Jahrhundertelang hat die Ukraine im Schatten des Imperiums gestanden. Aber die Vergangenheit des Landes ist auch der Schlüssel zu seiner Gegenwart.
Wenn Wladimir Putin die Existenz des ukrainischen Staates leugnet, so bedient er sich der Sprache des Imperiums. Wie wir anhand der in Ruinen liegenden ukrainischen Städte und der von den Russen verübten Massenmorde, Vergewaltigungen und Deportationen nachvollziehen können, bereitet die Verleugnung der Existenz einer Nation rhetorisch den Boden für ihre Zerstörung.
Die Erzählung des Imperiums trennt Subjekte von Objekten. Wie der Philosoph Frantz Fanon argumentierte, sehen die Kolonisatoren sich selbst als Akteure mit einem Ziel und die Kolonisierten als Instrumente zur Verwirklichung ihrer imperialen Vision. Als Putin vor einem Jahrzehnt das Präsidentenamt erneut übernahm, vollzog er in seiner Argumentation eine markante koloniale Wende. Im Jahr 2012 sprach er von Russland als einem „Zivilisationsstaat“, der naturgemäß kleinere Kulturen wie die ukrainische absorbiert habe. Später behauptete er, Russen/-innen und Ukrainer/innen stellten eine „spirituelle Einheit“ dar. In einem 2021 veröffentlichten Essay „Über die historische Einheit von Russen/-innen und Ukrainer/-innen” führte er aus, die Ukraine und Russland hätten dieselben Wurzeln und seien daher ein Land. Aus seiner Sicht gilt es, eine zerbrochene Welt gewaltsam wieder zusammenzufügen. Nur durch die Vernichtung der Ukraine kann Russland zu sich selbst finden.
Als die Objekte dieser Rhetorik und des durch sie legitimierten Krieges haben die Ukrainer/-innen all dies längst begriffen. Natürlich hat die Ukraine eine eigene Geschichte und Ukrainer/-innen bilden sehr wohl eine Nation. Doch das Imperium führt in der Peripherie zu Verdinglichung und im Zentrum zu Amnesie. Der moderne russische Imperialismus umfasst Erinnerungsgesetze, die eine ernsthafte Diskussion der sowjetischen Vergangenheit untersagen. In Russland ist es unter Strafe verboten, die Invasion der Ukraine als „Krieg“ zu bezeichnen. Und als die Invasion begann, wurden russische Verlage angewiesen, Erwähnungen der Ukraine aus den russischen Schulbüchern zu tilgen.
Konfrontiert mit der Kreml’schen Mischung aus Fantasterei und Tabuisierung ist die Versuchung groß, den Beweis für das Gegenteil antreten zu wollen. Doch die ukrainische Geschichte ist mehr als eine Gegenerzählung zum Imperium. Die ukrainische Nation der Gegenwart ist vielmehr postkolonial als antikolonial.
Die Südukraine, wo russische Truppen derzeit Städte belagern und Krankenhäuser bombardieren, war bereits den alten Griechen bekannt. Die Stadt Kyjiw existierte in der Antike noch nicht, aber sie ist sehr alt und wurde vermutlich im 6. oder 7. Jahrhundert nördlich von allem, was die Griechen je kannten, gegründet. Der Islam war auf dem Vormarsch und das Christentum wurde europäisch. Während Rom und Konstantinopel um Konvertiten konkurrierten, traten die Völker östlich von Kyjiw zum Islam über. Die Bewohner/-innen der Stadt Kyjiw sprachen eine slawische Sprache, hatten keine Schrift, und praktizierten ein Heidentum, in dem es weder Götzen noch Tempel gab.
Putins Vorstellung von „Einheit“ nimmt Bezug auf eine Taufe, die in diesem Kontext erfolgte. Im 9. Jahrhundert erreichte eine Gruppe von Wikingern, die unter dem Namen „Rus“ bekannt waren, Kyjiw. Ihre Anführer kämpften um einen Flickenteppich von Gebieten in der heutigen Ukraine, Weißrussland und dem Nordosten Russlands, wobei Kyjiw immer im Zentrum der Bemühungen stand. Im späten 10. Jahrhundert eroberte ein Wikinger namens Waldemar die Stadt. Als der byzantinische Kaiser mit Aufständen konfrontiert war, eilte er ihm zu Hilfe. Im Gegenzug erhielt er die Hand der Kaiserschwester zur Ehe und konvertierte zum Christentum.
