Der Populismus der Gegenwart ist ein Wesen mit zwei Gesichtern. Das sichtbare der beiden offenbart seinen autoritären Charakter. Schwerer zu erkennen ist das zweite: aus ihm ertönt ein Versprechen der Demokratie. Den Erfolg der Populisten versteht nur, wer das Zusammenwirken beider Seiten betrachtet.
Kein anderer Satz Donald Trumps aus der zweiten TV-Debatte gegen Hillary Clinton im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 blieb haften wie dieser: „Das war ‚locker room talk‘!“ Sprüche aus der Umkleide also. Trump benutzte den Ausdruck gleich fünf Mal, in ein und derselben Antwort. Ein Meister der Rhetorik mag Trump nicht sein, doch er weiß um die Kraft der Wiederholung. Das allein erklärt allerdings noch nicht, wie es Trump gelang, mithilfe dieser Redewendung aus einem vermeintlichen Schlamassel politisches Kapital zu schlagen.
Zur Erinnerung: Kurz zuvor hatte die Washington Post einen Tonbandmitschnitt aus dem Jahr 2005 veröffentlicht – das so genannte „Access Hollywood Tape“ –, auf dem Trump im feixenden Gespräch mit Fernsehmoderator Billy Bush damit geprahlt hatte, dass er sich als Star gegenüber Frauen alles erlauben könne – auch das Begrabschen ihrer Genitalien. Die Demokraten frohlockten schon, dass sich Trump von diesem Schlag nicht erholen werde. In der Tat sah es zunächst so aus, als könnte die unbekümmerte Misogynie, mit der sich Trump und Bush gegenseitig zu gefallen versuchten, Trump ernsthafte Probleme bereiten. Namhafte republikanische Abgeordnete, Mitglieder des Senats und konservative Meinungsmacher sagten sich – vorübergehend – von ihm los. Doch bei seinen Wählern/-innen kam das Video keineswegs schlecht an. Und erst recht nicht die Erklärung, es sei doch alles nur „locker room talk“ gewesen. Mit dieser Formulierung gelang seinem Team nicht weniger als ein Kunststück des Spin. Denn dieser Ausdruck berührte etwas tief im Inneren des modernen autoritären Populismus: sein demokratisches Versprechen.
Trumps Bild des „locker room talk“ deutete den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit zu einer demokratischen Form der Rede um. Ein „locker room“ – die Umkleidekabine in der spezifischen Bedeutung, die ihr in der amerikanischen Kultur zukommt – lässt sich als Ort der „Informalisierung“ beschreiben. Die Kräfte der Informalisierung machen die Umkleidekabine zu einem von Gleichheit geprägten Ort, an dem Männer nach dem Sport zusammentreffen. Statusunterschiede werden symbolisch fallen gelassen wie die durchschwitzte Kleidung: Die Männer sind nackt, sie duschen miteinander. Den Verdacht der sexuellen Aufladung ihrer Interaktion wehren sie ab – gemäß der klassischen Definition von Homosozialität –, indem sie sich im Gespräch über Frauen zusammenrotten. Auch das gemeinsame Begehren wird zum Zeichen ihrer Gleichheit (im „locker room“ offen queer zu sein, ist somit ein heikles Unterfangen, denn es durchlöchert die Fiktion dieser Gleichheit). Die Logik der Informalisierung geht aber noch weiter: hier werden Dinge gesagt, die im Alltag geahndet werden. Die ungeschriebenen Gesetze, an die man sich in der Öffentlichkeit zu halten hat, sind außer Kraft gesetzt. Es wird geprahlt und geflucht. Frauen werden verdinglicht. So zumindest lautet die kulturelle Vorstellung der Umkleide in den USA.
Informalisierung und Frauenfeindlichkeit schließen sich im „locker room“ also nicht etwa aus. Die Informalisierung ist ein Prozess der Angleichung, der „funktionalen Demokratisierung“. Rede- und Verhaltensweisen, die in der sozialen Hierarchie weit unten stehen – das Unzulässige, das Nicht-Präsentable – werden auf diesem Wege akzeptabel. Im Kontext der Homosozialität heißt das: es reicht nicht, über Frauen zu sprechen. Erst, wenn es unverschämt, abschätzig und respektlos wird, wird aus dem „locker room talk“ eine Sprache der Homo-Sozialität im doppelten – lateinischen und griechischen – Sinne: die der Männer und der Gleichen.
Trump machte dem Wahlvolk mit dem Bild der Umkleide-Sprache ein reizvolles Angebot. Es wurde eingeladen, mit ihm gemeinsam auf dem Kipppunkt zwischen „Demokratisierung und Entdemokratisierung“ (Philip Manow) zu balancieren. Aller offensichtlichen Misogynie zum Trotz zog der Zugang zu diesem Kipppunkt offensichtlich auch Frauen an. Denn an ihm wird die Informalisierung, die den Populismus antreibt, in ihrer Janusgesichtigkeit erfahrbar: demokratische Enthierarchisierung trifft auf autoritäre Machtausübung. Das Versprechen der Demokratie – mit der Anpassung nach unten soll endlich das „wahre Volk“ zu seinem Recht kommen – schließt sich kurz mit einer Sehnsucht nach der Gewalt der Macht.
