In der Ukraine der späten Sowjetzeit wurde die Atmosphäre der kulturellen Überlegenheit Russlands durchbrochen von privaten Erzählungen über die unterdrückte ukrainische Identität. Der folgende Text ist eine Reflexion über eine Kindheit, die von diesem Spannungsverhältnis geprägt war.
Kyjiw 1980, die Kastanien blühen. Papa und ich steigen aus der 33er Straßenbahn und gehen in Richtung Tauchsportpalast. Ich halte mich mit der ganzen Hand an Papas Daumen fest. Wir treten in die riesige Schwimmhalle ein, es riecht nach Chlor und vom Wasser her steigt Dampf auf. Wir setzen uns auf die Zuschauertribüne. Es sind ziemlich viele Fans da, hauptsächlich Männer. Über dem Becken eine Anzeigetafel: Moskau – Kyjiw 0:0. Gleich beginnt der Wasserballwettkampf. Papa fragt, für wen ich bin. Für Moskau natürlich, antworte ich, ohne nachzudenken. Er ist für Kyjiw. Das wundert mich sehr. Denn Moskau, wo ich noch nie war, wo aber jedes sowjetische Kind unbedingt hinwill, ist doch die Hauptstadt unseres grenzenlosen, unbesiegbaren Landes der Sowjets. Mama hat einen wunderschönen Stift aus zusammengesetztem Plexiglas, gebastelt von irgendeinem Knacki. Zum Schreiben ist der unpraktisch, aber man kann ihn lange anschauen wie einen Trickfilm – unter dem Glas ist ein echter geschnitzter Kreml, und was könnte schöner sein als der Kreml? Na, vielleicht noch Lenin in dem Mausoleum davor, wo ich auf jeden Fall hinfahre, wenn ich groß bin.
Diesen Wettkampf hatte Moskau gewonnen, Moskau gewann damals immer. Wir gingen aus der Halle und stellten uns mit den anderen Fans in einer langen Schlange für Bier an. Sie war länger als die Eisschlange, da war Bier bestimmt leckerer, aber nein – Papa ließ mich kosten, es schmeckte grauenhaft, obwohl ich es sofort runterschluckte. Mir lösten die ersten Tropfen Alkohol die Zunge. Ich weiß nicht mehr, was ich damals gesagt habe, aber ich war erst vor Kurzem vom Dorf geholt worden und sprach Ukrainisch, was alle lustig fanden. Papa schämte sich für mich. „Ihre Mama ist vom Dorf“, entschuldigte er sich bei den anderen Fans.
Das stimmte, meine hübsche Mama, die nach französischem „Climat“ duftete, war vom Dorf. Und auch wenn sie in einer Buchhandlung arbeitete, wo sie russische Literatur verkaufte, und fließend Russisch sprach, hielt Papa ihr das immer wieder vor. Ich habe damals noch so Einiges nicht verstanden, nicht nur, dass es in Kyjiw peinlich war, Ukrainisch zu sprechen.
Kyjiw mochte ich damals überhaupt nicht. Vielleicht hing das mit diesem Sprachchauvinismus zusammen oder damit, dass sich Mama und Papa in Kyjiw immer stritten, sich in ihren Affären gegenseitig übertrafen, mich lange allein zu Hause ließen oder in den Kindergarten brachten, wo ich gekochten Kohl essen musste und Mittagsschlaf neben Sascha machen, der nicht schlief, sondern mir unter der Decke seinen Puller zeigte, weshalb ich nicht einschlafen konnte. Ich lag da und träumte davon, zurück nach Hause zu kommen. Nein, nicht in die Kyjiwer Wohnung, sondern in das Haus von Oma und Opa in einem Dorf im Gebiet Poltawa, wo meine Mutter mich hingebracht hatte, als ich ein Jahr alt war. Das machten damals viele Mütter so, weil sie drei Monate nach der Geburt ihres Kindes wieder zur Arbeit mussten.
So wurde ich dorthin gebracht und ich liebte diese Welt über alles. Es gab dort viel frische Luft, Pflanzen, Tiere, Lieder und Humor, es gab dort viel Liebe. Dort sprach ich Ukrainisch und niemand machte sich darüber lustig. Von dieser Zeit an war Freiheit für mich immer mit meiner Muttersprache verbunden.
Aber alles Gute geht irgendwann einmal vorbei. So auch meine ukrainische Kindheit. Als ich sieben war, holte Mama mich zurück nach Kyjiw und gab mich in eine russische Schule. Denn zu Sowjetzeiten waren achtzig Prozent der Schulen in Kyjiw und anderen Städten russischsprachig. Wenn man in eine ukrainische Schule ging, war man ein Kind zweiter Klasse. In der russischen Schule hatten wir ab der vierten Klasse ukrainische Sprache und Literatur, konnten aber eine Befreiung beantragen. In unserer Klasse gab es ein paar Glückliche, die während des Ukrainischunterrichts machen konnten, was sie wollten.