Putin behauptet, dass diese recht chaotische Abfolge von Ereignissen den Willen Gottes offenbare, Russland und die Ukraine für alle Zeit zu binden. Gottes Wille ist leicht zu missverstehen. Jedenfalls existierten damals keine modernen Nationen und die Wörter „Russland“ und „Ukraine“ hatten keinerlei Bedeutung. Waldemar war ein typischer heidnischer Herrscher seiner Zeit: Er entschied sich für jenes Glaubensbekenntnis, das strategisch am sinnvollsten erschien.
Das Wort „Rus“ stand fortan für ein christliches Gemeinwesen. Die herrschende Familie vermischte sich mit anderen und die Einheimischen wurden als Untertanen behandelt, die besteuert werden mussten, und nicht als Körper, die verkauft werden konnten. Es gab keine Regeln, die bestimmten, wer nach dem Tod eines Regenten von Kyjiw die Macht übernehmen sollte. Als Waldemar starb, brach zwischen seinen Söhnen ein 21-jähriger Krieg um die Herrschaft aus, in dem schließlich Jaroslaw obsiegte.
Anders als von Putin behauptet, kann aus diesen Ereignissen nicht die Existenz eines ewigen Weltreichs abgeleitet werden. Sie verweisen vielmehr auf die Wichtigkeit eines Nachfolgeprinzips. In der heutigen Ukraine erfolgt ein Machtübergang im Wege demokratischer Wahlen. Russland verfügt über kein Nachfolgeprinzip und es bleibt unklar, was passieren wird, wenn Wladimir Putin stirbt oder entmachtet wird. Der Druck der Vergänglichkeit verstärkt imperiales Denken. Ein alternder Tyrann, von dem Gedanken an sein Vermächtnis besessen, greift begierig nach einer hochtrabenden Illusion, die ihm vermeintlich Unsterblichkeit verleiht: die „Einheit“ von Russland und der Ukraine.
Auch Jaroslaw gelang es nicht, die Nachfolge zu regeln und nach seiner Regentschaft zersplitterten die Territorien um Kyjiw immer wieder aufs Neue. Im Jahr 1240 fiel die Stadt schließlich an die Mongolen. Der größte Teil der Rus wurde später vom damals bedeutendsten Staat Europas beansprucht, dem Großfürstentum Litauen. Litauen übernahm von Kyjiw eine bestimmte Grammatik der Politik und ein Gutteil des Rechts. Nachdem die litauischen Großherzöge einige Jahrhunderte lang auch in Polen geherrscht hatten, kamen die Gebiete der Ukraine im Jahr 1569 im Rahmen eines formalisierten polnisch-litauischen Commonwealth unter polnische Hoheit.
Dies stellte einen entscheidenden Wandel dar. Nach 1569 war Kyjiw nicht mehr Quelle des Rechts, sondern wurde zu einem Objekt – eine klassische koloniale Konstellation. Es war die Kolonisierung, die die Ukraine von den ehemaligen Rus-Territorien trennte. Ihre Ausprägung brachte Eigenschaften hervor, die auch in der heutigen Ukraine offenkundig sind: eine Kultur des Misstrauens gegenüber der Zentralgewalt, Organisationsfähigkeit in Zeiten der Krise sowie die Vorstellung von Freiheit als Selbstentfaltung.
Im 16. und 17. Jahrhundert wurde die Ukraine von der Globalisierung erfasst. Die polnische Kolonisierung der Ukraine ähnelte der europäischen Kolonisierung der übrigen Welt und ermöglichte diese in gewisser Hinsicht. Polnische Adlige führten Praktiken der Landbewirtschaftung ein, mit denen profitable Agrarbetriebe etabliert wurden. Lokale ukrainische Kriegsherren imitieren diese eilends. Sie übernahmen auch das westliche Christentum und die polnische Sprache. Im Zeitalter der Entdeckungen schufteten leibeigene Bauern für den Weltmarkt.
Die Kolonisierung der Ukraine fiel mit der Renaissance und einer Blütezeit der polnischen Kultur zusammen. Die Schwarzerde brachte einerseits ungeheuren Reichtum hervor; andererseits warf sie die Frage auf, warum denjenigen, die arbeiteten, und denjenigen, die profitierten, ein so unterschiedliches Schicksal beschieden war.
