Am 16. Februar 2021 starb Jan Sokol. Die Nachricht vom Tod des tschechischen Philosophen, Bürgerrechtlers und Politikers erfüllt uns mit großer Trauer. Er war dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen seit den Anfangsjahren verbunden.
The IWM is deeply saddened by the new of Jan Sokol's passing on February 16th 2021, who had a long standing connection to the IWM since the early 1980s.
Klaus Nellen, IWM Permanent Fellow Emeritus and former Head of the Jan Patocka Archive at the IWM, looks back on his life and visits at the IWM in this personal essay.
Klaus Nellen, IWM Permanent Fellow Emeritus und ehemaliger Leiter des Jan Patocka Archivs, erinnert sich in diesem persönlichen Essay an Begegnungen mit Jan Sokol, die Verbindung zum IWM und das gemeinsame Interesse an Jan Patocka.
Ich lernte Jan Sokol zu Beginn der 1980er Jahre kennen, als ich im Auftrag des IWM mehrfach nach Prag reiste, um in Wien ein Archiv für die Schriften des tschechischen Philosophen Jan Patočka aufzubauen. In seinen letzten Lebensjahren war dieser als unerschrockener Bürgerrechtler und Sprecher der Charta 77 ins Visier des kommunistischen Regimes geraten. Nach seinem Tod am 13. März 1977 schien sein Nachlass gefährdet. Mit der Unterstützung der Familie Patočkas, vertreten durch seinen Schwiegersohn Jan Sokol, und der Hilfe seiner Schüler gelang es uns, die Papiere Patočkas in Kopie nach Wien zu bringen, um sie dort zu erschließen, zugänglich zu machen und an ihrer Publikation zu arbeiten. Eine wesentliche Rolle spielte dabei übrigens ein enge Freund und Weggefährte Sokols, der Philosoph Jiří Němec (1932 – 2001), der seit 1983 in Wien als politischer Flüchtling lebte.
Bei meinen Besuchen in Prag traf ich Jan Sokol regelmäßig und erinnere mich bis heute gerne an die anregenden Gespräche mit diesem überaus freundlichen und klugen Mann. Er unterstützte die Arbeit des Wiener Archivs vorbehaltlos. Nach der Wende 1989 konnte alsbald das Prager Patocka-Archiv gegründet werden, in dem seitdem der Originalnachlass des tschechischen Denkers aufbewahrt wird. Das Wiener Archiv gab seine Vollmacht an die Familie zurück, und diese übertrug sie dem Prager Archiv. Bis heute arbeiten beide Archive eng zusammen, um das Werk Jan Patočkas zu erforschen und zu verbreiten.
Die Verbindung zu Jan Sokol blieb nach 1989 aufrecht. Nun endlich durfte umgekehrt er nach Wien reisen und konnte zum intellektuellen Leben des IWM beitragen. So eröffnete er 2002 die Konferenz Jan Patočka und die Philosophie der Renaissance, hielt 2003 einen Vortrag über Menschenrechte und publizierte 2007 in Transit einen Artikel über Jan Patočka und die Charta 77.
*
Wer war Jan Sokol? Er wurde am 18. April 1936 in Prag geboren. Sein Vater war Architekt und Rektor der Prager Kunstgewerbeschule, die Mutter hatte Kunstgeschichte studiert. Er war zeitlebens von seinem katholischen Elternhaus geprägt.
Unter dem kommunistischen Regime blieben ihm der Besuch einer höheren Schule und damit der Universitätszugang zunächst verwehrt. Nach einer handwerklichen Ausbildung holte er 1958 das Abitur nach und absolvierte von 1963 bis 1967 ein Abendstudium in Mathematik an der Karls-Universität, wo er dann als Programmentwickler im Forschungsinstitut für mathematische Maschinen arbeitete.
1961 heiratete er Františka Patočková, die Tochter des Philosophen Jan Patočka. Er hinterlässt drei Kinder. In den 1960er Jahren lernte er den Philosophen Jiří Němec kennen. Beide wurden bedeutende Vertreter der christlichen intellektuellen Dissidenz und engagierten sich als Bürgerrechtler. Wie Němec gehörte Sokol zu den Erstunterzeichnern der Charta 77. Er hielt Untergrundseminare, beteiligte sich an inoffiziellen Übersetzungsprojekten und schrieb Artikel, die im Samisdat zirkulierten.
