Während die Abriegelung von Grenzen als Reaktion auf die Herausforderung der Migration seit Jahrzehnten die Aufmerksamkeit von Wissenschaft und Öffentlichkeit genießt, weist Diego Acosta auf einen entgegengesetzten Trend hin, der sich an regionalen und bilateralen Freizügigkeitsabkommen feststellen lässt.
Obwohl kaum erforscht, spielen regionale Freizügigkeitsabkommen nach wie vor eine entscheidende Rolle bei der Regulierung der globalen Mobilität. Zusammen mit bilateralen Freizügigkeitsabkommen machen sie deutlich, dass Staaten zur Regulierung von Migration nicht nur Grenzen errichten, sondern auch Grenzübertritte erleichtern, um mit diesem komplexen Phänomen fertig zu werden. Auch wenn der Brexit auf eine gegenläufige Dynamik verweist, nimmt die Zahl der Länder, die sich an regionalen Vereinbarungen zur Erleichterung der Freizügigkeit beteiligen, jedes Jahr zu, ebenso wie die Zahl der eingeführten regionalen Instrumente.
Vereinfacht formuliert, umfasst das regionale Freizügigkeitsrecht multilaterale und bilaterale Verträge, aber auch staatliche Gesetze, die Ausländern/-innen aus Staaten derselben Region erlauben, in ein Land einzureisen, sich dort niederzulassen, zu arbeiten und andere Rechte in Anspruch zu nehmen. Mit anderen Worten, was Freizügigkeitsabkommen tun, ist Grenzen öffnen. So haben beispielsweise Personen aus Österreich das Recht, sich in Frankreich aufzuhalten und dort zu arbeiten; das gleiche gilt für Personen aus Brasilien in Argentinien, aus Jamaika in Trinidad, aus Australien in Neuseeland oder aus Armenien in Kasachstan. Dies hat nicht nur erhebliche Folgen für unser Verständnis von Migration, sondern auch für das von Staatsbürgerschaft. Die Staatsbürgerschaft eines bestimmten Landes berechtigt zunehmend zur Ausübung von Bürgerrechten im Hoheitsgebiet anderer Staaten. Regionale Abkommen sind nicht nur für diejenigen von Nutzen, die in einem anderen Land arbeiten wollen, sondern auch für diejenigen, die vor Umweltkatastrophen oder Konflikten fliehen. Tausende Venezolaner/-innen haben in Ländern wie Argentinien, Brasilien oder Uruguay eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, nicht als Flüchtlinge, sondern als regionale Bürger/-innen. Als der Hurrikan Maria 2017 Teile der Dominikanischen Republik in der Karibik verwüstete, konnten die Betroffenen in das benachbarte Antigua und Barbuda ziehen, nicht als Umweltflüchtlinge, sondern als regionale Bürger/-innen, die aufgrund eines regionalen Abkommens Anspruch auf Mobilität haben.
Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele. Die Einführung von Freizügigkeitsbestimmungen für EU-Bürger/-innen mag der bekannteste Fall sein, diese Abkommen sind jedoch ein globales Phänomen. Genannt seien auf regionaler Ebene die Eurasische Wirtschaftsunion (EAEU) in Europa, die Andengemeinschaft (CAN) oder der Gemeinsame Markt des Südens (MERCOSUR) in Südamerika, die Karibische Gemeinschaft (CARICOM) oder die Organisation Ostkaribischer Staaten (OECS) in der Karibik, der Golfkooperationsrat (GCC) in Asien, oder die Ostafrikanische Gemeinschaft (EAC) und die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) in Afrika, die alle über Normen verfügen, die Freizügigkeit ermöglichen. Auf bilateraler Ebene gibt es eine Vielzahl von Abkommen, wie jene zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland, der EU und der Schweiz, Australien und Neuseeland, Russland und Weißrussland, Brasilien und Argentinien oder Ecuador und Venezuela, die ihren Staatsangehörigen erlauben, sich zwischen beiden Hoheitsgebieten zu bewegen und sich in diesen aufzuhalten.
Die Zunahme regionaler Freizügigkeitsabkommen ist Teil eines allgemeinen, weltweit beobachtbaren Trends zur Regionalisierung, der weitreichende Auswirkungen nicht nur auf Wirtschaft und Handel, sondern auch auf die Migration hat. So hat die Afrikanische Union 2018 zwei wichtige Initiativen zur Erleichterung regionaler ökonomischer Zusammenarbeit verabschiedet: die Afrikanische Kontinentale Freihandelszone (AfCFTA), die am 1. Januar 2021 in Kraft trat, und das Protokoll für Personenfreizügigkeit, das noch nicht wirksam geworden ist. Der allgemeine globale Trend zur Verabschiedung dieser Art von Abkommen ist seit dem Ende des Kalten Krieges im Jahr 1991 ungebrochen.
