Vor 70 Jahren erschien ein Buch, das die Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Kommunismus tiefgreifend verändern sollte. Es war ein Zufall, dass es gerade im Jahr von Stalins Tod herauskam, doch im Rückblick wirkt es wie ein Fanal. Czesław Miłosz, späterer Nobelpreisträger für Literatur, wurde mit „Verführtes Denken“ weltberühmt.
Zur politischen Zäsur des Jahres 1953 trat mit der Publikation dieses Buches eine intellektuelle. Es bot eine bis dahin unerhörte Bilanz des Sowjetkommunismus, der zu dieser Zeit auch im Westen noch viele Bewunderer und prominente Fürsprecher hatte. Miłosz selbst hatte dies eindringlich erfahren, als er nach seinem Entschluss zur Emigration im Jahre 1951 in seinem Pariser Exil mit einflussreichen Stimmen konfrontiert war, die ihn deshalb für „wahrscheinlich geistesgestört“ hielten. Unerhört war, mit welch analytischer Schärfe der Autor argumentiert und dabei zugleich die Kraft und Schönheit eines literarischen Textes zu entfalten weiß. Er schreibt nicht als jemand, der vom Hass und dem Wunsch nach „Abrechnung“ getrieben ist, sondern als Autor, der den „neuen Glauben“ – für den er phasenweise selbst Sympathie hatte – erklären und die Mechanismen seiner Anziehung verstehen will.
Unerhört war für viele auch, dass diese Stimme aus jenem unterjochten Teil Europas kam (Kundera nannte ihn später „Mitteleuropa“), der lange nicht als eigenständig, sondern nur als „dazwischen“ wahrgenommen wurde. Unerhört blieb aber schließlich trotz des phänomenalen Erfolgs auch eine zentrale politische Botschaft: Wie können es, fragt der Autor gegen Ende sarkastisch, diese „kleinen“ und „nationalistischen“ Völker nur wagen, sich der Größe der russischen Kultur entgegenzustellen? Wenn wir heute, im Abstand von 70 Jahren, die Passagen lesen, in denen es um Folter, Zwangsumsiedlung, Deportation der Bevölkerung in diesem Teil Europas geht, dann stockt angesichts der Aktualität der Beschreibungen der Atem.
Kernstück des Buches sind die Porträts von vier Intellektuellen und ihrem Verhältnis zum „neuen Glauben“. Es sind psychologisch raffinierte Studien von Dichtern und Schriftstellern, die verschiedenste Stadien der Verführung und Verführbarkeit durchlaufen: Widerstand erlahmt beim Schielen auf die eigenen Vorteile, Skrupel und Angst gehen auf im Gefallen an der neuen gesellschaftlichen Rolle, und was anfangs noch wohlüberlegte Entscheidung war, wird zur besinnungslosen Umarmung und Verinnerlichung der neuen Ideologie bis hin zum Sadismus der Macht. Vor diesem Hintergrund hat auch der abweichende deutsche Titel Verführtes Denken seine gute Berechtigung, während das polnische Original Zniewolony umysł eher als „Versklavter Geist“ zu übersetzen wäre, entsprechend auch im Englischen The Captive Mind.
Mit allen vier Porträtierten war Miłosz persönlich bekannt, doch obwohl sie unschwer zu identifizieren sind, verzichtet er auf Namen, sondern benennt sie nur als Alpha, Beta, Gamma und Delta. Er betont damit auch, dass es nicht um das Urteil über eine individuelle Biographie geht, sondern um das Exemplarische an den Mechanismen der Verführung. Zwei dieser Porträts – Alpha und Gamma – seien hier vorgestellt, weil sich in den Charakterisierungen als „Der Moralist“ und „Der Sklave der Geschichte“ eindrücklich die intellektuellen Motive der Handelnden spiegeln.
Alpha – Der Moralist
Für Alpha ist die Schriftstellerei eine Form der Erhabenheit. Sie erhebt ihn über die Nöte des Alltags und sein ungeordnetes Privatleben. Als katholischer Schriftsteller (so versteht er sich vor dem Krieg, ohne tief verwurzelt zu sein) schlägt er einen moralischen Ton an, und um die Erhabenheit zu betonen, strebt er im Schreiben große moralische Reinheit an. Vor dem Krieg ist er in Polen erfolgreich, auch wenn (oder: weil) seine Erzählungen schematisch sind und kaum je „echte“ Menschen zeigen. Alpha geht es um die moralischen Prinzipien.
