Auf der Suche nach Europa: West und Ost im (post-)imperialen Roman der Türkei

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Der Konflikt, ob die Türkei eher dem Westen oder dem Osten zuzuordnen sei, beschäftigte osmanische wie türkische Intellektuelle gleichermaßen. Als nach dem Untergang des Osmanischen Reiches das gesellschaftliche Leben in der Republik Türkei nach europäischem Vorbild reformiert wurde, brach der Schriftsteller Peyami Safa zu einer Reise auf. Sein Ziel: Europa zu suchen und zu finden.

Gibt es irgendeinen anderen Ort auf dieser Welt mit einer derart ungewissen Adresse wie Europa?“, fragte sich Peyami Safa in seinem Reisebericht „Die große Umfrage Europas“ (Büyük Avrupa Anketi) im Jahr 1936. Die Ungewissheit darüber, wo Europa zu verorten sei, veranlasste den bekannten türkischen Schriftsteller und Journalisten (1899–1961) zu einer ausgedehnten Reise durch den europäischen Kontinent. Seine Reiseaufzeichnungen zu Griechenland, Italien, der Schweiz, Frankreich, Deutschland und Österreich erschienen drei Monate lang regelmäßig in der Cumhuriyet. Safas Erkundigungen sollten ihm und den Lesenden der bis heute wichtigen türkischen Tageszeitung Aufschluss darüber geben, wo Europa beginne und auch, ob die Türkei denn eigentlich dazugehöre.

Die Frage nach der Zugehörigkeit zu dem nicht geographisch, sondern kulturell-zivilisatorisch imaginierten Raum des „Westens“ oder des „Ostens“ beschäftigte bereits osmanische Intellektuelle im 19. Jahrhundert. Die Tanzimat-Reformen sollten das Osmanische Reich (ca. 1299–1922) nach dem Vorbild europäischer Staaten modernisieren und damit den Fortbestand des territorial nicht mehr expandierenden Reichs gewährleisten. Die politische Teilhabe des Imperiums am europäischen Mächtekonzert und die Zunahme des diplomatischen Austausches führten auch im kulturellen Bereich zu verstärkten Wechselbeziehungen. Während in westeuropäischen Ländern die „Orient“-Mode, Turquerie, mit einer Begeisterung über „östliche“ Motive in Kunst, Literatur und Musik einherging, kam es auch im Osmanischen Reich zu einer Beschäftigung mit Europa. So fand beispielsweise ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, durch die Übersetzung französischer Literatur in das Osmanisch-Türkische, der Roman als literarische Gattung Einzug in den Literaturbetrieb.

Die ab den 1870er Jahren von osmanischen Schriftsteller:innen wie Ahmet Midhat verfassten Romane beschäftigten sich fortan mit dem West-Ost-Thema, insbesondere mit der Frage nach dem Ausmaß der Europäisierung. In welchen Bereichen konnte das im globalen Maßstab dominant werdende europäische Fortschrittsmodell Anwendung finden? Sollten lediglich Technik und Wissenschaft dem Fortschrittsgedanken unterworfen, oder auch das gesamte gesellschaftliche und kulturelle Leben nach europäischem Vorbild umgebaut werden? Die literarische Figur des züppe, eines übertrieben europäisierten osmanischen Dandys, der lieber gebrochenes Französisch als muttersprachliches Türkisch spricht, warnte die Leser:innen vor der unkritischen und maßlosen Übernahme westlicher Verhaltensweisen, Werte und Normen. Im Zentrum der Literatur stand demnach die Frage nach Originalität in Zeiten rasanten gesellschaftlichen Wandels und der Anpassung an westliche Ideale. Vor dem Hintergrund der kolonialen Expansion der europäischen Großmächte im Nahen Osten und den zentrifugalen Nationalbewegungen innerhalb des Reiches verbreitete sich zunehmend eine literarisch ästhetisierte Angst vor einem Verlust des „authentischen“ östlichen Kulturerbes.

Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem das multinationale Osmanische Imperium an Seiten der Habsburger Monarchie und des Deutschen Reiches unterging, erreichten die verwestlichenden Reformen mit dem Staatsgründer der Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, ihren Höhepunkt. Im Rahmen des türkischen Nationsbildungsprozesses orientierten sich die politischen Eliten des Nationalstaates klar am europäischen Modell; das Osmanische Reich wurde als rückständig abgelehnt. Die kemalistischen Reformen betrafen alle Bereiche des Lebens und umfassten u.a. Kleidungs-, Schriftund Sprachreformen. Insbesondere der Wechsel von arabischen Schriftzeichen zum lateinischen Alphabet führte zu einem radikalen Bruch mit dem schriftlichen Erbe des untergegangenen Imperiums. Die bereits zuvor literarisch artikulierte Sorge um einen Verlust des kulturellen Selbst schien sich bewahrheitet zu haben.

