Ausstellungen in der Kriegszeit

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Kunstausstellungen in Krisenzeiten stellen Herausforderungen dar, bergen aber auch Chancen. Tomáš Glanc blickt auf die Rolle von Kunstausstellungen im Kalten Krieg zurück und reflektiert über die angemessene Form einer Ausstellung zum Thema Krieg vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine. 

Vor kurzem hat mir das Prager Zentrum für zeitgenössische Kunst DOX den Vorschlag unterbreitet, eine Ausstellung zum Themenkomplex Krieg, mit der selbstverständlichen Fokussierung auf die Ukraine und Russland, zu kuratieren. Eine Reaktion sei notwendig, hieß es. Ich war ratlos. Kann Kunst Krieg – und unsere Betroffenheit aus der Ferne – dokumentieren oder sogar darstellen, ohne dass ihre Aussagekraft auf plakative Agitation reduziert bleibt? Andererseits sind Bezugnahmen auf die Ukraine, die nicht auf den Krieg eingehen, im Moment undenkbar. Die Invasion hat unsere Wahrnehmung der Kunstproduktion aus beiden Ländern zwingend transformiert. Viele ästhetische Aussagen sind im Moment durch das schreckliche Geschehen veraltet, sogar disqualifiziert. 

Der Krieg, den die russische Armee gegen die Ukraine führt, ändert nicht nur die geopolitischen, ökonomischen und generell menschlichen Zusammenhänge, er zwingt uns auch, den kulturellen Austausch neu zu denken. Eine historische Frage wird hochaktuell: Wie haben in der Vergangenheit Ausstellungen als ideologische Wirkungsmechanismen funktioniert?
Ausstellungen sind in Krisenzeiten eine besondere Gattung: Sie stellen nicht nur Kunstwerke aus, sondern liefern gleichzeitig Kontexte mit, sie machen zahlreiche, oft brisante Einflüsse, Zuspitzungen und Nebenwirkungen sichtbar. Sie üben Macht aus. Und durch den notwendigen Akt der Selektion zeigen sie, wenn auch indirekt, auch all das, was sie nicht in die Exposition miteinschließen. Sie zeigen, was sie nicht zeigen.

Gerade in Osteuropa wurden in den letzten 80 Jahren unzählige Erfahrungen dieser Art gemacht. Ausstellungen sind keine unschuldigen oder neutralen Kunstpräsentationen. Sie wurden öfter als Waffen eingesetzt und verstanden, auch dann, wenn sie nicht auf tatsächliche Explosionen von Gewalt reagiert haben. Sie fungierten als mehr oder weniger offensichtliche symbolische Gewalt oder übten Widerstand gegen Gewalt aus. 

1947, zu Beginn des Kalten Krieges, wurde  in Prag, das noch eine demokratische Regierung und keine Staatszensur in der Kulturpolitik hatte, der sozialistische Realismus aus der Sowjetunion präsentiert; im großen Stil, mit stalinistischem Pomp. Die visuelle Kultur der lyrischen Abstraktion, die kubistische Formensprache und der Surrealismus von Kupka, Šíma, Filla, Toyen und anderen großen Künstler/-innen der Zwischen- und Nachkriegszeit, wurden von muskulösen Arbeitern, Fabriken, Kolchosen und Porträts von sowjetischen Führern „bombardiert“. Die Diskussionen in der Presse waren heftig: Ist das die notwendig gewordene, einzig relevante, genuin „slawische“ Kunst der Gegenwart und Zukunft oder eine Propagandashow, eine primitive Attacke gegen die Kulturmodelle der (mittel)europäischen Moderne? 

Nicht weniger konfrontativ wurde der abstrakte Expressionismus als eine Kunstform der Freiheit instrumentalisiert. 1959 sorgte die Kathedrale (1947) von Jackson Pollock für Furore in Moskau. Es war die erste direkte Begegnung der sowjetischen Kulturelite, Bevölkerung und jungen Künstler/-innen, die gerade ihre ästhetische Identität festgelegt hatten, mit der US-amerikanischen abstrakten Malerei und dem action painting. Die riesige amerikanische Ausstellung in Moskaus Sokolniki-Park, von der CIA mitgestaltet und in einem emblematischen Pavillon von Buckminster Fuller untergebracht, war ein Systemkampf und eine Lockerung zugleich. Der Bilderkrieg wurde als ein Freundschaftsspiel inszeniert. Eine sowjetische Gegenausstellung, ein Schaufenster des kommunistischen Systems und seiner Errungenschaften, fand parallel in New York statt. Chruschtschow trank in Moskau Pepsi, plauderte mit Nixon, man sprach über das Tauwetter. 
Am Vorabend dieses an der Oberfläche entspannten aber vom Staatssicherheitsdienst aufmerksam überwachten Wettbewerbs wurde anschaulich bewiesen, dass Ausstellungen im Kalten Krieg nicht unbedingt auf Dichotomien und Rivalitäten beruhen müssen. Die Weltfestspiele der Jugend in Moskau 1957 haben die Geschlossenheit der sowjetischen Gesellschaft für einige Wochen unterminiert: Delegationen aus 130 Ländern haben unter anderem Dutzende Ausstellungen mitgebracht. Die Ära der zeitgenössischen Kunst in der UdSSR war gestartet.

