Anders als in Carol Reeds Der Dritte Mann war der Wiener Schwarzmarkt der Nachkriegszeit kein gemeingefährlicher Sumpf organisierten Verbrechens. Vielmehr sicherte der illegale Handel nach dem Zweiten Weltkrieg das Überleben der hungernden Bevölkerung in der ausgebombten Großstadt.
Nach der Befreiung Wiens durch die Rote Armee im Jahre 1945 und während der anfänglichen Verwaltung der Hauptstadt durch die Siegermächte stieg die Zahl derer, die für Vergehen gegen das sogenannte Bedarfdeckungsstrafgesetz angeklagt wurden, stark an. Dies lag zumeist daran, dass mit Kriegsende die Versorgungslage in Wien sich katastrophal verschlechterte, da die Alliierten nicht in der Lage waren, die Stadtbevölkerung ausreichlich mit Nahrung zu versorgen. Nach Angaben des Wiener Magistrats waren noch 1947 70 Prozent der Kinder Wiens unterernährt. Auf legalem Wege waren bewirtschaftete Waren wie Eier, Mehl, Schuhe oder Zigaretten nur mit offiziellen Marken zu kaufen. Wer für sich und seine Familie etwas mehr wollte als ihnen gesetzlich zustand, musste sich dies auf dem Schwarzmarkt besorgen.
Beinahe alle Bevölkerungsgruppen waren im Schwarzmarkt involviert und es ging dabei vornehmlich um den Kauf von Grundnahrungsmitteln in kleinen Mengen, oft im Tauschhandel. Ganz im Gegensatz zu den Machenschaften des Dritten Manns waren diese Geschäfte (über-)lebenswichtig und nicht lebensbedrohlich. Auffällig ist dabei, in welchem Ausmaß der Schwarzhandel durch Zigaretten abgewickelt wurde. Geld war zwar nicht ganz wertlos geworden, aber Zigaretten, vor allem amerikanische, wurden von der Bevölkerung als wertbeständiger und liquider eingestuft. Das verlorene Vertrauen in offizielle Geldscheine widerspiegelte nicht nur Angst vor Inflation, sondern vor allem den Autoritätsverlust der offiziellen Behörden, welche nicht imstande waren, die Ernährung der Bevölkerung zu garantieren. Kriminelle Elemente widmeten sich daher vor allem dem Schmuggel von Zigaretten und Tabakwaren. 1949 verfolgten die Briten noch immer eine internationale Bande, welche mit Hilfe russischer Lastwagen amerikanische Zigaretten von Rotterdam nach Budapest schmuggelte, um damit in Osteuropa lukrative Tauschgeschäfte abzuschließen.
Die Wirtschaftspolizei war bereits im Sommer 1945 wiederbelebt worden, um zur Bekämpfung des Schwarzmarktes beizutragen. Deren leitende Beamte beklagten jedoch im September 1948, dass ihnen Personal und Mittel fehlten, um den grossen Schmugglerbanden das Handwerk zu legen. Umso erfolgreicher waren sie hingegen bei den Kontrollen von Privatpersonen und Fahrzeugen an Bahnhöfen und Einfallstraßen. Bei diesen bereits im August 1945 begonnenen „Kordonkontrollen“, wurden Reiseproviant oder Lebensmittel, für die Bescheinigungen vorlagen, den Privatpersonen zwar belassen, aber der Rest von der Polizei beschlagnahmt. Im Monat September 1945 wurden so 119 Tonnen Kartoffeln sichergestellt und fünf Tonnen Getreide sowie kleinere Mengen an anderen Lebensmitteln. Noch ein halbes Jahr später, wurden in nur einer Woche, 4511 Fahrzeuge und 921 Personen kontrolliert und dabei über sieben Tonnen Kartoffeln, über 500 kg Getreide und mehr als 3000 Eier in Beschlag genommen. In kleineren Mengen wurden jeweils auch alltägliche Bedarfsgüter beschlagnahmt: z.B. Batterien, Schokolade, Süßstoff und Süßigkeiten oder Frauenkleider und Damenstrümpfe.
Im Dritten Mann, jedoch, verdünnten Harry Lime (Orson Welles) und seine Komplizen gestohlenes Penicillin, welches dann an Patient:innen verabreicht diesen schweren Schaden zufügte, teilweise mit Todesfolgen. Zwar weilte Graham Greene, der für das Drehbuch verantwortlich zeichnete, im Februar 1948 in Wien, „um sich von wahren Gegebenheiten inspirieren zu lassen“, in Wahrheit gibt es aber keine Anzeichen auf ein derart grausames Unterfangen. Ein Fall, der jenem des Dritten Mannes ähnelt aber nicht nahekommt, ist der von vier Griechen, welche im Mai 1947 von der Polizei verhaftet wurden. Sie steckten minderwertiges österreichisches Saccharin kiloweise in tschechische Verpackungen , um es dann als hochwertigeres Süßmittel auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Gesundheitlich geschadet haben sie damit aber vermutlich niemandem. Und laut einem britischem Polizeibericht kam zwar im Dezember 1945 eine große Menge Penicillin auf den Markt, von einer Medikamentfälschung war aber nicht die Rede.
