Der westdeutsche Dschihad gegen den Kommunismus

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Deutschland gehört zu den Ländern, die das Wachstum des Islamismus in ihrem Territorium am meisten beklagen. Behlül Özkan zeigt, warum diese Lage in hohem Maße ein hausgemachtes Problem ist.

In den letzten Jahren beschweren sich deutsche Behörden zunehmend über die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB), die fast 900 Moscheen und Vereine in Deutschland kontrolliert und Hunderte von Imamen beschäftigt. Vor dem Hintergrund von Ermittlungen zu „Spionage“-Vorwürfen gegen DITIB-Imame behauptete der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Jahre 2017, es habe „eine dramatische Zunahme der nachrichtendienstlichen Aktivitäten der Türkei in Deutschland“ gegeben. Die Tatsache, dass Gehälter von Imamen und Mitarbeitern der DITIB, die als Zweigstelle des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei fungiert, aus der Türkei überwiesen werden, und dass es den deutschen Staat nicht stört, dass eine religiöse Behörde eines anderen Landes seit Jahren innerhalb seiner Grenzen tätig ist, diese aber von Zeit zu Zeit der „Spionage“ beschuldigt, ist ein seltener Fall in den internationalen Beziehungen. Weniger bekannt ist, dass die Gründung der DITIB der antikommunistischen Politik der Bundesrepublik während des Kalten Krieges maßgeblich geschuldet ist.

Bald nach Beginn der Migration türkischer Arbeitnehmer:innen in die Bundesrepublik im Jahr 1961 warnten türkische Diplomaten in Bonn vor „kommunistischen Rundfunksendungen“. Der Hintergrund: Die Führung der in der Türkei illegalen Kommunistischen Partei (TKP) war in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in die DDR gezogen. Die Ausstrahlung der türkischen Radiosendungen der TKP wurde mit der Ankunft türkischer Arbeiter:innen auf die Bundesrepublik ausgedehnt. Die Tatsache, dass türkische Industriearbeiter:innen in das Visier des Kommunismus gerieten, sobald sie einen Fuß in die Bundesrepublik setzten, weckte die Ängste Ankaras und Bonns. 1963 forderte Arbeitsminister Bülent Ecevit bei einem Besuch in der Bundesrepublik Bonn auf, als Antwort auf die türkischen Rundfunksendungen aus der DDR türkische Zeitungen herauszugeben und Radiosendungen auszustrahlen. Bonn reagierte damals nicht wohlwollend auf die Forderungen der Türkei. Man stellte keine Notwendigkeit zum Handeln fest, war doch die Zahl der türkischen Arbeiter:innen immer noch auf einige Tausende begrenzt.

Als die Arbeitsmigration aus der Türkei ab Mitte der 1960er Jahre rapide zunahm, war auch die türkische Arbeiterklasse in der Bundesrepublik von den linken Bewegungen betroffen, die 1968 die Welt erfassten. Zudem hatte sich die TKP mit Sitz in Leipzig begonnen, mit Gewerkschaften, Streiks und Demonstrationen auf sich aufmerksam zu machen. Im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges wertete Bonn den Einfluss der TKP auf die türkische Arbeiterklasse der Bundesrepublik als Bedrohung und beschloss, als Gegenmittel dem politischen Islam den Weg zu ebnen.

Die Mehrheit der heute in Europa lebenden Türk:innen ist sehr religiös und hat eine konservative Weltanschauung. Bei den türkischen Wahlen stimmen mehr als 60 Prozent für die islamistische AKP. In den 1960er Jahren waren die Türken in Europa jedoch nicht so. Memoiren türkischer Gastarbeiter aus dieser Zeit ist zu entnehmen, dass eine erhebliche Anzahl von ihnen eine linke Weltanschauung hatte und dem gesellschaftlichen Leben in Deutschland offen gegenüberstand. Die türkische Arbeiterklasse in Deutschland sollte jedoch im Rahmen eines „Dschihad“ gegen den Kommunismus mit der aktiven Unterstützung der deutschen Regierungen islamisiert werden.

