Die Weltwirtschaft in unsicheren Zeiten

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Mit einem Vortrag des Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz wurde am 27. September im Kuppelsaal der TU Wien das Vienna Humanities Festival 2022 feierlich eröffnet. In seiner Rede, die hier in gekürzter Fassung vorgestellt wird, gab Stiglitz seiner Überzeugung Ausdruck, dass zur Bewältigung der globalen Herausforderungen unserer Zeit eine Abkehr vom Neoliberalismus unerlässlich ist. 

Der Krieg

Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Ich fand die Entschlossenheit, mit der Europa, die Vereinigten Staaten und andere Länder dieser Aggression entgegentraten, sehr ermutigend, aber ich bin in vielerlei Hinsicht enttäuscht. Europa und die Vereinigten Staaten haben nicht so reagiert, als handele es sich um einen Krieg, bei dem für unsere Demokratien und die internationale Rechtsstaatlichkeit viel auf dem Spiel steht. Wie wären wir vorgegangen, hätten wir erkannt, worum es bei diesem Krieg geht? Zwei Aspekte möchte ich in diesem Zusammenhang hervorheben.

Erstens ist die Friedenswirtschaft für Kriegszeiten nicht geeignet. Märkte funktionieren nicht gut unter Zeitdruck, und Zeit ist im Krieg ein sehr wichtiger Faktor. Interessanterweise erkannten die Vereinigten Staaten im Kampf gegen COVID-19, dass sie sich nicht auf die Märkte verlassen konnten. Sie verfügen seit Jahrzehnten über ein Gesetz (Defense Production Act, 1950), das die Regierung im Kriegsfall dazu ermächtigt, Firmen die Herstellung bestimmter Produkte anzuordnen. Der Kampf gegen COVID-19 wurde als Krieg interpretiert, und Unternehmen wurde daher befohlen, Beatmungsgeräte herzustellen. 

Von Anfang an war klar, dass es einen Atomkrieg zu vermeiden gilt, daher haben wir wirtschaftliche Sanktionen eingesetzt. Die Sanktionen gegen Exporte nach Russland waren sehr wirksam und werden mit der Zeit noch wirksamer werden. Aber die Sanktionen gegen russische Exporte stellen auch ein Problem dar, weil die Abhängigkeit Europas vom russischen Gas sehr groß ist. Es war völlig offensichtlich, dass Russland kein zuverlässiger Handelspartner ist, und dass diese Fehleinschätzung nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Folgen haben würde. Als Reaktion auf die Einsicht, dass die Verhängung effektiver Sanktionen den Energiepreis in die Höhe treiben wird, hätte ein massiver und globaler Kraftakt zur Erzeugung grüner Energie unternommen werden müssen, um die Nachfrage nach Öl und Gas zu senken. Mittlerweile sind die Energiepreise so stark gestiegen, dass die Sanktionen Geld in Putins Kassen spülen. 

Hätten wir erkannt, worum es bei diesem Krieg geht, hätten wir in einer weiteren Hinsicht anders agiert. Das europäische Stromversorgungssystem geriet sehr stark in den Bann des Neoliberalismus. Es wurde in einer Weise dereguliert, dass der Strompreis von der Energiequelle mit den höchsten Kosten abhängig ist, und das war, nach Steigen der Gaspreise, das Gas. Diese Form der Deregulierung hatten wir in Kalifornien ausprobiert. Es kam zu Engpässen und die Preise schnellten in die Höhe. Über die Ursache dafür wurde viel diskutiert und schließlich stellten wir fest, dass die Deregulierung den Strommarkt anfällig für Manipulationen machte. Sobald Kalifornien einen gut regulierten Strommarkt hatte, gab es auch keine Engpässe mehr.

Ich hoffe, dass Europa seine Lektion schnell lernt und seine Politik ändert. Es wurden einige Maßnahmen ergriffen, aber sie kommen zu spät und sind zu wenig ambitioniert. Zum Beispiel hat man sich endlich dazu durchgerungen, eine Zufallsgewinnsteuer einzuführen, aber sie erfasst nur die Produktion fossiler Brennstoffe, während der Handel ausgenommen bleibt. Die Riesengewinne haben jedoch mit dem Stromhandel zu tun. 

Inflation und Zinserhöhungen

Die meisten Phasen hoher Inflation in den letzten vier Jahrzehnten waren auf einen Nachfrageüberhang zurückzuführen. Zur Gegensteuerung verfügen wir über ein sehr gutes Instrument, die Erhöhung der Zinssätze. Mittels Zinserhöhung werden die Investitionen und die Gesamtnachfrage gesenkt und somit Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht gebracht. Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass die Gesamtnachfrage heute die eigentliche Ursache des Problems ist. Eine Anhebung der Zinssätze wird die strukturellen Angebotsprobleme, die die Inflation befeuern, nicht lösen, sondern zu einem wirtschaftlichen Abschwung führen. 

