kolloquium wurde von IWM Permanent Fellow, Ludger Hagedorn moderiert und kommentiert.