Einer der wichtigsten Akteure der Islamisierung in der Bundesrepublik war die Muslimbruderschaft. Im Zuge der nationalistischen Machtübernahme in Ägypten und Syrien flohen einige Mitglieder der Muslimbruderschaft seit den späten 1950er Jahren in die Bundesrepublik. Während die ägyptische Muslimbruderschaft München als ihren Hauptsitz wählte, ließ sich die syrische Muslimbruderschaft in Aachen nieder. Bonn hielt die Muslimbruderschaft für einen Trumpf gegen die Annäherung der DDR an Nassers Ägypten und das syrische Baath-Regime. Der politische Islam sollte nicht nur zugunsten der Bonner Nahostpolitik, sondern auch für innenpolitische Interessen eingesetzt werden. Die Verbindungen zwischen den Islamisten der Türkei unter Erbakans Führung und den Muslimbrüdern aus dem Nahen Osten wurden durch die Bundesrepublik gefördert. Die Moscheen und Vereine, die in der Bundesrepublik rasch eröffnet wurden, gerieten unter die Kontrolle der islamischen Gemeinden und der Muslimbruderschaft in der Türkei. Auf diese Weise wurde die türkische Arbeiterklasse ab den späten 1960er Jahren rasch islamisiert. Das ging so weit, dass in den 1970er Jahren Demonstrationen türkischer linker Organisationen in West-Berlin, darunter der TKP, von türkischen islamistischen Organisationen bekämpft wurden. Die deutsche Polizei ermutigte und unterstützte die türkischen Islamisten in ihrem Kampf gegen die Linke.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz, das in den 2010er Jahren feststellen musste, dass türkische Imame unter der Kontrolle von MIT stünden, in den 1970er Jahren das unglaubliche Wachstum der türkischen islamistischen Organisationen komplett „übersehen“ hatte, während es die Formationen der türkischen Linken genau beobachtete und als Bedrohung einstufte.

Im Jahr 1979 hatten drei Entwicklungen im Nahen Osten einen erheblichen Einfluss auf die Radikalisierung türkischer Islamisten in der Bundesrepublik. Das waren 1) die sowjetische Invasion in Afghanistan und der dort begonnene Dschihad; 2) der Aufstand der syrischen Muslimbruderschaft gegen das Assad-Regime; und 3) die islamische Revolution im Iran. Im Zuge der Radikalisierung der islamistischen Gruppen in der Bundesrepublik riefen einige ein Kalifat aus, während andere für eine Ausweitung des Dschihad eintraten. Als Bonn die Gefahr einer Radikalisierung erkannte, klopfte es an die Tür des Militärregimes, das 1980 durch einen Staatsstreich in der Türkei an die Macht gekommen war.

Am 18. Juli 1983 landete das Flugzeug des deutschen Innenministers Friedrich Zimmermann, eines der berüchtigtsten Antikommunisten des Kalten Krieges, in Ankara. In den 1970er Jahren hatten Franz-Josef Strauß und die CSU Kontakte zum Führer der türkischen extremen Rechten, Türkeş, und seiner Partei MHP geknüpft und deren Kampf gegen die türkische Linke in der Bundesrepublik unterstützt. Zimmermann erklärte der türkischen Seite, dass islamistische Organisationen in Deutschland sich zunehmend radikalisierten und außer Kontrolle geraten seien. Das Militärregime und der deutsche Innenminister einigten sich darauf, eine Zweigstelle der Diyanet, der staatlichen Behörde religiöser Angelegenheiten, in Deutschland zu eröffnen: DITIB. DITIB würde Moscheen, die von radikalisierten islamistischen Gemeinden und Organisationen beherrscht wurden, unter die Kontrolle des türkischen Staates stellen. Ähnlich sollten die Abgaben der türkischen Arbeitnehmer:innen für die islamische Solidarität der DITIB, d.h. Ankara, zugeführt werden. Diese Lösung war im Sinne der türkischen Generäle, die die türkisch-islamische Synthese als offizielle Ideologie übernommen hatten.

Daraufhin nahmen die Aktivitäten der DITIB in der Bundesrepublik rasch zu. Bald übernahm sie die Kontrolle einer beträchtlichen Anzahl von Moscheen. Infolge von Gerichtsverfahren gegen die Führer von islamistischen Gemeinschaften und Organisationen in Deutschland wurden prominente Persönlichkeiten bei ihrer Ankunft in der Türkei verhaftet. Sowohl Bonn als auch Ankara waren mit der DITIB zufrieden. Bis die AKP im Jahr 2002 an die Macht kam...

Nach der Machtübernahme der AKP wurden fast alle staatlichen Institutionen in Apparate des Einparteienregimes umgewandelt. Erdoğan nutzte die in Europa lebenden Türken als Trumpfkarte in seinen Verhandlungen mit den europäischen Staats- und Regierungschefs, und DITIB hat sich zu einem der effektivsten Instrumente entwickelt, um Türken in Europa zu erreichen.

Deutschland beklagt heute diese Situation. Doch es war Deutschland, das zunächst den islamistischen Gemeinschaften und Organisationen den Weg im Kampf gegen die Linke geebnet hatte. Dann klopfte es bei Ankara für die Einrichtung der DITIB an, um sie zu kontrollieren. Nach 2002 begann Deutschland sich darüber zu beschweren, dass die DITIB seine Interessen bedroht. Wie ein türkisches Sprichwort sagt: Kendim ettim, kendim buldum – „wenn man einen Fehler macht, muss man sich den Folgen stellen.“


Behlül Özkan ist Associate Professor am Department of International Relations der Marmara Universität. Er war vom Oktober 2022 bis Januar 2023 Gast am IWM