Damit bietet sich eine mögliche Erklärung dafür an, warum Autoritarismus und Frauenfeindlichkeit so oft verbunden auftreten. Dass sich autoritäre Herrscher – und nach Autoritarismus strebende Populisten – durch Misogynie hervortun, hat die Historikerin Ruth Ben-Ghiat in ihrem Buch Strongmen: Mussolini to the Present jüngst ausführlich aufgefächert. Das regelrechte Konsumieren von Frauen ist für diesen Herrschertypus nicht nur für die Imagepflege von Bedeutung – Virilität wird hier zum Zeichen politischer Omnipotenz –, sondern es schafft auch ein Netz von Abhängigkeiten, das der Absicherung und dem Ausbau persönlicher Macht dient. Aus der Perspektive der Informalisierung tritt eine andere Dimension hinzu: die der politischen Emotionen.
Um dies zu erläutern, muss der Begriff der Informalisierung etwas genauer unter die Lupe genommen werden. Er stammt ursprünglich vom Soziologen Norbert Elias und seinem Schüler Cas Wouters. Sie beschrieben damit einen Prozess der „funktionalen Demokratisierung“, der sich im Verlaufe des 20. Jahrhunderts, besonders ab den 1960er Jahren, in vielen westeuropäischen Gesellschaften beobachten ließ. Die Statusunterschiede zwischen den gesellschaftlichen Schichten – Elias nannte sie „Etablierte“ und „Außenseiter“ – glichen sich demnach schrittweise an. Daraus leiteten sich Veränderungen in den Normen des Verhaltens ab. Die strikten Codes der dominanten Schichten – von Kleidung über Sprache bis hin zu Körperhaltung – verloren an gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Im Gegenzug gewannen die Codes der „Außenseiter“ an Gewicht. Setzte sich diese Machtverschiebung durch, entwickelte sich eine größere Vielfalt möglicher Verhaltensformen, die weniger streng reguliert war als zuvor. Verhaltensnormen waren nicht mehr explizit, sondern implizit und situativ. Das bedeutete für Individuen zwar einerseits gefühlte neue Freiheiten, verlangte ihnen aber andererseits auch mehr ab. Statt sich an einem verbindlichen Regelwerk orientieren zu können, mussten sie zunehmend selbst abschätzen, wie sie sich zu verhalten hatten. Die „permissive Gesellschaft“ veranschaulicht dies: informelle Kleidung wurde selbst bei formellen Anlässen akzeptabel (Joschka Fischer reizte diesen Trend aus, als er sich 1985 in Jeans und Turnschuhen zum Minister vereidigen ließ), förmliche Anreden und Grußformeln wurden aufgeweicht („Dear all“) und in der Öffentlichkeit konnten selbst vermeintlich harte Männer Emotionen zeigen.
Ganz so reibungslos – das sahen auch Elias und Wouters – geht der Prozess der „funktionalen Demokratisierung“ mitsamt der kulturellen Informalisierung aber meist nicht vonstatten. Mächtige Gruppen (Elias’ „Etablierte“) geben ihre Vormachtstellung in der Regel nicht einfach so auf. Elias arbeitete zwei Formen der Abwehrreaktion heraus: die in ihrer Führungsrolle bedrohten Schichten können versuchen, das Prestige ihrer eigenen Verhaltenscodes zu verteidigen und den Emporkömmlingen samt ihren kulturellen Ausdrucksweisen den Wert absprechen. Hilft dies nicht weiter, können sie versuchen, die neuen Machtverhältnisse auszublenden und sich in eine Fantasiewelt begeben. Charakteristisch für den aktuellen Populismus ist aber eine dritte Art der Reaktion, die Elias und Wouters nicht entwickelt haben: Als Reaktion auf ihren relativen Statusverlust imaginieren sich die – de facto immer noch sehr mächtigen – Etablierten als unterlegene Opfer. Sie wehren den Aufstieg der Außenseiter ab, als hätte der Machtwechsel längst stattgefunden: die Etablierten sind in dieser Wahrnehmung schon längst zu unterlegenen Außenseitern geworden. Ihren Kampf führen sie im Namen des ausgeschlossenen Demos, und zwar ohne Hemmung, vor gewaltvoller Sprache – und im Zweifelsfall gewaltvollen Taten – Halt zu machen. Informalisierung ist hier nicht mehr nur Flexibilisierung von Stilrepertoires, sondern eine Enthemmung der Affekte, eine Entladung des Ressentiments.
Trumps Beteuerung, es habe sich um „locker room talk“ gehandelt, ist insofern bei näherem Hinsehen keine Beschwichtigung der Vorwürfe von Gewalttätigkeit. Sondern ihre Übertragung in die demokratische Imagination.
Johannes Völz ist Heisenberg-Professor für Amerikanistik mit Schwerpunkt „Demokratie und Ästhetik“ an der Goethe-Universität Frankfurt. Er ist von März bis Juni 2022 Visiting Fellow am IWM. Gegenwärtig schreibt er ein Buch mit dem Titel Informalization: The Aesthetics of Populism.