Gleich zu Beginn des Films wird die Wiener Nachkriegszeit als „klassische Periode des Schwarzmarkts“ bezeichnet. Als Holly Martins (Joseph Cotten) einen Freund Limes fragt, was an den Anschuldigungen, Lime wäre in eine Gaunerei verwickelt, denn wahr sei, antwortet ihm dieser: „Everyone in Vienna is. We all sell cigarettes and that kind of thing.“ Doch die meisten der Schwarzmarktdelikte, welche uns durch historische Quellen überliefert sind, betreffen Einzelpersonen, welche in schwierigen Zeiten etwas mehr Genussmittel haben wollten, als ihnen offiziell zustand. Sogar wer kommerzielle Schwarzschlachtungen vornahm und Fleisch an Kunden ohne Bezugsscheine verkaufte, übertrat zwar das Gesetz, kann aber schwerlich als Mörder bezeichnet werden. Was veranlasste also die Macher des Dritten Manns dazu, die grauenhaften Verbrechen von Lime und Konsorten mit dem Schwarzmarkt zu assoziieren?
Bezugnehmend auf die Nachkriegszeit in Frankreich bemerkt der Historiker Stefanos Geroulanos, dass der Schwarzmarkt des Alltags den Behörden, welche sich um die Wiedergewinnung der Autorität über die Bevölkerung bemühten, ein Dorn im Auge war. Staatliche Behörden wünschten sich mehr Einblick in und Kontrolle über das Leben der Bürger:innen, letztere wiederum widersetzten sich auf ihre Art der wachsenden Staatsgewalt. Bezeichnenderweise begeisterten sich Kinobesucher:innen damals für Gangsterfilme, in denen der Verbrecher, statt asozial und gefährlich zu wirken, zum Volkshelden wird, welcher im Geheimen agierend eine Ethik vertritt, die der Gesellschaft verloren gegangen ist. Dieser Antagonismus zwischen Staat und Gesellschaft war vielleicht in Frankreich besonders ausgeprägt, beruhte jedoch unter anderem auf einer weit verbreiteten Auffassung, zumindest in linken Kreisen, welche den staatlichen Behörden, nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen der Kriegszeit, als diese mit deutschen Nazis kollaborierten, bürgerliche Heuchelei vorwarf.
Der Dritte Mann ist eine Anklage gegen den Schwarzmarkt und somit ein Plädoyer für die Kontrolle des Staates. Anfangs hält Holly Martins die Anschuldigungen für übertrieben. Was wird Lime schon getan haben, fragt er den britischen Polizisten, welcher seinem Freund auf der Spur ist. Illegal Reifen wird er verkauft haben, oder sonst Benzin oder vielleicht Süßstoff? Holly hält den Schwarzmarkt zuerst für relativ harmlos und ungefährlich (wie auch die von mir eingesehenen Akten bezeugen). Dann aber wird er mit dem elenden Anblick sterbender Patient:innen im Kinderspital konfrontiert, den unschuldigen Opfern von Limes dreckigen Geschäften. Holly ändert daraufhin seine Ansicht, und mit ihm konvertieren auch die gebannten Zuschauer:innen. Zuerst verrät er Lime und dann verfolgt er ihn in der unterirdischen Wiener Kanalisation, wo er ihn letztlich stellt und erschießt.
Nach der Befreiung vom totalitären Faschismus, in welchem sich der Westen vornehmlich auf den Wert der Freiheit berufen hatte, mobilisierten die Regierungen in Paris und Wien (und auch in Washington und London) moralische Argumente, um ihre Kontrolle über die Gesellschaft wiederzugewinnen. Sich der Kontrolle des Staates zu entziehen war keine Heldentat, sondern ein Verbrechen. Wer im Schwarzmarkt kaufte und verkaufte, handelte nicht harmlos, sondern riskierte sich und anderen damit körperlich zu schaden, setzte sein eigenes Leben und das von anderen aufs Spiel. Somit widerspiegelt Der Dritte Mann nicht die historische Realität des Wiener Scharzmarkts der Nachkriegszeit, sondern den Wunsch nach einer wiedererstarkten Kontrolle des Staates über seine Bevölkerung in Vorbereitung auf den nächsten Krieg, den Kalten Krieg.
Nathan Marcus ist Historiker und Senior Lecturer an der Ben-Gurion-Universität des Negev. 2024 war er Visiting Fellow am IWM.