Bedauerlicherweise ist die Anhebung der Zinssätze als Reaktion auf Inflation in die DNA der Zentralbanker:innen eingeschrieben. Sie wissen nicht, wie sie sich anders verhalten sollen. Sie glauben, dass sie Überzeugung und Entschlossenheit demonstrieren müssen. Wir könnten Glück haben und der Krieg geht zu Ende, eine größere Menge von Lebensmitteln wird verfügbar und die Inflation geht zurück. Aber wir könnten auch Pech haben. Der Krieg könnte lange dauern und die Pandemie in China ebenfalls. Es könnte weiterhin Probleme auf der Angebotsseite geben. Und dann werden die Zentralbanken die Zinssätze weiter anheben, und zwar so lange, bis die Arbeitslosigkeit hoch genug ist, um die Inflation zu senken. Doch der Preis dafür wird ein tiefgreifender wirtschaftlicher Abschwung sein. 

Die neue globale Ordnung

Selbst wenn wir diesen schrecklichen Krieg hinter uns gelassen haben, wird die Welt eine andere sein. Ob es uns gefällt oder nicht, und ob es nun rational ist oder nicht, es gibt in den Vereinigten Staaten einen Konsens, dass China eine Bedrohung darstellt. Dieser Druck führt zu wirtschaftlicher und politischer Entflechtung. Für Europa und die Länder des Südens wird dies schwierig werden.

In diesem neuen kalten Krieg wird es vor allem darum gehen, die Gunst der Menschen im globalen Süden für sich zu gewinnen. Leider haben wir diesen Kampf bisher nicht besonders geschickt geführt. Während der Pandemie haben wir eine schreckliche Impfstoff-Apartheid gepflegt. Wir hatten Zugang zu Impfstoffen, Menschen in Entwicklungsländern nicht. Indien und Südafrika, die zur Herstellung von Impfstoffen in der Lage gewesen wären, durften dies aufgrund von Patenten auf geistiges Eigentum nicht tun. Obwohl wir keine ausreichenden Impfstoffmengen produzieren konnten, lautete die Antwort: "Nein". Wir haben den Profit über das Leben der Menschen gestellt. Russland ging deutlich besser vor. Es gab seinen Sputnik-Impfstoff ab. China hat dasselbe getan. Beide haben erkannt, dass es die Gunst der Menschen im globalen Süden zu gewinnen gilt. Das hat die globale Geopolitik beeinflusst. Die Unterstützung für die Ukraine im Süden ist bemerkenswert schwach. Wir zahlen einen hohen Preis für unsere Fehler.

Die neoliberale Wirtschaft und ihre Alternative 

Jeder, der die Entwicklung der neoliberalen Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten verfolgt hat, muss kritisch sein. Die Ära des Neoliberalismus war durch ein langsameres Wachstum gekennzeichnet, und fast der größte Teil dieses Wachstums kam den Reichsten zugute. Dadurch entstand jene Ungleichheit, die Demagogen das Feld bereitet hat. Und eine Krise folgte der anderen. In den Vereinigten Staaten ist das deutlich spürbar: die Opioid-Krise, die Kinderdiabetes-Krise, die Ungleichheitskrise, die Klimakrise usw.

Als Wirtschaftstheoretiker habe ich mich oft mit der Frage beschäftigt, warum das Verfolgen von Eigeninteressen – wie durch eine „unsichtbare Hand“ – zum Wohlergehen der Gesellschaft führen sollte. Adam Smiths „unsichtbare Hand“ ist unsichtbar, weil sie nicht existiert. Das Verfolgen von Eigeninteressen, die Gier, führt nicht zum Wohl der Gesellschaft. 

Wir müssen ein besseres Gleichgewicht herstellen. Nicht nur zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor, sondern auch zwischen einer breiten Palette von Institutionen, gemeinnützigen Organisationen und Genossenschaften. Unsere Institutionen prägen uns. 
Es ist erwiesen, dass die Menschen im Bankwesen im Durchschnitt egoistischer und unaufrichtiger sind als jene in anderen Sektoren. Die Fokussierung auf Geld formt den Charakter. Das Gleiche gilt für Ökonom:innen. Die Wirtschaftswissenschaften ziehen Studierende an, die gieriger und egoistischer sind als andere. Und je länger sie studieren, desto gieriger und egoistischer werden sie. Wir formen unsere Studierenden und sie werden so, wie die unseren Analysen vorausgehenden Annahmen es besagen, nämlich egoistisch, eigennützig und gierig. Und so wiederum sehen wir unsere Annahmen über Menschen bestätigt.

Die Alternative wäre das, was ich einen progressiven Kapitalismus nenne. Demokratie ist ein wichtiger Bestandteil davon. Hier stünde das in die Gesellschaft eingebettete Individuum im Mittelpunkt. Die Individuen sollen nicht der Wirtschaft dienen, sondern die Wirtschaft den Individuen und der gesamten Gesellschaft. So könnte gemeinsamer Wohlstand, verstanden als Wohlergehen des Einzelnen in einem umfassenden, über das Materielle hinausgehenden Sinne, entstehen.


Der vorliegende Text ist eine gekürzte und adaptierte Fassung des Vortrags. Übersetzung Evangelos Karagiannis. 


Joseph Stiglitz ist Ökonom und Professor an der Columbia University. 2001 erhielt er den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften. 2022 war er Visiting Fellow am IWM. 2022 war er Visiting Fellow am IWM.