Geschichte ist nicht woanders: Das aktuelle Vermächtnis der Dissidenz

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In ihrem Roman „Stunden aus Blei“ schildert Radka Denemarková das Verschwinden einer jungen Dissidentin im heutigen China, die sich von den Schriften Václav Havels inspirieren ließ. Nach der Publikation des Buches wurde die Autorin vom chinesischen Regime mit einem Einreiseverbot belegt. Blickend auf China, reflektiert sie über das aktuelle Vermächtnis der Dissidenz.

Die Charta 77 war der erste bedeutende Akt der Solidarität im kommunistischen Mittelosteuropa. Sie schuf eine Atmosphäre von Gleichheit, Gemeinschaft und eine Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe. Milan Kunderas a priori skeptische Haltung gegenüber bürgerrechtlichen Aktionen, die keine Aussicht auf Erfolg oder gar Effekt haben, teilten die Initiator:innen der Charta, namentlich Václav Havel, nicht. Sie waren der Ansicht, dass aus Prinzip gehandelt werden muss, wenn Menschen zu Unrecht inhaftiert sind. Als diese aus ihrer Isolation zurückkehrten, sagten sie übereinstimmend, dass solche Petitionen eine große Stütze für sie waren, gaben sie ihnen doch das Gefühl, dass sogar ihr Gefängnisaufenthalt einen Sinn hatte. Mehr als die Leute „draußen“ wussten sie, dass die Bedeutung solcher Interventionen weit über die Frage hinausgeht, ob bzw. wann jemand entlassen wird. Das Wissen, dass jemand auf ihrer Seite war und nicht zögerte, vor dem Hintergrund allgemeiner Apathie und Resignation sich öffentlich ihrer Sache anzunehmen, hatte für sie einen unschätzbaren Wert. Ähnlich haben es später die kurdische Autorin und Politikerin Hevrin Khalaf oder der chinesische Schriftsteller Liu Xiaobo empfunden, und so empfinden es immer noch Leute wie die türkische Autorin Aslı Erdoğan.

Viele sind heute vom chinesischen Modell eines wirtschaftlich erfolgreichen, Wohlstand versprechenden, kapitalistisch-kommunistischen Polizeistaates fasziniert. Doch die chinesische Prosperität dient einem einzigen Zweck: die Demokratie zu umgehen. Die Reformen sind dazu da, den Kommunismus am Leben zu halten. China hat aus dem Zerfall der Sowjetunion und aus der Geschichte Osteuropas eine Lehre gezogen: Die Mehrheit der Bevölkerung in den ehemals kommunistischen Staaten träumte nicht von Demokratie oder Freiheit, sondern von materiellen Gütern. Im Westen lebte es sich besser. In der DDR, einer „harmonischen und stabilisierten“ Gesellschaft – wie heute einige tschechische Politiker China gerne bezeichnen –, war die Opposition zersplittert und unruhig. Anders als die tschechische Charta 77 oder die polnische Solidarność verfügte sie über keine gemeinsame Plattform. Das lag nicht nur an der allgegenwärtigen Staatssicherheit, sondern auch daran, dass die Hauptstadt Ost-Berlin ein wesentlich größeres Angebot an Konsumwaren hatte als die anderen Zentren der kommunistischen Welt. Nur eine Gesellschaft, die ihre Konsument:innen halbwegs zufrieden stellt, kann sich stabilisieren.

Wenn sie heute nach Peking reisen, bringen Politiker:innen oder Diplomat:innen aus Europa die Arbeitslager, die Laogais, nicht ins Gespräch. Täten sie es, würden ihre chinesischen Ansprechpartner:innen wortlos den Raum verlassen – und mit ihnen würde die Hoffnung auf Investitionen in Millionenhöhe verschwinden. Die europäische Diplomatie reißt sich heute wegen einer:s Inhaftierten kein Bein aus. Nicht anders sieht es in Tschechien aus, und das obwohl einst in den westlichen Medien sofort über jede:n Inhaftierte:n des tschechoslowakischen Kommunismus berichtet wurde und westdeutsche Schriftsteller wie Heinrich Böll und Günter Grass konkrete Hilfe organisierten und das Land bereisten.

Heutige Diplomat:innen meinen, die Dissidenz gehe sie nichts an; es sei unhöflich, den Gastgeber zu beleidigen. Nicht einmal aus Protest gegen den Tod des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Liu Xiaobo verlassen die Politiker:innen dieser Welt ihre Delegationen. Geschäft ist Geschäft. Sie machen sich lustig und zitieren Kafka, den sie nicht gelesen haben: Das Böse weiß vom Guten, aber das Gute vom Bösen nicht. Sie sind nach China gefahren, um das Böse kennenzulernen, und halten sich für das Gute.