Die Renaissance ging Fragen der Identität über die Sprache an. In ganz Europa gab es eine Debatte darüber, ob Volkssprachen zu Kultursprachen erhoben werden sollten. Die polnische Schriftsprache setzte sich gegen die ukrainische Volkssprache durch und schuf eine zutiefst koloniale Trennung zwischen Elite- und Lokalsprachen.
Die Reformation führte zu einer ähnlichen Spaltung, da die Eliten erst zum Protestantismus und dann zum römisch-katholischen Glauben übertraten. In den 1640er Jahren sprachen die Großgrundbesitzer in der Regel Polnisch und praktizierten den römisch-katholischen Glauben, im Gegensatz zur ukrainischsprachigen orthodoxen Bauernschaft. Diese einzigartige Konvergenz von Kolonisierung, Renaissance und Reformation brachte Unterschiede und Ungleichheiten hervor, die die ukrainische Bevölkerung zur Rebellion bewogen.
Jene Ukrainer/-innen, die heute auf dem Schlachtfeld stehen, stützen sich auf diese Geschichte der Rebellion, um Putins Fantasterei von der Vergangenheit entgegenzutreten. Die Kosaken, die in den entlegenen Gebieten der ukrainischen Steppe lebten, sind ein gutes Beispiel dafür. Die „registrierten Kosaken“ wurden für ihren Dienst in der polnischen Armee bezahlt. Dennoch waren sie keine Staatsbürger und die Zahl derer, die sich registrieren lassen wollten, war größer als vom polnisch-litauischen Parlament zugelassen. Dies bereitete den Boden für anhaltende Unzufriedenheit.
Die Rebellion nahm 1648 ihren Ausgang, als ein einflussreicher Kosake, Bohdan Chmelnyzkyj, seine Mitkosaken zum Aufstand gegen die Magnaten, die die Ukraine beherrschten, animierte. Aufgrund der zahlreichen kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Missstände entwickelte sich dieser schnell zu einer Art antikolonialem Aufstand. Magnaten verübten im Gegenzug Vergeltungsschläge gegen Bauern und Kosaken.
1651 wandten sich die Kosaken an Moskowien, eine Macht im Osten, von der sie nur wenig wussten. Nach dem Zusammenbruch der Kyjiwer Rus wurden die meisten Besitzungen von Litauen einverleibt worden, einige nordöstliche Gebiete verblieben aber unter der Herrschaft eines mongolischen Nachfolgestaates. Ausgehend von der neuen Stadt Moskau begann unter der Führung der Zaren eine außergewöhnliche Phase territorialer Expansion, im Zuge derer sich das Reich bis nach Nordasien hinein ausdehnte.
Der Kosakenaufstand lenkte die Aufmerksamkeit der Moskowiter auf Europa. Nachdem die Kosaken ein Abkommen mit Vertretern des Zaren unterzeichnet hatten, fielen die moskowitischen Armeen von Osten her in Polen-Litauen ein. Bald darauf folgte eine Invasion der Schweden vom Norden her. Der Friedensschluss von 1667 teilte die Ukraine entlang des Dnipro und verband damit Kyjiw zum ersten Mal politisch mit Moskau.
Der Kampf der Kosaken gegen eine Kolonialmacht brachte eine andere hervor. Im Jahr 1721 wurde Moskowien zum Russischen Reich umbenannt. Polen-Litauen wurde zwischen 1772 und 1795 so oft geteilt, bis es aufhörte zu existieren. Russland beanspruchte den Rest der Ukraine – mit Ausnahme des westlichen Bezirks Galizien, der an die Habsburger fiel. Im Jahr 1775 verloren die Kosaken ihren Status. Sie erhielten weder die politischen Rechte, die sie ersehnt hatten, noch erlangte die Bauernschaft, von der sie unterstützt worden waren, die Kontrolle über die Schwarzerde. Die polnischen Grundbesitzer verblieben in der Ukraine, obwohl die Staatsmacht in russischer Hand war.
Während Putins Erzählung von der Ukraine von Schicksalhaftigkeit handelt, geht es in der ukrainischen Erinnerung an die Kosaken um unerfüllte Hoffnungen. Die ukrainische Nationalhymne beschwört ein Volk, das sich eines Tages der „Kosaken-Nation“ würdig erweisen wird.
Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter der nationalen Wiedergeburten. Die ukrainische Bewegung im kaiserlich-russischen Charkiw konzentrierte sich zunächst auf das kosakische Erbe, bevor sie die Geschichte im Volk verortete. Nach der russischen Niederlage im Krimkrieg 1856 und dem polnischen Aufstand von 1863-1864 wurde die ukrainische Kultur als Erfindung der polnischen Eliten betrachtet – eine Vorstellung, die Putin in seinem Essay „Über die historische Einheit" bekräftigt.
