Digitaler Humanismus

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Am 17. März 2022 wurde am IWM das Projekt „Digitaler Humanismus“ lanciert, dessen Kern ein Fellowshopprogramm bildet. Hannes Werthner, Initiator des Wiener Manifests zum digitalen Humanismus, stellt den Hintergurnd und die Ziele der Initiative vor.

„So ein Unsinn“ – dies war vor fast 30 Jahren die Reaktion eines Teils des Publikums auf der ersten Webkonferenz in Österreich (zum Thema Tourismus und IT). Heute staunen wir über die transformative Kraft digitaler Technologien. Der stand-alone Computer hat sich zu einer weltweit verbreiteten Maschine weiterentwickelt, die jeden Aspekt unseres Lebens berührt. Die COVID-19-Pandemie veranschaulicht die Rolle der IT als Betriebssystem unserer Gesellschaft. Wir erleben die Co-Evolution von Mensch und Maschine, deren Dynamik uns dazu verleitet, sie als einen Automatismus zu verstehen, dem man fast hilflos ausgeliefert ist. 

Am Beginn des WWW stand die Idee der Informationsfreiheit – der Information als öffentlichem Gut. Allerdings entwickelte sich das Web dann auf Basis eines durch Werbeeinnahmen getriebenen Geschäftsmodells, das um Personalisierung und Empfehlungssysteme erweitert wurde. Verbunden mit der Deregulierung der 90er Jahre in den USA führte dies zu einem regellosen Wachstum und den monopolartigen Strukturen von heute. 

Für uns ist das Web selbstverständlich kostenlos. Statt mit Geld zahlen wir jedoch mit Daten, mit unseren Daten. Diese Daten über uns und unsere Vorlieben dienen als Input für Personalisierungs- und Empfehlungssysteme, mit deren Hilfe Klicks und Gewinne optimiert werden. Wir werden von Bürgern/-innen zu Nutzern/-innen, zum Produkt und Produzenten/-innen (von Daten). Es scheint, als hätten wir fast absolute individuelle Freiheit, aber eigentlich sind wir nur ein Eintrag in einer Ähnlichkeitsmatrix. Wir sehen (und werden), was uns gezeigt wird. Diese Entwicklung veranlasste Tim Berners-Lee 2018 zu seiner Aussage The system is failing

Zwei Seiten 

IT-Systeme sind nützlich, sie halten die Welt nicht nur am Laufen, sie sind auch essentiell bei der Lösung großer Probleme – man beachte z.B. die wesentliche Rolle der Informatik für die Sustainable Development Goals der UNO. Ferner wirkt das Web demokratisierend und partizipativ, was an diversen politischen Initiativen der Zivilgesellschaft sichtbar wird. Diese kommunikativ verbindende Funktion zeigt sich aktuell auch im Krieg in der Ukraine.  

Andererseits hat das Web auch Schattenseiten. 
•    Monopole im Web: Plattformfirmen wie Google, Apple oder Amazon sind weltweit die „wertvollsten“ Firmen mit einem Vielfachen des Marktwerts klassischer Unternehmen. Diese Firmen, von denen keine aus Europa stammt, haben Marktanteile von 50 bis 90 Prozent, sind Gewinner der Pandemie und investieren massiv in Forschung und Entwicklung (F&E). 
•    Souveränität des Staates und der Einzelnen: Multinationale Plattformen haben Macht, die Regierungen nur schwer kontrollieren können. Diese Firmen wissen mehr über die Bürger/-innen als die jeweiligen Staaten. Beispielsweise entscheiden sie mit ihren App-Stores darüber, welche gesellschaftlich wichtigen mobilen Dienste wie angeboten werden. 
•    Echokammern und Fake News als Resultat von Empfehlungssystemen mit ihren individualisierenden, die persönliche Sichtweise einschränkenden Auswirkungen auf den politischen Informations- und Meinungsbildungsprozess. 
•    Künstliche Intelligenz und Entscheidungen: Die Entwicklungen in der KI (vereinfacht die Simulation des menschlichen Denkens) führen zu sich selbst steuernden autonomen Systemen. Die Fragen drängen sich auf: Wer entscheidet und wer trägt die Verantwortung für Entscheidungen? Verstehen wir diese Systeme?
•    Überwachung und Datenschutz: Das Zahlungsmittel im Web sind unsere Daten, was mit Verletzungen der Privatsphäre durch private Unternehmen sowie staatliche Instanzen einhergeht. 
•    Automatisierung und Arbeit: Dieser Aspekt betrifft die Ablösung menschlicher Arbeit durch Maschinen; darüber hinaus die postkoloniale weltweite Arbeitsteilung im IT-Bereich sowie die sogenannte Gig Economy mit der für sie typischen, oft ideologisch aufgeladenen „Unabhängigkeit“ ihrer Beschäftigten. 