Literarische Texte kulturwissenschaftlich zu untersuchen bedeutet, sie im Kontext der Zeit ihres Entstehens zu beleuchten und damit biographische, gesellschaftliche, historische und politische Gegebenheiten in die Analyse miteinzubeziehen. Viele der nach Gründung der Türkei im Jahre 1923 veröffentlichten literarischen Texte stehen in engem Bezug zu den genannten Umwälzungen der Zwischenkriegszeit. Als so genannte „post-imperiale Narrative“ reflektieren sie den Übergang von der imperialen osmanischen hin zur nationalen türkischen Ordnung. Die post-imperialen Erzählungen lenken unseren Blick darauf, dass der Untergang des Imperiums nicht nur politischrechtliche Aspekte umfasste, sondern auch im Bereich des Symbolisch-Ästhetischen nachwirkt.

Schriftsteller:innen wie Peyami Safa, Halide Edib Adıvar (1884– 1964) oder Ahmet Hamdi Tanpınar (1901–1962) waren noch im osmanischen Reich geboren worden und verarbeiteten in ihren literarischen sowie essayistischen Werken die politische und kulturelle Neuausrichtung ihrer Zeit. Charakteristisch für ihre „post-imperialen Romane“ ist das Ausloten der neuen nationalen Identität und wie sich diese zur osmanischen Vergangenheit einerseits und zu Europa andererseits positionieren sollte. In Halide Edibs zeitgleich auf Englisch und Türkisch erschienenen Roman Die Tochter des Schattenspielers (The Clown and His Daughter bzw. Sinekli Bakkal, 1935) ist es die junge Protagonistin Rabia, die mit ihrem stimmlichen Talent die alte „östliche“ Musik und die Kunst des Koranrezitierens aus der Vergangenheit in die Gegenwart holt. Die lokalen, historisch verwurzelten Traditionen eines ärmlichen Istanbuler Stadtviertels werden hier nostalgisch als Kontrapunkt zum materialistischen Treiben in den europäisierten Bezirken der Stadt evoziert. Ahmet Hamdi Tanpınar rückt mit dem melancholischen Protagonisten Mümtaz aus seinem Roman Seelenfrieden (Huzur, 1948) das literarische Erbe des untergangenen Reiches in den Mittelpunkt. Während in den modernen Geschäftsauslagen vor allem übersetzte französische Romane zu finden sind, stößt er in den engen Gassen verwinkelter Basare auf vergessene osmanische Autoren und taucht in ihre vergangenen, verlorenen Welten ein. In Peyami Safas Roman Fatih-Harbiye (1931) pendelt die traditionell erzogene Neriman zwischen einem „östlichen“ und einem „westlichen“ Bezirk Istanbuls hin und her – die innere Spannung, sich nicht für das eine oder das andere entscheiden zu können, droht ihr zum Verhängnis zu werden.

Die post-imperialen Erzählungen ästhetisieren den Zustand des Dazwischenseins; die Gegenwart wirkt zerrissen zwischen der östlichen, imperialen Vergangenheit und der westlichen, nationalen Zukunft. Europa erscheint entweder als unerreichbarer Sehnsuchtsort, oder als Metapher für ein zivilisatorisches Fortschrittsmodell, das mit dem „Eigenen“ nicht oder nur zum Teil kompatibel ist. Die Angst, das Alte unwiederbringlich verloren zu haben und das Neue niemals erreichen zu können, ist dabei omnipräsent.

Peyami Safa schlussfolgerte auf seiner Europareise, dass es das Europa wohl nicht gebe, „europäisch zu sein“ jedoch wohl eine Skala sein müsse, die Frankreich anführe. Ähnlich wie Griechenland sei die Türkei dort, wo Europa beginne, sie sei demnach „ein bisschen“ europäisch. Dem westlichen Fortschrittsmodell folgend, könne das Ausmaß der Europäisierung mit der Zeit gesteigert werden. Die Parameter dieser Einordnung sind offen – und bleiben es bis heute. Peyami Safas Frage, wo denn Europa zu verorten sei, und was es auszeichne ist heutzutage mindestens genauso aktuell wie damals. Was bedeutet Europa für alle jene, die vermeintlich nicht dazugehören – und was möchte Europa für sie sein?


Johanna Chovanec ist Doktoratsstipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Studienstiftung des deutschen Volkes an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien sowie Junior Fellow am IWM.