Die Länder des Westbalkans stecken seit Jahren im EU-Beitrittsprozess fest. Auch der Ukraine und Moldau, die sich dieses Jahr beworben haben, wird es so ergehen. Die EU kann das ändern, indem sie diesen Ländern ein glaubhaftes, konkretes, aus eigener Kraft erreichbares Ziel in Aussicht stellt.
Der EU-Beitrittsprozess funktioniert nicht mehr. Der Grund dafür liegt in der Kombination von zwei unbestrittenen Tatsachen:
Erstens muss der Beitrittsprozess glaubwürdig und meritokratisch sein, um zu funktionieren. Er muss ein attraktives, erreichbares Ziel sein, dessen Verwirklichung von der Leistung der Beitrittsländer abhängt. Auf diese Weise hat der Prozess in der Vergangenheit eine entscheidende Rolle bei der Transformation Osteuropas gespielt, von Estland bis Rumänien.
Zweitens vertreten heute mehrere EU-Mitgliedstaaten die Ansicht, dass die EU sich selbst reformieren und ihre Verträge ändern muss, bevor sie neue Mitglieder aufnehmen kann. Dies ist aber ein schwieriger und langwieriger Prozess, der Jahre dauern wird.
Diese beiden Tatsachen sind unvereinbar. Wenn es ungewiss ist, wann und ob die EU selbst wieder bereit ist, neue Mitglieder aufzunehmen, kann der Prozess nicht meritokratisch und glaubwürdig sein. Diese Unvereinbarkeit erklärt die Hauptprobleme des Beitrittsprozesses.
Erstens: Wenn Länder nicht vorankommen, selbst wenn sie Ergebnisse vorweisen können, wird ihre Motivation, anspruchsvolle und harte Reformen durchzuführen, untergraben. Dies schwächt die Position von Reformer:innen und stärkt die Glaubwürdigkeit von Euroskeptiker:innen, die behaupten, die EU meine es sowieso nicht ernst.
Zweitens: Die Kosten für Blockaden von Beitrittsländern aus bilateralen Gründen, die nichts mit den Beitrittskriterien zu tun haben, sind gering. Wer in der EU eine wichtige Entscheidung blockiert, muss normalerweise damit rechnen, in anderen Fragen auf weniger Unterstützung anderer Mitgliedsstaaten zählen zu können. In diesem Fall jedoch sind mehrere Mitglieder (stillschweigend) froh, dass sich nichts bewegt, sodass die tatsächlichen Kosten für solche bilateralen Blockaden vernachlässigbar bleiben.
Drittens: Diese Blockaden fügten dem Prozess dramatischen Schaden zu. Die Führung Nordmazedoniens investierte viel politisches Kapital, um den langjährigen bilateralen Namensstreit mit Griechenland beizulegen. Anstatt Beitrittsverhandlungen folgten dann aber weitere Blockaden, erst von Frankreich, dann von Bulgarien. Das Signal ist fatal: Selbst wer sich kompromisslos für die europäische Option einsetzt, kommt am Ende nicht weiter.
Infolgedessen hat der Beitrittsprozess aufgehört zu funktionieren. Dreizehn Jahre nachdem die Europäische Kommission zum ersten Mal festgestellt hat, dass Nordmazedonien alle Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erfüllt, hat dieses Land noch immer kein einziges Verhandlungskapitel eröffnet. Zehn Jahre nach Aufnahme der Verhandlungen hat Montenegro nur drei von 35 Kapiteln geschlossen. Alle Beitrittsländer stecken fest. Nicht einmal die am weitesten fortgeschrittenen Länder haben derzeit eine glaubwürdige Aussicht auf Mitgliedschaft.
Das gleiche Schicksal erwartet die Ukraine und Moldau, die im Juni 2022 in Rekordtempo Kandidatenstatus erhielten. Wenn sich am Prozess nichts ändert, beginnt auch für sie ein ewiges Warten auf eine Unzahl von symbolischen Schritten, die erfunden wurden, um den Prozess in die Länge zu ziehen. Ohne einen meritokratischen Prozess und ein glaubwürdiges Ziel wird auch ihr Enthusiasmus bald schwinden.
Solange einige Mitgliedstaaten darauf beharren, vor der Aufnahme neuer Mitglieder interne Reformen durchzuführen, werden diese Probleme bestehen bleiben. Die Frage für die EU und alle, die an ein geeintes Europa glauben, lautet: Wie kann der Prozess trotzdem wieder in Gang gebracht werden? Wie kann er wieder zu einem echten Transformationsprozess werden, wie in früheren Erweiterungsrunden?
Hier zwei konkrete Vorschläge.
Mitgliedschaft für Montenegro
Die EU kündigt an, sich darauf vorzubereiten, Montenegro Anfang 2026 als Vollmitglied in die EU aufzunehmen, sofern die Europäische Kommission zum Schluss kommt, dass das Land in allen Bereichen ein „gutes Vorbereitungsniveau“ (good level of preparation) erreicht hat.