Es gibt sogar Ausstellungen, die in einer Person ganze ästhetische Welten importieren. Dies trifft auf die legendäre Picasso-Ausstellung in Moskau und Leningrad zu, die 1956 vom hochrangigen Kulturdiplomaten und Schriftsteller Ilja Erenburg organisiert wurde. In der Tschechoslowakei hat diese Rolle die Marcel Duchamp-Ausstellung von 1969 gespielt, von dem Guru der modernen Kunst persönlich mitkonzipiert. Es ging nicht nur um eine Folge der kurzfristigen Liberalisierung, die als „Prager Frühling“ bekannt geworden ist. Dieser hatte – mindestens was die Ausstellungen angeht – schon 1958 an der Expo in Brüssel begonnen. Es war die erste Weltausstellung nach dem zweiten Weltkrieg, mit 42 Millionen Besuchern/-innen. Der goldene Stern für den besten Pavillon ging an die Tschechoslowakei. Die poststalinistische Kultur präsentierte in einer innovativen Ausstellungsstrategie das futuristische multimediale Theater Laterna magika, brillante Animationsfilme von Jiří Trnka oder die Fotografien von Jan Lukas, der später in den USA große Erfolge feierte. 

Ausstellungen setzen Zeichen und schaffen Kommunikationsräume: Seit den 1960er Jahren trafen sich Künstler/-innen aus dem Westen und dem Osten in der „blockfreien“  kroatischen Metropole Zagreb zu Ausstellungen unter dem Titel Nove Tendencije (Neue Tendenzen). Jugoslawien etablierte sich zu einer Zone des Transfers und der Begegnungen auch für die zeitgenössische Kunst. 

Die vielleicht erste große europäische Ausstellung, die die russische Avantgarde der 1910er und 1920er Jahre zelebriert hat, fand in Galeria Współczesna in Warschau 1967 statt. 

Der tschechische Kunstkritiker Jindřich Chalupecký stellte nicht nur tschechoslowakische Gegenwartskunst in der Westberliner Akademie der Künste und in Rom aus. Gleichzeitig vermittelte er Ausstellungen von Moskauer und Leningrader inoffizieller Kunst in den Westen, über die er international Aufsätze veröffentlicht hatte. In den 1970er Jahren konnte der emigrierte Tscheche bzw. Mähre Petr Spielmann sogar ein wichtiges Kunstmuseum in Bochum leiten und osteuropäische Kunst als Programmschwerpunkt in der Bundesrepublik etablieren. 
 
Haben auch heute Ausstellungen diese geopolitische und grenzüberschreitende Macht, dieses Begegnungspotenzial? Die Ukraine und Russland sind einander künstlerisch nicht fremd. In den letzten Jahren gab es zwar in der Ukraine unvergleichlich größere politische Freiheiten für Kulturschaffende, sonst aber sind enge Beziehungen unübersehbar: Zahlreiche russische Künstler/-innen kommen aus der Ukraine, ukrainische Künstler/-innen leben und arbeiten in Russland, beide Kunstgemeinschaften sind miteinader verflochten und international verstreut. Wie soll man ihre Werke über den aktuellen Krieg erzählen lassen? 

Der Direktor des Prager DOX, der Chefkurator und ich teilten bei einem langen Gespräch unsere Ratlosigkeit darüber, welche Aufgaben uns die geplante Ausstellung stellt. Wir brauchen keine graphische Evidenz aus dem Tatort – die Medien liefern uns ununterbrochen genügend schockierende Zeugnisse über Tod, Gewalt, Zerstörung, Unmenschlichkeit. Vielmehr fragen wir die zeitgenössische Kunst, was sie uns darüber hinaus zu bieten hat. Welche sind heute die starken Kunstbilder der Not, des Ausnahmezustands, der Unbehaglichkeit? Und wir wussten: keine Passkontrolle bei der Auswahl der Künstler/-innen. In dieser vernichtenden „Konflagration“ (wie der tschechische Philosoph Jan Patočka den Krieg bezeichnete), soll das „Recht am Bild“ des Krieges nicht aufgrund einer Staatsangehörigkeit an- oder aberkannt werden. 

Der einzige Punkt, auf den wir uns nach einigen Stunden geeinigt hatten, war der Titel der künftigen Ausstellung. Er zitiert das letzte Buch von Susan Sontag über die Macht der Kriegsbilder aus 2003: Regarding the Pain of Others, „Das Leiden anderer betrachten“. Das ist die eigentliche Herausforderung, aus der heraus wir agieren. Unsere Ausstellung wird Pain of Others heißen. Man kann nur das anbieten, was einem zur Verfügung steht.


Tomáš Glanc ist Professor für Slawistik und arbeitet an der Universität Zürich. Vom Dezember 2021 bis Februar 2022 war er Jan Patočka Fellow am IWM.