Im Ersten Weltkrieg wurde das Prinzip der Selbstbestimmung geboren, aber anstelle der versprochenen Befreiung von der imperialen Herrschaft wurden meist alte Reiche vor den Untergang gerettet oder neue errichtet. Während im Russischen Reich die Revolution ausbrach und das Reich daran zusammenbrach, wurde 1917 eine Ukrainische Nationalrepublik ins Leben gerufen. Schon bald wurde die Ukraine in den russischen Bürgerkrieg verwickelt, in dem die Rote wie die Weiße Armee das Recht der Ukraine auf Souveränität bestritten, und der Millionen von Menschenleben forderte.
Als die Rote Armee schließlich die Oberhand gewann, wusste die bolschewistische Führung, dass sie sich mit der Ukraine-Frage befassen musste. Putin behauptet, die Bolschewiki hätten die Ukraine geschaffen, aber in Wahrheit ist fast das Gegenteil der Fall. Die Bolschewiki zerstörten die Ukrainische Nationalrepublik. Sie entwarfen ihren neuen Staat im Bewusstsein, dass die ukrainische Identität tatsächlich existierte und weitverbreitet war. Dass die Sowjetunion als eine Föderation von nationalen Einheiten geschaffen wurde, ist weitgehend der Ukraine zu verdanken.
Das Scheitern der Selbstbestimmung in der Ukraine war alles andere als einzigartig. Fast alle Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg gegründet worden waren, wurden von Nazi-Deutschland, der Sowjetunion oder beiden gemeinsam zerstört. In den politischen Vorstellungen beider Regime würde die Besitznahme der Ukraine es ihnen ermöglichen, die Welt nach ihrem Bild umzugestalten. Wie im 16. Jahrhundert schien es auch hier, als würden sich alle Kräfte der Weltgeschichte auf ein einziges Land konzentrieren.
Stalin schwebte eine interne Kolonisierung vor: Die Bauernbevölkerung sollte ausgebeutet werden, damit die sowjetische Wirtschaft den Kapitalismus nachahmen – und überholen – konnte. Die Schwarzerde der Ukraine stand im Zentrum der Pläne Stalins, und er ergriff Schritte, um sie unter seine Herrschaft zu bringen. Die politischen Maßnahmen der Jahre 1932-1933 führten dazu, dass etwa vier Millionen Menschen an Hunger oder damit verbundenen Krankheiten starben. Die sowjetische Propaganda machte die Ukrainer/-innen für diese Ereignissen verantwortlich und behauptete, dass sie sich das Leben nehmen, um die sowjetische Herrschaft zu diskreditieren – eine Taktik, die in Putins Handeln heute ihren Widerhall findet. Europäer/-innen, die sich um die Organisation von Hungerhilfe bemühten, wurden als Nazis diffamiert.
Die tatsächlichen Nazis sahen in der von Stalin erzeugten Hungersnot einen Hinweis, dass die ukrainische Landwirtschaft für ein anderes imperiales Projekt genutzt werden könnte, nämlich ihr eigenes. Hitler wollte die Sowjetmacht stürzen, die sowjetischen Städte entvölkern und den gesamten westlichen Teil des Landes kolonisieren. Seine Vision für die ukrainische Bevölkerung war eine zutiefst koloniale: Er stellte sich vor, dass er sie millionenfach deportieren und aushungern und die Arbeitskraft der Übrigen ausbeuten könne. Sein Wunsch nach ukrainischem Land brachte Millionen von Juden/-innen unter deutsche Kontrolle. Im Hinblick auf die Ukraine war die koloniale Logik somit eine notwendige Bedingung für den Holocaust. Zwischen 1933 und 1945 machten der sowjetische und der nationalsozialistische Kolonialismus die Ukraine zum gefährlichsten Ort der Welt. Nirgendwo sonst wurden mehr Zivilpersonen getötet.