Niemand ist bereit, eine Petition zu unterschreiben. Im letzten Jahrhundert mögen Petitionen sinnvoll gewesen sein, so das Mantra, heute würden sie jedoch von niemandem gelesen, die Mächtigen würden sich nur unnötig gereizt fühlen, man würde die Autoritäten vor Ort provozieren; eine wirklich unnötige Entblößung und Proteste der Unangepassten würden ohnehin nichts ändern. Da hatte Milan Kundera recht: Dissident:innen haben den Bezug zur Realität verloren. Kein Tibet, keine Dissidenzbewegung, keine uigurische Minderheit, keine Mitglieder der religiös-politischen Bewegung Falun Gong, von denen es mehr gibt als KP-Mitglieder; blind auf beiden Augen.

Bücher von Václav Havel lassen sich im heutigen Peking manchmal auftreiben, mal wieder nicht. Das wechselt ständig. Entscheidet sich die Partei für einen härteren Kurs, landet Havel wieder auf der schwarzen Liste der streng verbotenen Autor:innen. Er ist das Idol der jungen chinesischen Dissidenz, sie beten ihn genauso an wie früher die ostdeutschen und polnischen Intellektuellen, deren Manifeste er inspirierte. Seine Konzepte vom „Leben in der Wahrheit“ und von der „Macht der Machtlosen“, sein Mahnen zu einer neuen nationalen Wiedergeburt und existenziellen Revolution kennt man auf der ganzen Welt. In seiner Person bündelt sich die Hoffnung auch deshalb, weil er bis zum Schluss nicht nur die Geschichte seiner Bücher, sondern auch die seines eigenen Lebens in der Hand behielt, und zwar bis zum letzten absurden Kapitel und der abschließenden Umkehrung: Er wurde Präsident des Landes, das ihn mundtot gemacht, mit Arbeitsverbot belegt und immer wieder ins Gefängnis gebracht hatte.

Die breite Masse in China versteht nicht, wozu Dissident:innen gut sind. Was wollen diese Leute eigentlich? Was haben sie vor? Was vermag ein Hühnerei gegen den Mühlstein? Sie kennen das Wort Dissens nicht, und ähnlich wie die nach Tibet verfrachteten Analphabeten vom Land kennen sie den Kontext nicht und laufen ihrer glücklichen Reisschale hinterher. Sie kriegen zwei. Wer meint, Kommunismus bedeute Gleichheit, sollte nach China kommen. Die Städte Peking und Shanghai vermitteln einen falschen Eindruck. Das Land ist arm, und die Menschen drängen in die Städte. Für die Städter sind Dörfler keine richtigen Menschen. Ist man arm, ist man zu einem guten Drittel schlecht; Reichtum deckt die meisten Fehler.

Für die Kommunisten Chinas hat der Konfuzianismus seine religiöse Kraft verloren. Konfuzianische Werte werden jedoch mit aller Macht gefördert, um die Untergebenen, die das rasante Tempo des Wandels, der neue Materialismus, der Generationenabgrund erschreckt, zu beschwichtigen. Es ist, als hätte man ganze Lebensetappen übersprungen. Die Kommunisten machen sich die konfuzianische Moral zunutze: Autoritätshörigkeit und Familienzusammenhalt als Grundlage der moralischen Werte. Beides wird als Begründung des wirtschaftlichen Aufschwungs herangezogen. Gehorsamkeit dem Herrscher gegenüber – ob er nun Kaiser heißt oder Kommunistische Partei – steckt dem Land in den Knochen. Mehr als zweitausend Jahre wurde China durch Religion und Konfuzius’ Sittenlehre geformt.

Die chinesische Charta 08 ließ sich von der Charta 77 inspirieren, die 1977 in der Tschechoslowakei die Einhaltung der Menschenrechte gefordert hatte. Die Charta 08 wurde im Dezember 2008 in China von über dreihundert Intellektuellen unterschrieben, mindestens ein Regierungsmitglied war auch dabei. Edle Menschen sind eben nie in der Mehrheit. Auch unter den dreitausend Schülern des Konfuzius gab es nur zweiundsiebzig Gelehrte und zwölf Weise. Das zwanzigste Jahrhundert war ein Jahrhundert des Genozids an Charaktermenschen, ein Jahrhundert ermordeter Noblesse – im Krieg oder Todeslagern ausgelöscht, unter Stalin hingerichtet, vertrieben. In China mögen Gespräche freundschaftlich und in geselliger Druschba-Atmosphäre verlaufen und Dissident:innen realitätsfremd sein. Václav Havel ist jedoch wie Gift in die chinesische Gesellschaft eingesickert. Die chinesische Dissidenz hält seinen Namen hoch wie eine Fahne, verkriecht sich mit ihrem tschechischen Pendant in den Untergrund. Ein moralischer Mensch kann sich nicht auf die Rolle des Zuschauers zurückziehen.


Radka Denemarková ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin. 2023 war sie Fellow des IWM.