Geschichte ist zum Schlüsselterrain politischer Kämpfe unserer Zeit geworden. Fragen der Interpretation, Perspektivität und Situiertheit haben den Anspruch der objektiven Rekonstruktion der Vergangenheit im gängigen Geschichtsverständnis in den Hintergrund gerückt. Diese Wende geht mit gewaltigen politischen Verschiebungen im Westen und in der Welt einher.
Donald Trump hat während seiner gesamten Präsidentschaft sein so gut wie nicht vorhandenes Geschichtsverständnis unter Beweis gestellt, und dennoch hat er es geschafft, „Geschichte“ zum zentralen Schlachtfeld in den heutigen Kulturkämpfen zu machen. Eine seiner letzten Amtshandlungen als Präsident war die Veröffentlichung einer Studie über die Gründung Amerikas, die der Executive Director der American Historical Association als „eine Erzählung und Argumentation“ bezeichnete, „die kaum ein respektabler professioneller Historiker, auch bei einem breiten Interpretationsspektrum, für plausibel halten würde“.
Die prominente Rolle, die die Vergangenheit in den aktuellen politischen Debatten in den USA – ja, im gesamten Westen – spielt, macht es unerlässlich, genauer zu erkunden, wie Geschichte produziert wird – und, vielleicht noch wichtiger, wie sie gelehrt wird. Wir müssen jetzt einen neuen Anlauf unternehmen, um die Frage zu beantworten, die der britische Diplomat und Historiker Edward Hallett Carr vor Jahrzehnten gestellt hat: Was ist Geschichte?
Geschichte kann durchaus starke Leidenschaften wecken. Seit 2015 zum Beispiel hat ein Bildersturm auf Statuen die westliche Welt erfasst, vor allem inspiriert durch die Black-Lives-Matter-Bewegung. Statuen und Denkmäler, die mit Kolonialismus und Sklaverei in Verbindung gebracht werden, wurden in den Vereinigten Staaten, Europa und Südafrika entfernt, enthauptet, verunstaltet oder bedroht. In ehemaligen Sklavenhalter- und Jim-Crow Staaten der USA wurden Denkmäler für zivile und militärische Führer der Konföderation gestürzt. Trump bezeichnete solche Denkmäler als „wunderschöne Statuen“ und ordnete an, dass Truppen des Bundes sie vor der „Herrschaft des Mobs“ schützen sollten.
Die meisten Menschen in Großbritannien wurden sich der historischen Dimension dieses immer heftiger aufflammenden Kulturkampfs bewusst, als Black-Lives-Matter Demonstranten im Juni 2020 eine Statue des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol niederrissen. Dieser Episode war jedoch ein anderes wichtiges Ereignis im Jahr 2016 vorausgegangen, als Studenten die Entfernung einer Statue des Imperialisten Cecil Rhodes vor dem Oriel College in Oxford forderten.
Die Ermordung von George Floyd durch die Polizei im Mai 2020 in den USA hat die Anti-Rhodes-Proteste wiederbelebt. Die Statue steht noch, aber eine Untersuchungskommission wird einen Bericht über ihre Zukunft erarbeiten. Und manche fordern nun, dass die Statue von Admiral Horatio Nelson – einem entschiedenen Verfechter der Sklaverei – vom Londoner Trafalgar Square entfernt wird.