Aber wir Unglücklichen mussten leiden. Denn Ukrainisch wurde von Frauen unterrichtet, die es nicht an die prestigeträchtige Russischfakultät geschafft hatten. Überwiegend waren das unsichere graue Mäuschen oder kreischende Hysterikerinnen, wir gehorchten weder den einen noch den anderen. Niemand mochte oder achtete die Ukrainischlehrerinnen, denn so diktierte es das System, in dem wir aufwuchsen. Die Russischlehrerinnen waren das genaue Gegenteil: selbstsicher, begeistert, charismatisch. Sie galoppierten hoch zu Ross in den Unterricht und injizierten uns die russische Literatur und Kultur in Pferdedosen. Wir bestanden zu 99 Prozent aus Puschkins Märchen, Schischkins Gemälden, Pachmutowas Liedern und Mythen über den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Das Bild des Ukrainers war in dieser Kultur immer eine Karikatur: ein lächerlicher, listiger und gieriger Dorftrottel, seine Frau eine noch listigere Schlampe. Sogar Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ stand auf dem Lehrplan, vielleicht, damit unsere noch formbaren Gehirne sich auf die Überlegenheit der Emotionen über Sinnhaftigkeit und gesunden Menschenverstand einstellten. Warum geht es in der russischen Literatur eigentlich so oft um Verbrechen und Strafe? Weil es so viele Verbrechen gibt? Mit anderen Worten wird all das als „rätselhafte russische Seele“ bezeichnet. Aber die Ukrainer/-innen wollten nie rätselhaft sein. Das sind alles aufgezwungene Muster. Sie wollten und wollen verständlich, zuverlässig und frei sein.
Vielleicht macht es den Eindruck, dass uns die ukrainische Kultur verboten wurde – nein, wo denken Sie hin! Sie wurde zuerst vernichtet und dann diskreditiert und abgewertet, was besser wirkte als jedes Verbot. Die Werke, die für die Lehrbücher ausgewählt wurden, wurden sogar vom Genre her als „ländlich“ charakterisiert. Wir hatten damals keine Ahnung, dass es die ukrainische Avantgarde gab, Stadtromane und komplexe zeitgenössische Lyrik, wir wussten nicht, dass die bedeutendsten ukrainischen Schriftsteller/-innen des zwanzigsten Jahrhunderts in den dreißiger Jahren umgebracht worden waren. Diejenigen, die die Lager überlebten, wurden verboten und nicht mehr publiziert. Zur selben Zeit als wir, unserer Erinnerung beraubte Ukrainer/-innen, bei allen Wettkämpfen für Moskau waren, wurde der geniale Lyriker Wassyl Stus, von dessen Existenz wir nicht einmal ansatzweise wussten, von einem sowjetischen Gericht wegen Nationalismus verurteilt und starb ein paar Jahre später in einem Lager in Russland.
Irgendwann später wurde ich erwachsen, nicht sofort. Und jetzt bin ich schon lange für eine andere Mannschaft. Dabei geht es nicht einmal um die Namen von Ländern und Städten – ich bin für eine andere Weltsicht.
Denn meine Oma erzählte mir nachts im Dunkeln, wie die Sowjets gekommen waren, geplündert und ihren Vater ermordet hatten. Von dem Holodomor 1933, als allein in der Familie meiner Großeltern über zwanzig Menschen umgekommen waren.
Denn mein Opa erzählte mir nachts im Dunkeln, wie er als Frontsoldat nach dem deutschen Konzentrationslager in ein sowjetisches Lager kam.
Denn sie sangen ukrainische Lieder.
Denn sie konnten herzlich über sich selbst lachen.
Denn erst auf dem Land verstand ich, dass alle Regierungen und Besatzungen vorübergehen, die Ukraine aber ewig währt.
Denn durch die vielen Schichten von Ideologien und aufgezwungenen Stereotypen hindurch kam immer noch das Wesentliche zum Vorschein.
Diese nächtlichen Lehrstunden und meine unbeschwerte Kindheit auf dem Land, dieses eine Prozent Bewusstsein frei von Sowjetideologie verdrängte schließlich die neunundneunzig Prozent des Aufgezwungenen und prägten, wer ich heute bin. Die Sowjetideologen setzten auf die Zerstörung der ukrainischen urbanen Kultur und auf die Abwertung der ländlichen. Wenn es keine Erinnerung, keine Kultur, keine Sprache und keine Elite gibt, dann gibt es auch keine eigene Weltsicht und keine eigene Zukunft.
Aber sie hatten die Kraft des kollektiven Gedächtnisses und der Mentalität, sie hatten das Flüstern der Großeltern im Dunkeln unterschätzt. Und die Sprache als Code der Nation hat hier eine große, aber nicht die größte Bedeutung. Wenn wir die Bezeichnungen von Sprachen, Nationen und Ländern betonen, schaffen wir einen irreführenden Diskurs und verlieren den wesentlichen Gegenstand dieses Krieges aus den Augen. Dies ist in erster Linie ein Krieg der Weltsichten, nicht der Ukrainer/-innen und Russen/-innen. In einer aufrichtigen Welt würde man sie einfach Freiheit und Sklaverei nennen, Leben und Existenz. In unserer Realität passt von den üblichen Begrifflichkeiten vielleicht noch am ehesten demokratisch und sowjetisch. Dies ist ein Kampf zwischen ihnen. Verstehen Sie? Und für wen sind Sie?
Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel
Natalka Vorozhbyt ist Dramatikerin und Drehbuchautorin. 2022 war sie Visiting Fellow am IWM.
This article appeared in the special Ukraine supplement to IWMPost 129