Eine seiner Erzählungen ist besonders charakteristisch: Ein junger Bursche, der gefoltert wird, verrät der Polizei den Namen seines Freundes, weil er Angst hat allein zu sterben. Bei der Hinrichtung treffen sich die beiden wieder, und der Verratene verzeiht seinem Freund. Alphas gesamtes Schreiben folgt einer Ethik des Mitleids. Miłosz‘ Respekt für diese Haltung ist spürbar und ehrlich (viele Jahre standen sich beide sehr nah). Alpha widersetzt sich auf bewundernswerte Weise den Nützlichkeitserwägungen – zu welchem Zweck soll man einem Verräter verzeihen? Miłosz kommentiert: „Hätte ein Sowjetschriftsteller diese Erzählung geschrieben, dann hätte sich der Verratene voller Verachtung vom Menschen, der einer so erbärmlichen Schwäche erlegen ist, abwenden müssen.“
Alphas Motivation aus dem Mitleid trägt sein Schaffen auch nach dem Krieg weiter. War vor dem Krieg ein Dorfpriester der Protagonist seines Werkes, so ist es nun ein „alter Kommunist“, rein wie ein Diamant im Streben nach dem Guten. Auch dieses Werk ist erfolgreich und wird von den neuen Machthabern gern gesehen. Alpha wird hofiert, weil er eine nützliche Brücke zu den konservativen Teilen der Gesellschaft ist. Doch dann kommt der Moment der Wahrheit: Um seine hervorgehobene gesellschaftliche Stellung zu halten, muss er sich öffentlich zum „neuen Glauben“ bekennen. Alpha tut auch dies vorbildlich – und zum Verdruss der anderen Schriftsteller. Er tritt in die Partei ein und veröffentlicht eine Selbstbezichtigung (früher hätte er es „Beichte“ genannt). Darin spricht er von seinem Wunsch, ein echter kommunistischer Schriftsteller zu sein, doch dies, so fügt er in Demut hinzu, müsse er mit Hilfe der neuen Lehre und ihrer Methoden erst noch werden. Er schreibt weiter im gleichen salbungsvollen Ton des Moralisten – und weiß doch, dass seine moralische Autorität für immer erschüttert sein wird.
Gamma – Der Sklave der Geschichte
Wie der Titel des Porträts, „Sklave der Geschichte“, ausdrückt, ist Gamma so etwas wie die paradigmatische Personifikation des historischen Materialismus. Auch er ein Schriftsteller, doch mit mäßigem Erfolg, und mit einem Stil, der keine echte eigene Überzeugung zeigt. Inmitten der politischen Wirren der Zeit und der geistigen Leere, die der Untergang der alten Welt bedeutete, wird Gamma Stalinist. Es sind die Sinngebung von außen, die Festigkeit der Doktrin und die Vorgabe eines Stoffes, die sein Schreiben beflügeln, aber auch die eigene Karriere im Dienste der Partei befördern. Gamma wird nach dem Krieg Gesandter in einer westlichen Hauptstadt, sogar Mitglied des Zentralkomitees der Partei und schließlich so etwas wie der politische Aufseher aller Schriftsteller, der „Direktor der Gewissen“. Scheinbar ungerührt verfolgt er die Deportation Zehntausender (auch seiner eigenen Familie) und genießt die Macht, die ihm in seiner neuen Rolle als Richter über das Wohl und Wehe anderer Menschen zufällt. Ein, wie Miłosz es charakterisiert, Pakt mit dem Teufel.
Gamma stellt sich ganz in den Dienst des geschichtlichen Fortschritts, sieht sich als Instrument eingebunden in die berühmten „ehernen Gesetze der Geschichte“, wo das Handeln des Einzelnen irrelevant wird. Paradox muss ihm jedoch scheinen, dass seine ganze Karriere gerade auf einer besonderen Vorsicht der persönlichen Entscheidungen, dem Taktieren und Intrigieren gebaut ist. Das ist, was er in all diesen Jahren als maßgebliche Lektion verinnerlicht hat. Gamma ist nicht Sklave der Geschichte, sondern jemand, der sich nur allzu gerne von der Totalität des Denkens verführen lässt. In dieser Verführung spiegelt sich der Widerspruch seiner Haltung: „Manchmal kommt ihm der Gedanke, ob der Teufel, dem er seine Seele verschrieben, nicht gerade durch solche Leute wie ihn die Lebenskraft bekommen habe, und ob nicht der Determinismus der Geschichte nur ein Produkt menschlicher Gehirne sei.“
Zentral ist das Kapitel über Gamma aber auch vor dem Hintergrund von Miłosz‘ eigener Biographie. Denn das Schreiben über ihn evoziert Erinnerungen an die gemeinsame Studienzeit in Wilna/Vilnius. Für Miłosz eine „verträumte Provinz Europas“, in der Polnisch, Litauisch, Belarussisch (oder ein Mix von allem) gesprochen wurde und in der die jüdische Kultur eine herausragende Rolle spielte. Die lebendige Erinnerung an diese einmalige Kultur „inmitten der Wälder“, die sich lange dem Zugriff der Moderne widersetzte, ist wahrscheinlich die Hauptquelle seines später gefeierten dichterischen Werkes. In den frühen 50er Jahren, nach den Schrecken des Krieges, der doppelten Okkupation und Sowjetisierung des Landes, aber schien ihm diese Region mit all ihren Geschichten „ebenso verschüttet wie Pompeji von der Lava“.
Ludger Hagedorn ist Philosoph und Permanent Fellow am IWM.