In den aktuellen Auseinandersetzungen um den russischen Überfall auf die Ukraine zeigt sich, wie illusionär der Glaube war, dass der Krieg zu den vergangenen Epochen der Menschheit zählt. In der Philosophie war der Krieg auf durchaus kontroverse Weise immer präsent, wie diese kurze Zusammenschau zeigt.
Seit den Anfängen der Philosophie war der Krieg ein zentraler Gegenstand ihrer Reflexion. Weite Teile der vorplatonischen Philosophie sehen den Krieg als ein natürlich gegebenes und notwendiges Faktum des menschlichen Miteinanders in der Gesellschaft. Das bekannte (und dunkle) Diktum des Heraklit sagt sogar, der Krieg (Polemos) sei „der Vater aller Dinge“, und es sei der Streit, durch den alles entstehe.
Platon erläutert in den Nomoi, dass sich die Gesetzgebung am Frieden, nicht am Krieg, orientieren soll, weil die Gesetze auf das Beste hinzielen sollen und der Friede eben diesen besten Zustand für die Bürger darstellt (Nomoi 628 c–e). Dennoch werden Training und Vorbereitungen zum Krieg, wie in der Politeia geschildert, als unabänderliche Notwendigkeit für die Gewährleistung der Sicherheit der Polis bestimmt.
Mit der Neuzeit und ihren Staatenkriegen verändert sich auch der Blick auf den Krieg und weitet sich auf das Weltgeschichtliche. Kants programmatische Schrift Zum Ewigen Frieden entwirft das Modell eines Friedensvertrags, mit dem die Grundsätze seiner praktischen Philosophie auf die Politik und das Miteinander der Staaten gewendet werden sollen. Die Notwendigkeit des Vertrages beruht jedoch darauf, dass der Friede gerade nicht als natürlicher Zustand der Menschheit angesetzt wird, so dass die Überwindung des Krieges vertraglich gestiftet werden muss. Kants Geschichtsphilosophie bleibt dem moralischen Subjekt verpflichtet und unterstreicht in der kritischen Idee eines „ewigen Friedens“ die normativen und regulativen Implikationen dieses Bestrebens.
Entscheidend und diskursprägend wurde aber darüber hinaus in der klassischen deutschen Philosophie vor allem Hegels Auseinandersetzung mit dem Topos im Rahmen seines dialektischen Denkmodells: Darin wird dem Krieg zwar letztlich keine wesentliche Rolle im ‚Weltgericht‘ der Geschichte zugesprochen, seine vermittelnde (bzw. schiedsrichterliche) Rolle, die Kants Projekt eines „ewigen Friedens“ untergräbt, jedoch eindeutig affirmiert. Die „höhere Bedeutung“ des Krieges beruht auf seinem Vermögen, den „faulen Stillstand“, in den ein ewiger Friede die Welt versetzen würde, zu erschüttern. Hegels Geschichtsphilosophie betrachtet Kriege somit als notwendige und sinnvolle Entwicklungsschritte. Der Krieg erfüllt diese weltgeschichtliche Funktion, insofern durch ihn „die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen das Festwerden der endlichen Bestimmtheiten erhalten wird, wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt…“ Ein dauernder oder gar ewiger Friede wäre diesem Verständnis nach ein Stillstand, mit dem der Fortgang der Geschichte erlahmte und die Freiheit geopfert würde. Hierin spricht sich grundsätzlich die leitende Überzeugung aus, dass Krieg nicht einfach irrational ist, sondern als wesentliche Bestimmung der Wirklichkeit zu gelten hat und ein Prinzip des historischen Fortschritts verkörpert. Diese insbesondere von der klassischen deutschen Philosophie nachhaltig artikulierte Idee bleibt ein polemischer Stachel für jede pazifistische Welthaltung.