Obwohl der deutsch-sowjetische Kampf um die Ukraine der Hauptkonflikt des Krieges von 1941-1945 war, waren die Sowjetunion und Deutschland zu Beginn des Krieges 1939 de facto Verbündete und fielen gemeinsam in Polen ein. Eine kleine Gruppe ukrainischer Nationalisten schloss sich den Deutschen an, doch als klar wurde, dass diese scheitern würden, traten sie aus, führten ethnische Säuberungen an der polnischen Bevölkerung durch und leisteten dann Widerstand gegen die Sowjets. In Putins Texten werden sie als die ewigen Bösewichte dargestellt, die für die ukrainische Andersartigkeit im Allgemeinen verantwortlich sind. Die Ironie besteht darin, dass sie eigentlich Produkt von Stalins weitaus umfassenderer Kollaboration mit Hitler waren.
Die Sowjetmacht zerschlug die ukrainischen Nationalisten in einer brutalen Niederwerfungsaktion. Heute liegt der Anteil der Rechtsextremen in der Ukraine bei ein bis zwei Prozent. Polen/-innen, deren Vorfahren die Hauptopfer des ukrainischen Nationalismus waren, haben bisher drei Millionen ukrainische Flüchtlinge aufgenommen und erinnern uns daran, dass es auch andere Wege gibt, mit der Geschichte umzugehen, als an Erzählungen von der ewigen Opferrolle festzuhalten.
Nach dem Krieg wurde die Westukraine der Sowjetunion angeschlossen und stand unter Generalverdacht, gerade weil sie unter deutscher Besatzung gestanden hatte. Neu eingeführte, gegen die ukrainische Kultur gerichtete Beschränkungen wurden mit einer konstruierten Schuldzuweisung gerechtfertigt. Putin, der argumentierte, dass Russland in die Ukraine einmarschieren musste, um die Ukraine an einem Angriffskrieg zu hindern, nimmt eindeutig Anleihen an der Rhetorik Stalins. Er will uns weismachen, dass der sowjetische Sieg im Zweiten Weltkrieg die Russen auf ewig rein und die Ukrainer auf ewig schuldig gemacht habe.
Die nationale ukrainische Rhetorik ist weniger kohärent als Putins Imperialismus und daher glaubwürdiger und menschlicher. Seit der Unabhängigkeit 1991 ist die Politik des Landes von Korruption und Ungleichheit geprägt, aber auch von einem demokratischen Geist, der Hand in Hand mit dem nationalen Selbstbewusstsein gewachsen ist.
Die Ukraine ist ein postkoloniales Land, das sich nicht so sehr gegen die Ausbeutung abgrenzt, sondern vielmehr die sich daraus ergebenden Umstände akzeptiert und manchmal sogar feiert. Die Bevölkerung ist zweisprachig und die Soldaten sprechen sowohl die Sprache des Invasors als auch ihre eigene. Der Krieg wird dezentral geführt und hängt von der Solidarität der verschiedenen lokalen Gemeinschaften ab, die die Auffassung von der Ukraine als politischer Nation hochhalten. Darin liegt etwas Ermutigendes. Das Modell der Nation als Mini-Imperium, das Ungleichheiten in kleinerem Maßstab reproduziert und Homogenität, die mit Identität verwechselt wird, anstrebt, ist überholt. Wenn demokratische Staaten im 21. Jahrhundert Bestand haben sollen, müssen sie etwas von der Komplexität akzeptieren, die in der Ukraine selbstverständlich ist.
Der Kontrast zwischen einem alternden Imperium und einer neuen Art von Nation wird von Zelensky eingefangen, dessen bloße Präsenz die Sinnlosigkeit der Ideologie des Kremls zur Schau stellt. Jeden Tag bezeugt er durch seine Worte und Taten die Existenz seiner Nation.
Auch die Ukrainer/-innen verfechten die Existenz ihrer Nation. Angesichts der Bedrohung einer nationalen Auslöschung durch den russischen Kolonialismus und einen Vernichtungskrieg, der ausdrücklich die „ukrainische Frage“ lösen soll, wissen die Ukrainer/-innen, dass es keine Frage zu beantworten gibt, sondern nur ein Leben, das gelebt und, wenn nötig, riskiert werden muss. Sie leisten Widerstand, weil sie wissen, wer sie sind. In einem seiner allerersten Videos nach der Invasion richtete Zelensky die Kamera auf sich selbst und sagte: „Der Präsident ist da.“ So ist es. Die Ukraine ist da.
Dieser Text ist eine gekürzte Fassung eines Essays, der in The New Yorker erschienen ist. Übertragung ins Deutsche von Katharina Hasewend.
Timothy Snyder ist Levin Professor of History an der Universität Yale und Permanent Fellow des IWM.
This article appeared in the special Ukraine supplement to IWMPost 129