Horizonte der Demokratie: Offene Lebensformen nach Walt Whitman

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Walt Whitmans Werk bietet viele Anregungen, um über das Versprechen, die Möglichkeiten und die Hemmnisse – kurz: über die Horizonte der Demokratie – nachzudenken. Statt ein weiteres Mal nachzuzeichnen, wie Demokratien sterben, lässt sich mit Whitman fragen, was sie am Leben hält.

Tief steckte die amerikanische Demokratie in der Krise. Die Gesellschaft war in zwei Lager gespalten. Immer weiter öffnete sich die Schere zwischen arm und reich. Etablierte Parteien verschwanden in der Bedeutungslosigkeit, Splitterparteien kamen und gingen, machten Stimmung gegen Einwandererinnen und Einwanderer, gegen „die da oben“, gegen „das System“. Politische Gewalt war allgegenwärtig. Viele raunten, ein Bürgerkrieg stehe bevor.

Es war das Jahr 1854. Das Jahr, in dem ein 35-jähriger Journalist, Schriftsteller, Buchdrucker, Handwerker und Immobilienhändler, kurz: ein vielseitiger, bis dahin unbekannter Mann seine Berufung fand: als Dichter der amerikanischen Demokratie, als Prediger des Glaubens an ihre große Zukunft, als radikaler Neuerfinder moderner Lyrik. Walter Whitman, den viele bald nur noch als Walt kannten, entdeckte in der Krise der Demokratie seine eigene Stimme. Leidenschaftlich erhob er sie für die Demokratie, auch wenn er der Möglichkeit ins Auge sehen musste, dass die noch so junge republikanische Tradition zu scheitern drohte. Whitman gab seine Tätigkeit als Zeitungsredakteur vorübergehend auf und konzentrierte sich zum ersten Mal ganz aufs Dichten, brachte zwölf Gedichte zu Papier, die anders waren als alles, was man sich bis dahin unter Lyrik vorstellte. Freie Verse, kein Reim, kein Metrum. Menschen in allen Lebenslagen, die Ausgestoßenen, Sklaven, Prostituierte, Arbeiterinnen und Arbeiter, ein Epos der Gleichheit.

Heute, 170 Jahre später, ist die Krise der Demokratie zurück. Rechtsextreme Parteien sind auf dem Vormarsch, die Gesellschaft ist zunehmend gespalten. In den USA gilt der Trumpismus, in Ungarn die „illiberale Demokratie“ als normal. In Deutschland verhöhnt die AfD die Demokratie. Die Ungleichheit wächst, die Unzufriedenheit auch, links wie rechts und in der Mitte. Autoritarismus ist das Schlagwort der Stunde. Bürgerkrieg ist wieder vorstellbar, jedenfalls in den USA. Hass prägt die öffentliche Auseinandersetzung.

Die lautstarke Rede vom Niedergang der Demokratie erschwert das Nachdenken darüber, was sie am Leben hält. Überall wächst die Sorge, die Demokratie sei den Herausforderungen unserer Zeit nicht gewachsen. Viele, die die Idee einer Gesellschaft der Freien und Gleichen verteidigen, stehen selbsternannten Systemgegnern gegenüber. Immer selbstbewusster behaupten diese, nicht die Eliten, sondern sie verkörperten den wahren Volkswillen.

Whitman begegnete dem vermeintlich bevorstehenden Ende der Demokratie, indem er eine ursprüngliche Kraft für die Demokratie behauptete. Wer konnte eine solche Naturkraft besser zum Ausdruck bringen als ein Sprachkünstler? Dessen Lyrik Leserinnen und Leser auf der ganzen Welt bis heute mitreißt, weil sie mit den Mitteln der Sprache eine Kraft zu entfalten vermag, die sich kaum anders begreifen lässt denn als Naturgewalt?

Whitman formulierte seine Idee der Demokratie vor allem in der Schrift Democratic Vistas. „Glaubst auch du, mein Freund, Demokratie sei nur etwas für Wahlen, für Politik oder den Namen einer Partei?“, fragte er 1871: „Ich sage, dass die Demokratie nur in der gesamten Lebensführung, in den höchsten Formen der Beziehungen von Menschen wachsen, erblühen und Früchte tragen kann, im Glauben, in der Religion, der Literatur, den Colleges und Schulen – in allem öffentlichen und privaten Leben, auch in der Armee und in der Marine.“

Für Whitman ist die Demokratie auch eine Lebensform. Sie bezeichnet mehr als ein politisches System, es geht nicht nur darum, angemessene Verfahren und Regeln kollektiver Selbstregierung zu finden. Um die Demokratie im Alltag zu verankern, ihr den Zuspruch zu sichern, den sie zum Überleben braucht, bedarf es eines umfassenderen Verständnisses von Demokratie: Demokratie bezeichnet eine Form des Zusammenlebens – des Streitens und Aushandelns, des Protestierens und miteinander Redens. All das bedeutet, dass sie im alltäglichen Zusammenleben gründet. „Die neue Gestalt der Demokratie“, schreibt Whitman in Democratic Vistas, sei mit Leben zu füllen, sie müsse „fest und warm in den Herzen, in den Gefühlen und im Glauben der Menschen verwurzelt“ sein.

