Krzysztof Michalski
Die Flamme der Ewigkeit
Eine existentielle Interpretation Nietzsches
Herausgegeben von Ludger Hagedorn, Piotr Kubasiak und Klaus Nellen
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler
Verlag Karl Alber, Freiburg, 2022
Geb., 288 Seiten, 35,00 Euro. ISBN: 978-3-495-49238-3
Bewohnen wir einen Blitz, so ist er das Herz der Ewigkeit.
René Char, 1947
Endlich liegt das Nietzsche-Buch und Hauptwerk des polnischen Philosophen Krzysztof Michalski (1948 - 2013) auch in deutscher Sprache vor. Das polnische Original kam 2007 heraus, hervorgegangen aus einer Reihe von Essays, die von Nietzsche ausgehend über die menschliche Existenz reflektieren. Sie waren zuerst in den Feuilletons verschiedener polnischer Zeitungen erschienen. Michalski war damals bereits als öffentlicher Intellektueller bekannt, doch die unerwartet große Resonanz der Essays überraschte auch ihn.
Der polnischen Ausgabe folgten eine englische, eine russische und eine französische Übersetzung. Deutsch war die Zweitsprache des Philosophen Michalski, und so lag die deutsche Übersetzung dem Autor besonders am Herzen. Der Übersetzer Thomas Weiler machte sich bereits 2008 ans Werk und stellte im Frühling des Folgejahrs das deutschsprachige Manuskript fertig. Der Autor wollte es dann in den Sommerferien für den Druck vorbereiten – ein Plan, den er Jahr um Jahr wegen anderer Verpflichtungen aufschieben musste und den sein Tod 2013 schließlich vereitelte. In der Folge wurde an dem von Michalski gegründeten Institut für die Wissenschaften vom Menschen ein Archiv mit seinen Schriften eingerichtet, das heute von Ludger Hagedorn geleitet wird. Die Publikation der deutschen Fassung der Flamme der Ewigkeit zählte zu den ersten Projekten der am Aufbau des Archivs Beteiligten (und Herausgebern der deutschen Ausgabe). Die Übersetzung Weilers erwies sich als überaus zuverlässig, doch die Redaktion dieses mit seinen Quellen dicht verwobenen Textes (unter Heranziehung auch der autorisierten englischen Übersetzung) samt der Überprüfung der Zitate und Erstellung der Nachweise (578 an der Zahl) stellten eine große Herausforderung dar.
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Krzysztof Michalskis Buch ist der Versuch, Nietzsche mit Blick auf die alte Frage nach der conditio humana neu zu lesen. Der Leser wird nicht die eine Antwort finden, sondern viele, und die Wege dorthin sind oft weit und verschlungen. Als Leitfäden dienen dem Autor Schlüsselbegriffe und -metaphern in Nietzsches Denken, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen und bis in unsere Gegenwart wirken. Der Autor setzt Nietzsche in einen Dialog mit den vielstimmigen Zeugnissen der Suche nach dem Geheimnis der menschlichen Existenz – von der griechischen Philosophie über das Neue Testament und die Kirchenväter bis zu klassischen Denkern und Schriftstellern der Moderne.
Es erscheint paradox, dass Michalski bei seiner Frage nach der menschlichen Existenz vom Begriff der Ewigkeit ausgeht. Ist Ewigkeit nicht das denkbar Abstrakteste? Ist sie nicht das Gegenteil von Zeit? Wartet die Ewigkeit nicht in der Ferne - am Ende des Lebens, am Ende der Zeiten? Nietzsche folgend zeigt der Autor, dass die Zeit, ihr Fließen, ohne die Ewigkeit unverständlich bliebe. Die Ewigkeit ist eine Dimension der Zeit, „ihr Kern, ihr Wesen, ihr Antrieb“, sie verknüpft Vergehen und Werden, Vergangenheit und Zukunft: Der Tod ist jedem Augenblick des Lebens eingeschrieben, die Apokalypse findet jetzt statt. Anders gesagt, ist unser Leben von einem nicht zu schließenden Riss gezeichnet, der alles Bisherige in Frage stellt und zugleich ungeahnte Möglichkeiten eröffnet.