Colston und Rhodes waren freilich auch prominente Philanthropen. Rhodes gründete eine Stiftung, um Studenten aus der ganzen Welt Stipendien für ein Studium in Oxford zu verschaffen. Sollte das in die Waagschale geworfen werden? Sir Roy Strong, ehemaliger Direktor des Londoner Victoria and Albert Museum, drückte die Sache noch deutlicher aus. „Wenn man einmal anfängt, die Geschichte in diesem Ausmaß umzuschreiben, wird keine Statue und kein historisches Haus mehr stehen“, bemerkte er. „Die Vergangenheit ist die Vergangenheit.“
Die Vergangenheit befragen
In diesen Debatten beschuldigen beide Seiten die jeweils andere, „Geschichte verbergen“ zu wollen. Aber die entscheidenden Fragen sind: „Wessen Vergangenheit?“ und „Welche Geschichte?“
Diese Fragen hätten für eine frühere Generation von Historikern keinen Sinn ergeben. Leopold von Ranke, einer der Begründer der „wissenschaftlichen“ Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert, vertrat die Ansicht, dass Geschichte einfach das sei, was passiert ist, und Aufgabe des Historikers sei es, zu sagen, „wie es eigentlich gewesen“ ist. Ranke forderte eine evidenzbasierte Geschichtsschreibung. Die Ranke’sche Methode bestand darin, vermeintliche Fakten aufzuspüren, die Dokumente zu befragen und eine Geschichte zu schreiben, die auf den zuverlässigsten Quellen basiert. Die Historiker sollten diese Methode dann auf die überlieferten Darstellungen anwenden und so Wahrheit von Unwahrheit trennen. Das Schreiben von Geschichte war also vergleichbar mit der Befragung von Zeugen vor Gericht. Der forensische Charakter der Geschichtsschreibung im Ranke’schen Stil war eine mächtige Waffe gegen die mythologischen Anlagerungen, die der Vergangenheit anhafteten. Aber dieser Ansatz hatte zwei Schwächen.
Die erste betraf die Bedeutung. Ranke glaubte, dass die Fakten, einmal festgestellt, für sich selbst sprechen würden. Aber das tun sie nie, nicht zuletzt, weil es zu viele davon gibt. Der Historiker muss nicht nur die Zuverlässigkeit der Beweise beurteilen, sondern auch ihre Relevanz. Dazu gehören Diskussionen über Ursache und Wirkung, über unmittelbare und fernere Ursachen. (Was hat den Ersten Weltkrieg verursacht? Waren wirtschaftliche Faktoren mitverantwortlich?) Solche Fragen bieten massenhaft Raum für Meinungsverschiedenheiten, was zu einer endlosen Debatte führt.
Ein noch größeres Problem ist, dass der Historiker entscheiden muss, welche Geschichte er erzählen will. Für Ranke und seine Nachfolger schien das kein großes Problem zu sein. Ihr Hauptaugenmerk lag auf dem Aufstieg Europas (und insbesondere Deutschlands) zur Weltherrschaft. Sie richteten ihren Blick fest auf die Kriege, die Diplomatie und das Kalkül der Herrschenden sowie auf die religiösen, kulturellen und nationalen Besonderheiten, die zu dem geführt hatten, was sie für eine fortschrittliche Bewegung des menschlichen Geistes hielten.
Die Darstellungen, die sie verfassten, hatten unweigerlich etwas Triumphalistisches an sich. Alles andere, was geschehen war, war nicht Geschichte oder allenfalls eine Nebenhandlung. Die Lehrpläne der Schulen und Universitäten wurden dementsprechend gestaltet und Schüler und Studenten entsprechend unterrichtet.
Geschichte für Sieger
Geschichte war traditionellerweise die Erzählung von Siegern, wie das Beispiel einer der hartnäckigen Eigenheiten der britischen Geschichte zeigt, nämlich des „Whig-Narrativs“. Der Historiker Herbert Butterfield, der den Begriff prägte und den dahinterstehenden Dünkel attackierte, fasste es zusammen als „die Tendenz […], auf der Seite der Protestanten und Whigs zu schreiben, Revolutionen zu loben, sofern sie erfolgreich waren, bestimmte Prinzipien des Fortschritts in der Vergangenheit zu betonen und eine Geschichte zu produzieren, die die Ratifizierung, wenn nicht die Verherrlichung der Gegenwart ist“.
Die „Verlierer“ in der Whig-Erzählung vom Fortschritt hin zu Liberalismus und Demokratie waren Katholiken und Tories. Tatsächlich kamen sie kaum vor; die Whig-Interpretation der Geschichte kann gar nicht anders, als ihre Rolle verkürzt darzustellen oder zu marginalisieren.