Das Jahr 1989 war für Jan Sokol ein dramatischer Einschnitt. Nach den ersten freien Wahlen fand er sich – wie er selbst sagte, „schlagartig und gänzlich unvorbereitet“ – in der Politik der jungen Demokratie wieder.
Während der Samtenen Revolution schloss sich Sokol dem tschechischen Bürgerforum an. 1990 wurde er als Abgeordneter ins tschechoslowakische Parlaments gewählt und Vorsitzender der parlamentarischen Delegation im Europäischen Parlament. Er wurde Fraktionsvorsitzender des Bürgerforums bis zu dessen Auseinanderbrechen 1991. Bei der Präsidentenwahl 1992 wurde Sokol nominiert, verzichtete jedoch auf die Kandidatur.. Nach der Auflösung der Tschechoslowakei zum Jahreswechsel 1992/93 zog sich Sokol zunächst aus der Politik zurück, um sich seiner Lehrtätigkeit zu widmen. 1998 war er kurzzeitig parteifreier Bildungsminister und konnte ein neues, wesentlich von ihm geprägtes Hochschulgesetz auf den Weg bringen. Nach seiner Zeit als Minister beriet er bis 2011 seine Amtsnachfolger. Als parteiloser Kandidat bewarb er sich im Februar 2003 für das Amt des Staatspräsidenten, unterlag aber Václav Klaus.
Was Sokols akademische Laufbahn betrifft, so stand ihr erst nach der Wende nichts mehr im Wege. An der Pädagogischen Fakultät der Karlsuniversität unterrichtete er von 1990 an Philosophie und Anthropologie, ab 1993 auch an der Philosophischen Fakultät. 1993 legte er seine Diplomarbeit vor, 1995 verteidigte er seine Dissertation und 1997 habilitierte er sich. 2000 wurde er zum Professor für Philosophie an der Karlsuniversität ernannt. Sokol war maßgeblich an der Gründung der dortigen Humanwissenschaftlichen Fakultät beteiligt und deren erster Dekan. Er lehrte an seiner Alma Mater bis zum Jahr 2020.
Seine zahlreichen Publikationen erschienen in mehreren Sprachen, auf Deutsch: Philosophie als Verpflichtung: Über Ethik, Menschenrechte, Bildung und Politik (2014) und Mensch und Religion. Ursprünge – Wege – Orientierungen (2007). Über seine akademischen Veröffentlichungen hinaus war Sokol bis zuletzt in der öffentlichen Diskussion seines Lands präsent.
*
Mit Jan Sokols Tod verliert das IWM einen treuen Freund und Unterstützer. Wir werden ihn nicht vergessen.
Am Ende möchte ich zitieren, was Sokol 2017 über den Philosophen geschrieben hat, dessen Denken und Leben uns zusammengebracht hatte:
„Jan Patočka will be inspiring for the future at least in three respects. In the first place, for his fellow philosophers, by the way in which he thought – the earnest with which carried out his work, how thoroughly he prepared for every article and lecture, and how critically he regarded his work afterwards. In times of the quantitative “evaluation” of all scientific and scholarly work, in times of the installment of a system where everybody is forced to publish as much and as fast as possible, Patočka’s literary estate with its many unfinished manuscripts reminds us of a different approach. Not that his way of thinking was so volatile, but because he kept on asking himself the same difficult question: is it really worth to be published?
Secondly, Patočka might be considered exemplary for citizens of today in the sense that he helps us to understand that an educated person does not stand out because she/he can speak about everything and pretends to understand everything, but because she/he respects the competences of others, including that of elected representatives and politicians. Only in extreme cases of great importance is it essential to interfere critically, certainly without personally discrediting those that are being criticized.
Finally, Patočka continues to remind us of our infinite human duty to think and to ponder the consequences of our own work (respectively those of our passivity or omission to act), and this includes the responsibility to also think beyond the borders of our own domain, because it is precisely here where the consequences might be especially dangerous.“
(Aus: „15 Voices on Patočka for the 21st Century“, zusammengestellt von Ludger Hagedorn)