Wenn Demokratie auch eine Lebensform ist, dann erweitert sich das Feld der Fragen: Wie gehen wir miteinander um, wenn wir als Fremde aufeinandertreffen? Wie stellen wir uns Gesellschaft und Gemeinschaft vor? Welche Formen des Ausdrucks finden wir, um Freiheit und Gleichheit erfahrbar zu machen? Oder, umgekehrt betrachtet: Wie werden wir unserem Wunsch nach Freiheit und Gleichheit gerecht angesichts der Tatsache, dass wir diese Ideale oftmals auf verstörende Art und Weise verfehlen?

Streit ist nicht alles. Die Demokratie wird es schwerhaben, wenn die Menschen keinen Begriff davon haben, was sie verbindet. Demokratie setzt Formen des Zusammenlebens voraus, die im praktischen Miteinander begreifbar machen, was es heißt, eine Stimme zu haben, sich die eigene Gleichwertigkeit anzumaßen und diese anderen nicht nur zuzugestehen, sondern zuzumuten. Einige der berühmtesten Zeilen aus Song of Myself sind diesem Gedanken gewidmet: „Ich spreche die ewige Losung … ich gebe das Zeichen der Demokratie; / Bei Gott! Ich nehme nichts für mich was nicht alle genauso haben können unter gleichen Bedingungen.“

Bei Whitman wird die Demokratie zur Lebensform, indem Gleichheit und Freiheit in Erscheinung treten – mögen sie der politischen Realität auch noch so widersprechen. Er begründet die Gleichheit damit, dass wir alle teilhaben an einer geistigen, spirituellen Sphäre, die er „Seele“ nennt. Doch Whitman ist kein säkularer Theologe, der uns eine „spirituelle Demokratie“ verordnen will. Für sein Postulat menschlicher Gleichheit führt er noch einen handfesteren Grund als die Seele an: unseren Körper. Unsere Körperlichkeit verbürgt nicht nur Gleichheit, sondern auch Veränderbarkeit. Die Formen des demokratischen Zusammenlebens müssen offen sein wie das Leben selbst.

Wer sich auf Whitman beruft, muss im Blick behalten, dass er häufig scheiterte. Dass Kultur die politische Spaltung verhindern könne, diese Hoffnung zerschlug sich bereits, als Leaves of Grass 1855 in Brooklyn erschien. Das Buch nahm kaum jemand wahr. Stattdessen schritt die Zerrüttung der amerikanischen Nation weiter voran. In unserem Zeitalter, in dem die Kultur selbst zum Ort politischer Kämpfe wird, wirkt es naiv, auf die heilende Kraft der Kunst zu setzen, auf ihre Fähigkeit, gesellschaftliche Konflikte sinnlich erfahrbar zu machen. Whitman mag sich kaum als Säulenheiliger der Demokratie eignen. Doch bietet sein Werk viele Anregungen, um über das Versprechen, die Möglichkeiten und die Hemmnisse – kurz: über die Horizonte der Demokratie – nachzudenken.

Mit Whitman gewinnen wir ein Gespür dafür zurück, wie fragil die Demokratie ist. Statt ein weiteres Mal nachzuzeichnen, wie Demokratien sterben, lässt sich mit Whitman fragen, was sie am Leben hält. Er erinnert daran, dass die Demokratie ohne sorgfältige Pflege „in der Luft“ hängt, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde vor zwanzig Jahren im Sinne Whitmans betonte. Doch was genau ist zu pflegen? Die kulturellen Voraussetzungen der Demokratie hat Böckenförde auf den Begriff des „demokratischen Ethos“ gebracht. Der Staatsrechtler versteht hierunter Umgangsformen, deren Ausgangspunkt die individuelle Freiheit ist. Der Whitman-Interpret George Kateb hat hierfür den Begriff der „demokratischen Individualität“ geprägt. Sie sei der Grundstein einer demokratischen Kultur. Deren Merkmale seien Toleranz, Gastfreundschaft und das „Verlangen nach Bewegung, dem Neuen, der Vermischung und der Unreinheit“.

Der demokratische Staat kann seine kulturellen Voraussetzungen schützen, indem er Lebensformen fördert, welche die Chance bieten, Gleichheit und Freiheit zu begreifen und zu erfahren. Die Demokratie lebt davon, dass die Bürgerinnen und Bürger sie in ihrem Alltag tragen, gestalten und erneuern. Damit der Streit nicht im Bürgerkrieg endet, braucht die Demokratie jene Orte, die allen die Gelegenheit bieten, sich wechselseitig als frei und gleich anzuerkennen. Darauf zielt Whitmans Frage nach der Bedeutung von sinnlichen Erfahrungen für die Demokratie. Die Verfassungsordnung mag noch so gelungen sein, ohne die Möglichkeit demokratischer Erfahrungen geht sie ein.


Till van Rahden ist Historiker und lehrt Deutschland- und Europastudien an der Université de Montréal. 2016 und 20121 war er Fellow am IWM.

Johannes Völz ist Heisenberg-Professor für Amerikanistik mit Schwerpunkt „Demokratie und Ästhetik“ an der Goethe-Universität Frankfurt. 2022 war er Visiting Fellow am IWM.

Das Buch Horizonte der Demokratie: Offene Lebensformen nach Walt Whitman, ist 2024 bei transcript Verlag erschienen.