Der Zeitpunkt von Butterfields Angriff war wichtig. Sein Buch The Whig Interpretation of History wurde erstmals 1931 veröffentlicht, zur einer Zeit also, da der Erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise die Unterstützung für die bürgerliche Geschichtsinterpretation hatten schwinden lassen. Nicht zufällig erlebte die konservative Geschichtswissenschaft um diese Zeit ein massives Comeback, angeführt von dem Oxford-Historiker Lewis Namier. Die Perioden und Themen, über die Namier schrieb, eigneten sich gut für eine „anti-whiggische“ Betrachtung. Sein 1929 erschienenes Buch The Structure of Politics at the Accession of George III. beispielsweise fängt einen Zeitpunkt ein, bevor sich die große Fortschrittserzählung verankert hatte.
In einem anderen Buch, 1848: The Revolution of the Intellectuals (1944), konzentrierte sich Namier auf die gescheiterten Revolutionen von 1848 in Mitteleuropa und nicht auf die vielen Revolutionen, angefangen bei der Französischen, die erfolgreich waren. Ein Großteil dieser Art von Geschichtsschreibung schilderte, wie geschickt die herrschenden Klassen die Kräfte des Fortschritts schwächten und behinderten.
Der andere Erbe der verblassenden Whig-Interpretation war die sozialistische Geschichte. Als die Labour Party nach dem Ersten Weltkrieg die Liberalen als bestimmende Kraft auf der Linken im Vereinigten Königreich verdrängte, wurde die Stimme des Volkes nachdrücklicher vernehmbar. Das führte zur Entstehung einer linken Geschichtsschreibung, die Demokratie als eine Errungenschaft der Mobilisierung und des Protests des Volks und nicht als Geschenk der herrschenden Klasse betrachtete.
Diese Verschiebungen zeigen, dass das, was war, nie von Dauer ist. Butterfield griff eine Geschichtswissenschaft an, die moralische Klarheit zu erreichen suchte, indem sie vergangene Handlungen und Ereignisse im Lichte der aktuellen Politik und Werte interpretierte. Die Vergangenheit, so behauptete er, muss für sich selbst sprechen dürfen. Dies halte zumindest die historische Tür offen für zukünftige Werteveränderungen
Geschichte neu schreiben
Jede Generation schreibt die Geschichte im Schatten ihrer eigenen vorherrschenden Interessen um: Die einzige verlässliche Geschichte im Ranke’schen Sinne ist die, die uns nicht mehr interessiert. Niemand streitet heute zum Beispiel über die Moral der römischen Sklaverei, weil wir uns nicht mehr persönlich involviert fühlen.
Mit dem Aufkommen von Demokratie und Feminismus, den Veränderungen in der ethnischen und religiösen Zusammensetzung der westlichen Bevölkerung und dem relativen Niedergang des Westens und dem Aufstieg Asiens begannen zuvor ausgeschlossene Gruppen und Länder eine Anerkennung als Opfer und eigenständige historische Akteure zu fordern. Andere Sachverhalte, die schon immer vorhanden waren, fanden zum ersten Mal Eingang in die Geschichtsschreibung. Die politische Geschichte wich der Sozialgeschichte, und die Erzählung von der „Last des weißen Mannes“ (white man’s burden) wurde zu einer Erzählung der „Unterdrückung durch den weißen Mann“ (white man’s oppression).
Die Historiker gaben die Ranke’sche Methode natürlich nicht auf, aber sie benutzten sie nicht mehr, um nur eine Geschichte zu erzählen. Die Sieger der Ranke’schen Geschichte hatten die historische Schlacht schon lange, bevor ihre Statuen gestürzt wuden, verloren. Die neue Geschichte, die erzählt werden sollte, betraf die Schäden, die sie angerichtet, nicht die glorreichen Taten, die sie vollbracht, oder die nützlichen Dinge, die sie geschaffen hatten.
Das ist im weitesten Sinne das, was mit der westlichen Geschichtsschreibung und -lehre im letzten Jahrhundert passiert zu sein scheint. Und im Allgemeinen bildete der Marxismus die Speerspitze dieser Verschiebung. Karl Marx war der ursprüngliche Begründer der „Geschichte von unten“, als er zum ersten Mal den Klassenkampf als Motor der Geschichte und den Kapitalismus als das bürgerliche Stadium der historischen Entwicklung identifizierte, dem der Triumph des Proletariats folgen würde.
Historische und literarische Studien sind seither Fußnoten zum marxistischen Grundschema. Der Marxismus wurde zwar politisch besiegt, doch kulturell hat er triumphiert. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch sind wir woke geworden für die Wahrheit unserer Situation.