Wie sich an der Verabschiedung des Anden-Migrationsstatuts im Jahr 2021 erkennen lässt, hat die COVID-19-Pandemie diesen Trend nicht aufgehalten, auch wenn Forschende und politische Entscheidungskräfte ihr Augenmerk auf die längerfristigen Auswirkungen und den Verlauf der Wiederöffnung der Grenzen in den kommenden Jahren werden richten müssen. Die Andengemeinschaft ist eine regionale Organisation, der Bolivien, Kolumbien, Ecuador und Peru angehören und die seit den 1970er Jahren regionale Migrationsfragen regelt. Das Anden-Migrationsstatut ist das Ergebnis eines langen Diskussionsprozesses, der 2013 startete und an dem sich verschiedene Akteure/-innen, darunter auch das Andenparlament, beteiligt haben. Das Statut hat das Ziel, die Freizügigkeit und den Aufenthalt nicht nur von Staatsangehörigen der vier Mitgliedsstaaten zu regeln, sondern auch von Bürgern/-innen anderer Staaten mit ständigem Wohnsitz in einem dieser Länder. Dies stellt eine weltweit einzigartige Neuerung dar, da zum ersten Mal Drittstaatsangehörigen – im vorliegenden Fall solchen mit ständigem Wohnsitz – dieselben Mobilitätsrechte gewährt werden wie den Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten einer regionalen Organisation.
Die Einführung dieses Rechtsinstruments im derzeitigen politischen Kontext ist besonders bemerkenswert. Es sei festgehalten, dass Kolumbien, Peru und Ecuador in den letzten sechs Jahren eine große Zahl migrierter und geflüchteter Menschen aus Venezuela aufgenommen haben. Gemäß den Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen und der Internationalen Organisation für Migration hatte Kolumbien bis Februar 2022 mehr als 1,8 Millionen Venezolaner/-innen aufgenommen, Peru mehr als 1,1 Millionen und Ecuador mehr als eine halbe Million. Alle Venezolaner/-innen mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in einem dieser drei Länder können sich nun in der Region frei bewegen, was unter anderem zur Zusammenführung von Familien beiträgt, deren Mitglieder in unterschiedlichen Staaten leben.
Die Zukunft der regionalen Freizügigkeitsinstrumente und der bilateralen Abkommen scheint aussichtsreich zu sein. Während die COVID-19-Pandemie zur vorübergehenden Schließung von Grenzen auf der ganzen Welt führte, hält der Trend in Richtung Freizügigkeit unvermindert an, wie die Annahme des Anden-Migrationsstatuts und die Umsetzung des AfCFTA im Jahr 2021 zeigen. Sobald der internationale Reiseverkehr wieder in Gang kommt, werden regionale Migranten/-innene weiterhin einen erleichterten Zugang zu Einreise, Aufenthalt und Arbeit in der ganzen Welt haben. Diese Offenheit für ausländische Arbeitskräfte auf allen Ebenen der Gesellschaft wird dringend notwendig sein, um Talente anzuziehen und die Wirtschaft erneut anzukurbeln.
Regionale Abkommen werden auch eine maßgebliche Rolle bei der schrittweisen Umsetzung der 23 Ziele des Globalen Pakts für sichere, geordnete und reguläre Migration von 2018 spielen. Der Pakt, ein unverbindliches Abkommen mit 23 Zielen, das unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen ausgehandelt wurde, bekräftigt, dass „eine sichere, geordnete und reguläre Migration dann für alle funktioniert, wenn sie auf der Basis von guter Information, Planung und Konsens stattfindet“, und dass die internationale Gemeinschaft dafür verantwortlich ist, „Menschenleben [zu] retten und Migranten vor Gefahren [zu] schützen“. Während Österreich den Pakt nicht unterzeichnet hat, haben ihn 152 Staaten weltweit ratifiziert.
Der Pakt erkennt die Notwendigkeit an, dass gemeinsame Lösungen gefunden werden müssen für ein globales Phänomen, das von keinem Land allein bewältigt werden kann, und unterstreicht die entscheidende Bedeutung der Regionen bei der Schaffung eines „Kooperationsrahmens zur Migration in all ihren Dimensionen“. In der Tat hängt das Hauptziel des Pakts, nämlich die Erleichterung der Mobilität, in hohem Maße von der regionalen Zusammenarbeit ab. Die Tragweite dieses Abkommens für die Legalisierung migrierter Personen und für die Optionen, die sich für Flüchtlinge und Menschen, die vor Situationen wie Umweltkatastrophen fliehen, eröffnen, lässt die Wichtigkeit der Fortsetzung, Vertiefung und Ausweitung der Untersuchungen in diesem Bereich deutlich erkennen.
Übersetzung aus dem Englischen von Evangelos Karagiannis
Diego Acosta ist Professor für Europäisches und Migrationsrecht an der Universität von Bristol. 2021 war er Gast am IWM.