Das Leben ist an unseren Leib gebunden. Der Leib aber ist kein Ding – nicht etwas, das ich habe, sondern das ich bin. Er charakterisiert unsere Anwesenheit in der Welt als eine zerbrechliche, als sterbliche. Aber der Leib ist nicht nur Ausdruck der Vergänglichkeit unseres Lebens, er ist auch Ausdruck der Fähigkeit des Lebens, Neues hervorzubringen, das es übersteigt - und in diesem Sinne Ausdruck der Unsterblichkeit. „Der Leib“, schreibt der Autor, „ist kein zerfallendes Ding, in das wir eingeschlossen wären. Er ist das Bestreben, über sich selbst, über das Seiende hinauszugehen. Er ist die – bis zur Schmerzgrenze – nach der Ewigkeit ausgestreckte Hand.“
Was an dem Buch beeindruckt, ist nicht nur die Freilegung von gedanklichen Verbindungen quer durch die Jahrhunderte, sondern auch die suggestive Kraft des Stils. So schreibt Michalski, Nietzsches Denken umkreisend:
Die Ewigkeit, dieser unendlich kleine Augenblick, der wie ein Blitz die Kontinuität meiner Geschichte zerreißt und alles verbrennt, was war. (…) Die Krankheit des Lebens. Die Quelle der Unruhe, die sich aus der Abfolge der Momente heraus nicht erklären lässt, die nicht gewusst werden kann. Die Quelle der Tragödie des menschlichen Schicksals. Die sengende, goldene Mittagssonne, der Augenblick, in dem die Schatten am kürzesten sind, ohne Verbindung zum Davor und Danach. Die Stille zwischen den Worten.
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Am Ende seien zwei philosophische Weggefährten Michalskis zitiert, die sich zu seinem Buch geäußert haben. Leszek Kołakowski schrieb:
Es gibt viele Bücher über Nietzsche. Einige zeichnen sich durch ihre Erudition und analytische Schärfe aus, andere durch ihre ästhetische Qualität. Doch nur selten finden wir eines, das beides vereint: Gelehrsamkeit und Schönheit. Dieses Verdienst hat Michalskis Buch.
Und Charles Taylor meinte:
Dieses bemerkenswerte Buch ist der Versuch, den rätselhaftesten aller Philosophen zu verstehen, Friedrich Nietzsche. Es bietet eine Interpretation zentraler Begriffe seines Werkes. Die erhellende Kraft von Michalskis Nietzsche-Lektüre rührt nicht nur aus seiner Verortung des Denkers in der philosophischen Tradition, sondern mehr noch aus der durchgehenden Bezugnahme auf den Hintergrund und den Widerpart von Nietzsches Denken – das Neue Testament und die Figur Christi. Am Beeindruckendsten aber sind der Scharfsinn und das Gespür, mit denen uns Michalski an Nietzsche heranführt, indem er die Dimensionen der menschlichen Erfahrung auslotet, die der Philosoph für uns offenlegen wollte.
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Krzysztof Michalski (1948-2013) war ein polnischer Philosoph und öffentlicher Intellektueller. Er lehrte in Boston und Warschau. Sein Denken, geprägt von der phänomenologischen und hermeneutischen Tradition, führte ihn in den 1990er Jahren zu Nietzsche. Michalski war davon überzeugt, dass Philosophie untrennbar mit Verantwortung verbunden ist. Sein daraus entspringendes Engagement galt der Idee Europas als eines unteilbaren geistigen Raums. 1982 gründete er in Wien das Institut für die Wissenschaften vom Menschen, eine Stätte des intellektuellen Austauschs zwischen Ost und West.