Abrechnung mit dem Empire
Von zentraler Bedeutung für diesen Perspektivenwechsel war die Betrachtung des Imperialismus. Ohne Zweifel war der moderne Imperialismus schon immer ein umstrittenes Konzept. Das musste er auch sein, denn er widersprach den republikanischen Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die von der Französischen Revolution proklamiert wurden.
Aber interessanterweise konzentrierten sich die frühesten modernen Kritiker des Imperiums auf die Schäden, die der Imperialismus den Großmächten selbst zufügte, und nicht auf die Schäden, die er bei den imperialen Untertanen verursachte. Adam Smith brachte einen Großteil des Antiimperialismus seiner Zeit auf den Punkt, als er Großbritanniens amerikanische Kolonien als „Mühlsteine um unseren Hals“ bezeichnete. Smith war der Ansicht, Großbritannien könnte alle wirtschaftlichen Vorteile, die angeblich aus imperialen Monopolen erwuchsen, durch Freihandel viel billiger bekommen. Diese Sichtweise auf das Empire hält sich bis heute, wobei sich Wirtschaftshistoriker darüber streiten, ob das britische Weltreich unter dem Strich eine Last oder ein Nutzen für das Mutterland war.
Marx war überraschenderweise kein Kritiker des britischen Empire, denn er glaubte, die britische Herrschaft in Indien werde diesen schlafenden Riesen aus seinem vorkapitalistischen Schlummer erwecken. Und seine Anhänger, wie Lenin, betonten nicht den Schaden, den das Imperium den kolonialen Untertanen zufügte, sondern konzentrierten sich ganz auf die Probleme, die der Imperialismus den imperialen Mächten verursachte. Sie glaubten, dass die Aufteilung der Welt in Imperien unweigerlich zu einem Kampf zwischen den Imperialmächten um ihre Neuaufteilung führen werde, der, so hoffte Lenin, die endgültige Krise des Kapitalismus einleiten würde.
Historiker begannen erst in den 1960er Jahren, dem Schaden, den die europäischen Imperien ihren nichtweißen Untertanen zugefügt hatten, mehr Aufmerksamkeit zu schenken, da zu diesem Zeitpunkt die Imperien selbst bereits zusammengebrochen waren. Ich erinnere mich, wie ich in den frühen 1980er Jahren das Schulgeschichtsbuch meines zehnjährigen Sohnes durchblätterte, in dem es nüchtern-sachlich hieß, die Völker der damaligen „Dritten Welt“ seien arm, weil sie ausgebeutet worden seien. Ich beschwerte mich, dass dies eine umstrittene Meinung und keine Tatsachenbehauptung sei. Aber zu dieser Zeit war eine solche Ansicht bereits orthodox.
Fakten und Gefühle
Diese Debatte geht in spezialisierten Enklaven von Wirtschaftshistorikern weiter. Einige stellen eine interessante kontrafaktische Frage: Was wäre aus der Wirtschaft der indigenen Bewohner Indiens, Chinas, Afrikas und Amerikas geworden, wenn sich die Europäer nicht in ihre Angelegenheiten eingemischt hätten?
Wirtschaftshistoriker wie Kenneth Pomeranz und Thomas Piketty behaupten, China und Westeuropa hätten bis circa 1800 wirtschaftlich in etwa gleichauf gelegen. Sie argumentieren, dass die Einmischung der Europäer, insbesondere der Briten, in China im 19. Jahrhundert (z. B. durch die Opiumkriege und den Abschluss ungleicher Handelsverträge) die Ursache für die nachfolgende divergente Entwicklung und den anschließenden Niedergang des Landes gewesen sei.
Andererseits haben Angus Maddison, Stephen Broadberry, Joel Mokyr und andere die Ansicht vertreten, Chinas wirtschaftliche Entwicklung sei schon lange vor 1800 hinter Westeuropa zurückgefallen. China war nicht schwach, weil es kolonisiert wurde; es wurde kolonisiert, weil es schwach war.
