Die Macht der Demografie

19.05.2022
News
Rainer Münz and Ivan Krastev sitting in the IWM library

Ein Abend am IWM mit Sozialwissenschaftler Rainer Münz und Politologe Ivan Krastev über das politische Trauma einer schrumpfenden Gesellschaft.

Demografische Entwicklungen können ganze Nationen verändern. Dieses Szenario beleuchteten Rainer Münz, Visiting Professor an der CEU und IWM-Permanent Fellow Ivan Krastev am Dienstag in der IWM Bibliothek. 

Bestes Beispiel sei das Altern der Baby-Boomer Generation, so Rainer Münz zu Beginn seiner Ausführungen. Als große Bevölkerungs- und Wählergruppe würden sie die Politik eines Landes maßgeblich prägen. Jetzt erreiche diese Generation das Pensionsalter. „Wie beeinflusst das die Steuerpolitik? Wenn man jung ist, wünscht man sich mehr Investitionen in den Bildungsbereich. Im Alter möchte man, dass in das Gesundheitswesen und die Pflege investiert wird und die Pension gesichert ist“, erklärte Rainer Münz. „Es ist kein Wunder, dass in Österreich vier Mal so viel Budget in das Pensionssystem fließt, als in die höhere Bildung und Universitäten.“ Das spiegle zum einen die Präferenzen der Wähler:innen wider, zum anderen verändere sich auch das Wahlverhalten im Alter. „Ältere Wähler:innen tendieren dazu, konservativer zu wählen. Sie bleiben bei derselben Partei, meist bei der Volkspartei oder den Sozialdemokraten“, sagte Rainer Münz. 

Während der Diskussion zeigte Rainer Münz auf, dass zusätzlich zur Überalterung der Gesellschaft auch eine starke Abwanderung ins Ausland erhebliche Auswirkungen auf die politische Ausrichtung eines Landes hat. So weise etwa die türkische Diaspora mehr Erdogan-Anhänger:innen auf, als die Wähler:innen in der Türkei. Als weiteres Beispiel nannte er die IRA-Politik der USA. Das starke Zugehörigkeitsgefühls vieler Amerikaner:innen zu Irland, habe dazu geführt, dass die IRA in den Vereinigten Staaten nicht auf die Liste der Terrororganisationen gesetzt wurde. 

Entvölkerung als Schicksal des 22 Jahrhunderts

Durch Auswanderbewegungen und niedrige Geburtenraten sei eine schrumpfende Gesellschaft das unaufhaltbare Schicksal des 22. Jahrhunderts, waren sich Rainer Münz und Ivan Krastev einig. „Es hat mich schockiert in welchem Ausmaß, der demographische Rückgang mit dem kulturellen Niedergang einer Nation gleichgesetzt wird“, sagte Ivan Krastev bei der Diskussion. Der Gedanke, die eigene Bevölkerung zu verlieren, sei dabei eine extrem traumatische Erfahrung für Politiker:innen, so Ivan Krastev weiter. 
Demografie könne Politik verändern. In diesem Zusammenhang verwies Ivan Krastev auf eine amerikanische Studie, die zeigt, dass Menschen, die glauben bald einer Minderheit anzugehören, konservativer wählen. Ein Vorteil, den auch Trump 2016 genutzt habe, wie Ivan Krastev erzählte. Im US-Wahlkampf drohte der ehemalige Präsident etwa damit, dass die Republikaner bei einem Wahlverlust, die Chance je wieder an die Macht zu kommen für immer verspielen würden. Seien die Demokraten erst in der Regierung, würden Einwander:innen das Wahlrecht erhalten und damit die Machtverhältnisse in den USA für immer ändern.  Das sei zwar unbegründet, weil man das Wahlverhalten von Menschen nicht vorhersagen könne, widerlegt Ivan Krastev. Aber „es gibt diese Angst, dass Regierungen ihre eigenen Leute wählen können“, sagte der Politologe. 

Dennoch endete der Abend mit einem positivem Ausblick. Die einsetzende Entvölkerung sei zwar eine unaufhaltbare Realität, sie müsse aber nicht zwingend negativ sein, so Rainer Münz: „Die Schweiz, Singapur und Hong Kong zeigen vor, dass es nicht auf die Größe ankommt. Auch mit einer kleinen Bevölkerung kann man sein Überleben sichern und ein wohlhabendes Land sein.“ Der Prozess der Entvölkerung habe bereits eingesetzt und werde zuerst die nördliche Hemisphäre und später auch China erfassen. „Jetzt geht es darum, zu verstehen, dass das unsere Zukunft ist. Auch wenn das für Demokratien schwieriger wird als für autoritäre Regime“, sagte Rainer Münz. „Um mit etwas Positivem zu enden: es wird viel mehr Land geben“, schloss Ivan Krastev die Debatte.