Die Slowakei benötigte 34 Monate von der Eröffnung bis zum Abschluss der Beitrittsverhandlungen. Montenegro hat bereits alle Kapitel geöffnet. Warum sollte es nicht möglich sein, alle innerhalb von 24 Monaten abzuschließen? Wenn wir 15 Monate für die Ratifizierung einrechnen, wäre ein Beitritt Anfang 2026 möglich. Dieses ambitionierte Ziel alleine wäre ein starkes, dringend benötigtes Signal, dass es immer noch möglich ist, der EU beizutreten; ein Signal, dass es sich lohnt, an diesem Prozess ernsthaft teilzunehmen.
Montenegro diese Chance zu bieten, wäre kein Geschenk. Um beizutreten, müsste das Land ja alle Kriterien erfüllen. Mit 620.000 Einwohnern ist Montenegro sehr klein. Sein Beitritt, einschließlich der erforderlichen EU-Fonds, würde sehr wenig kosten. Vor dem Austritt Großbritanniens gab es schon 28 EU-Mitgliedstaaten. Es wären keine institutionellen Änderungen erforderlich.
Eine solche Ankündigung wäre also machbar. Sie würde zeigen, dass die EU es ernst meint mit der „europäischen Zukunft für den westlichen Balkan“. Sie würde aber nicht ausreichen. Die EU müsste den Prozess auch für alle anderen Länder mit Bedeutung füllen – mit einem attraktiven, erreichbaren Ziel. Und sie müsste das jetzt tun. Das kann nicht warten, bis die EU einen langsamen und schwierigen internen Reformprozess durchläuft (von dem niemand weiß, wann und wie er beendet werden wird).
Mitgliedschaft im europäischen Binnenmarkt
Daher sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten erklären, dass jede europäische Demokratie, die die Mitgliedschaftskriterien, einschließlich der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, erfüllt, Zugang zum europäischen Binnenmarkt, zu den vier Freiheiten (freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) sowie zu den EU-Fonds erhält.
Dies wäre ein ehrgeiziges Ziel, das die Länder sehr nahe an die Vollmitgliedschaft heranführen würde. Sie würden (noch) keinen Sitz am Verhandlungstisch erhalten, womit den Bedenken derjenigen Mitgliedstaaten Rechnung getragen würde, die auf dem Vorrang interner EU-Reformen bestehen. Die Mitgliedschaft im Binnenmarkt umfasst aber den größten Teil des Acquis. Die Bürger:innen und Unternehmen der Länder, die es schaffen beizutreten, würden fast die gleichen Rechte und Vorteile genießen wie die der EU-Mitgliedstaaten.
Die EU-Vollmitgliedschaft wäre weiterhin das Ziel. Mitgliedschaft im Binnenmarkt, dem auch alle EU Mitglieder beitreten müssen, wäre ein großer Schritt auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft – ein attraktives, erreichbares Zwischenziel. Auch Österreich, Finnland und Schweden wurde in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zuerst eine Mitgliedschaft im Binnenmarkt angeboten, weil einige Mitgliedsstaaten erweiterungsfeindlich waren. Sobald sich die politischen Bedingungen innerhalb der EU geändert hatten, konnten sie – schon gut vorbereitet – rasch auch der EU beitreten.
Dieser Ansatz bietet zwei große Vorteile: Erstens werden bilaterale Blockaden für einen großen Teil des Prozesses aus dem Weg geräumt. Es ist Aufgabe der Kommission, über die Fortschritte zu berichten. Erst wenn in allen Bereichen ein „gutes Vorbereitungsniveau“ erreicht ist, gäbe es am Ende eine politische Entscheidung aller Mitgliedstaaten über die Aufnahme des jeweiligen Landes in den Binnenmarkt.
Zweitens kann dies allen europäischen Demokratien angeboten werden, unabhängig von ihrem formalen Status im Beitrittsprozess, also auch dem Kosovo und Bosnien-Herzegowina. Dies würde es ermöglichen, schon jetzt alle westlichen Balkanländer in den Transformationsprozess einzubinden. Und natürlich kann dies auch der Ukraine, Moldau und Georgien angeboten werden. Dies würde auch ihren Prozess mit Bedeutung füllen und ihnen ein attraktives, erreichbares Ziel auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft geben.
In ihrer Rede zur Lage der Union kündigte Ursula von der Leyen an, mit der Ukraine zusammenzuarbeiten, „um einen nahtlosen Zugang zum EU-Binnenmarkt zu gewährleisten“. Das ist ermutigend, erfordert nun aber konkrete Schritte. Viel steht auf dem Spiel. Nicht zuletzt, ob die Ukraine in der Zukunft auf unserer Seite stehen wird oder nicht.
Kristof Bender ist Europe’s Futures Fellow am IWM und stellvertretender Leiter der European Stability Initiative (ESI).