Faktenfreie Geschichte
Viele aktuelle historische Auseinandersetzungen haben wenig mit Fakten zu tun, sondern eher mit Wahrnehmung und Gefühlen. Edward Saids Buch Orientalism von 1978 war in dieser Hinsicht ein Wendepunkt. Said war der Meinung, dass westliche Imperialismusforscher durch die imperiale Vergangenheit ihrer eigenen Länder kulturell darauf konditioniert seien, unterworfene Völker als minderwertig zu betrachten, ähnlich wie die Römer ihre Eroberungen als Bestätigung der eigenen Überlegenheit gegenüber den eroberten Sklavenvölkern angesehen hatten.
Vermeintlich knallharte Ranke’sche Argumente verwandeln sich so in moralische und psychologische Geschichten darüber, wie der weiße Rassismus People of Color Vorurteilen, Diskriminierung und Beleidigungen ausgesetzt hat und weiterhin aussetzt, was zu sozioökonomischer Ungleichheit und physischen wie psychischen Schäden führt. Als Reaktion darauf haben westliche Universitäten begonnen, ihre Lehrpläne zu „dekolonisieren“ und „Gleichstellungsbeauftragte“ zu installieren. Dies, zusammen mit vielen anderen Zeichen des „Wokismus“, ist der Punkt, an dem wir uns heute befinden.
Eine Warnung für den Westen
Der gewaltsame Sturm des Mobs auf das US-Kapitol ist vielleicht der bisher deutlichste Beweis dafür, dass der aktuelle Kulturkampf über die Maßen aufgeblasen wurde. Geschichte war schon immer eine Mischung aus Tatsachen und Werten, und die Interpretation der Vergangenheit hat sich schon immer entsprechend den gegenwärtigen Hauptinteressen verschoben. Aber das Kaleidoskop der Interpretationen, in dem sich auch ein paar reine Fantasien befinden, weist ein konstantes Merkmal auf: Alle, die mit der Auslöschung (canceling) einer Kultur und ihrer Ersetzung durch eine andere befasst waren, haben geglaubt, dass ihre Kultur überlegen sei. Selbst diejenigen, die die Auschlösung als Liquidierung aller Kultur interpretieren, glauben wie die Romantiker, dass eine aus dem Gefängnis der Kultur befreite Welt ein bisher erträumtes, aber unerreichtes Reich der Freiheit und Authentizität wäre.
Doch der gegenwärtige Kampf um das Anrecht auf die Vergangenheit weist zwei besorgniserregende Charasteristika auf. Erstens wurde die Debatte durch die sozialen Medien enorm verstärkt und beschleunigt, denn diese üben unablässig Druck auf die Historiker aus, ihre Texte umzuschreiben und die Sprache auf eine neue Art zu verwenden. Der Druck der Minderheit, die Kultur zu verändern, hat die Fähigkeit der Mehrheit, sich an „woke“ Sichtweisen anzupassen, bei weitem übertroffen. Dadurch drohen gewalttätige Gegenreaktionen.
Zweitens mögen Optimisten zwar behaupten, dass der gegenwärtige, historisch befeuerte Kulturkampf im Westen (zumindest bei einigen) eine aufgeklärte moralische Sensibilität widerspiegelt, ist er auch Ausdruck einer dramatischen Machtverschiebung von westlichen hin zu nicht-westlichen Zivilisationen. Die Sieger von gestern haben ihren Glauben verloren, die ehemaligen Verlierer hingegen strotzen angesichts ihrer Geschichte vor voller leidenschaftlicher Überzeugung.
Vor einem Jahrhundert behauptete ein anderer deutscher Philosoph und Historiker, Oswald Spengler, dass sich die westliche Zivilisation in einem unumkehrbaren und endgültigen Niedergang befinde. Kommt man zu einem anderen Ergebnis, wenn man „woke“ ist?
Die englische Fassung des vorliegenden Essays erschien am 22. Januar 2021 unter dem Titel „History at the Barricades“ auf der Website von Project Syndicate. Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn.
Robert Skidelsky ist ein britischer Wirtschaftshistoriker und öffentlicher Intellektueller. Er ist Autor einer dreibändigen, mehrfach prämierten Biografie über John Maynard Keynes. Er war Krzysztof Michalski Fellow 2018 und IHS Fellow 2019 am IWM.