Das Wiener Manifest 

Die ambivalente Rolle der IT gab den Ansporn zum 1. Vienna Workshop on Digital Humanism im April 2019. An dem zweitägigen Workshop nahmen über 100 Teilnehmer/-innen aus Wissenschaft, öffentlichen Einrichtungen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft teil. Das wichtigste Resultat des Workshops war das Vienna Manifesto on Digital Humanism mit seinen Prinzipien für eine digitale Welt (dighum.ec.tuwien.ac.at). 

Wir definieren den digitalen Humanismus als einen Ansatz, der das komplexe Zusammenspiel von Technologie und Mensch beschreibt, analysiert und vor allem auch zu beeinflussen versucht, um eine bessere Gesellschaft unter Beachtung der universellen Menschenrechte zu schmieden. Das Manifest ist ein Aufruf, gemeinsam zu handeln und eine humanere Zukunft aufzubauen. Wir sind dazu aufgefordert, Technologien nach unseren Werten und Bedürfnissen zu gestalten, anstatt zuzulassen, dass Technologien Menschen formen. Der Begriff digitaler Humanismus wurde bewusst gewählt. Wir verweisen auf die Konzepte des Humanismus und der Aufklärung, wonach der Mensch für sein eigenes Denken verantwortlich ist. Wir haben die Freiheit, das Recht und die Verantwortung, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen, wir sind die Autoren/-innen unseres Lebens. Persönliche Autonomie und Entscheidungsfreiheit sind die Voraussetzungen für eine offene, demokratische Gesellschaft. Technischer Fortschritt ist kein Gottesgeschenk. Wir, als Individuen und als Gesellschaft, sollen und müssen Entscheidungen unter Berücksichtigung demokratischer und humanistischer Gesichtspunkte treffen. 

Es bewegt sich 

Die Resonanz auf das Manifest war enorm. Sie kam von Wissenschaftlern/-innen aus verschiedenen Disziplinen und Ländern ebenso wie aus der Zivilgesellschaft, von politischen Institutionen und Entscheidungsträgern/-innen. So erschien das Manifest in einer griechischen Zeitung und wurde als Text für die griechenlandweiten Hochschulzugangsprüfungen ausgewählt. Zudem vernetzten wir uns mit einer Reihe ähnlicher internationaler Initiativen, u.a. die Human-Centered Artificial Intelligence in Stanford, die Dutch Digital Society, oder das Digital Enlightenment Forum

Das wachsende öffentliche Problembewusstsein widerspiegelt sich auch auf politischer Ebene, so z.B. in den Kartellverfahren gegen Firmen wie Google bzw. Facebook in den Vereinigten Staaten, oder in Europa im Digital Service Act, dem Digital Market Act und dem Vorschlag zur Regulierung der KI. Die Außenminister Tschechiens, der Slowakei und Österreichs unterzeichneten die Poysdorfer Erklärung zum digitalen Humanismus. Der digitale Humanismus wurde in das österreichische wie das Wiener Regierungsprogramm aufgenommen, und die Gründung eines Instituts für digitalen Humanismus wurde angekündigt. Die Stadt Wien und der Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) betreiben erfolgreiche Forschungsprogramme, während das IWM ein vom Bundesministerium für Klimaschutz finanziertes Fellowshipprogramm eingerichtet hat. 

Der internationale intellektuelle Kern der Initiative, dem etwa 30 Wissenschaftler/-innen angehören, trifft sich zu regelmäßigen Onlinesitzungen. Seit dem Frühjahr 2020 wurden Workshops und etwa 30 Online-Vorlesungen mit international renommierten Vortragenden über Themen wie „KI und Ethik“, „Corona-Apps und Datenschutz“, oder „Souveränität in der digitalen Welt“ organisiert. Die Ergebnisse, u.a. auch Videomaterial von mehr als 70 Stunden, sind online verfügbar. Zudem wurde der Sammelband Perspectives on Digital Humanism veröffentlicht. 

Der Digitale Humanismus ist notwendigerweise interdisziplinär. Nehmen wir als Beispiel den für Empfehlungssysteme zentralen Begriff der Fairness. Dessen Definition ist keine technische, sondern eine politische, ökonomische und soziale Frage. Der digitale Humanismus ist politisch, denn schließlich ist der IT-induzierte gesellschaftliche Wandel eine politische Frage. Er kann auch als ein europäisches Modell der Digitalisierung dienen, im Gegensatz zu einem westlichen Ansatz des „anything goes“ oder zu fernöstlichen Überwachungsansätzen. 

IT wird nicht stoppen, wie auch die damit zusammenhängenden Veränderungen. Dies ist nicht als Automatismus zu begreifen, sondern als Aufforderung zum Handeln. Es geht um technische und soziale Innovation, gestalten wir sie!


Hannes Werthner ist emeritierter Professor für E-Commerce und Dekan der Fakultät für Informatik an der Technischen Universität Wien.