Ein ähnlicher Ekel vor der Fäulnis eines als falsch und dekadent empfundenen europäischen Friedens war es auch, der vor mehr als hundert Jahren die Völker freudig gestimmt in die Abgründe des Ersten Weltkriegs trieb. Im Rückblick auf dieses europäische Fanal, die „Urkatastrophe“ Europas, wirkt die bellizistische Grundhaltung von Philosophen, Literaten und Künstlern dieser Zeit bis heute verstörend. Ihre Hoffnungen und Sehnsüchte richteten sich massiv auf die erlösende Kraft des Krieges. Geradezu paradigmatisch schrieb etwa der Künstler Franz Marc: „Die Welt will rein werden, sie will den Krieg. (…) Um Reinigung wird der Krieg geführt und das kranke Blut vergossen.“
Der Philosoph Max Scheler publizierte im Jahr 1915 eine Schrift über den „Genius des Krieges“, in der er einerseits die Auffassung vertrat, dass der Krieg ein Resultat und eine Verfallsform des Kapitalismus sei – eine Auffassung, die auch im linken politischen Spektrum großen Anklang findet –, andererseits den Krieg zu einer Art Wiedergeburt und geistigen Reinigung des Menschen stilisierte. Bezeichnenderweise stellt er seiner Schrift ein Motto aus der Zeit der klassischen deutschen Philosophie voran: „Aber der Krieg auch hat seine Ehre, der Beweger des Menschengeschicks“ – ein Zitat Friedrich Schillers, in dem sich deutlich die Ansicht vom Krieg als Relais des weltgeschichtlichen Fortschritts spiegelt.
Nach dem Ende des realpolitischen Krieges änderte Scheler seine weltanschaulichen Auffassungen zum vermeintlichen „Genius“ des Krieges grundsätzlich. Wie für ihn und viele seiner Generation war die traumatisierende Erfahrung des Krieges ein Erlebnis, das alles veränderte und bei europäischen Intellektuellen zu einem Umdenken und einer grundlegenden Neuorientierung über Sinn und Ziel von Kriegen führte. Neben einer dezidiert pazifistischen Haltung, die Kriege nur als Einbruch von destruktiver Gewalt sehen kann und ihnen grundsätzlich jede Bedeutung, jeden Sinn und Zweck für die soziale Welt abspricht, gab es aber auch die verbreitete Überzeugung, dass die Erfahrung des Krieges etwas Wesentliches über menschliche Existenz mitzuteilen vermag – als unverstellter Blick auf das „nackte Leben“, Überwindung der Dekadenz etc.
Was solche vermeintlich metaphysisch-existentialen Potentiale des Krieges jedoch fundamental in Frage stellte, war dann in weiterer geschichtlicher Folge gerade die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, der mit seiner Maschinerie des Tötens, des ethnisch begründeten Massenmordes und der Vernichtungslager jede Frage nach einem „Sinn“ dieses Geschehens wie Spott erscheinen ließ. Im Anschluss an das berühmte Diktum des preußischen Generals Clausewitz „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ herrschte lange eine Auslegungstendenz vor, den Krieg als politische Möglichkeit zu denken. Diese Möglichkeit schien nun ausgeschlossen – einhergehend damit auch das Bestreben, dem Krieg einen „Sinn“ abzuringen. Die Vorstellung vom konventionellen Krieg im Sinne einer durch das Völkerrecht zu hegenden politischen Option, also ein grundsätzlich begrenzbares Phänomen, das etwa noch die klassische deutsche Philosophie im Auge hatte, wird abgelöst durch die Konfrontation mit etwas, das man bezeichnenderweise „Weltkrieg“ nennt. Das Überschießende und Neue an diesem Phänomen besteht nicht nur darin, dass die Bedrohung des Krieges sich in einem potentiell globalen Maßstab entfaltet, sondern in der Totalität, mit der es in alle menschlichen Lebenszusammenhänge eingreift und diese im Zeichen des Krieges reorganisiert. Der Krieg wird zu einem ontologischen Prozess, der auch die Reflexion selbst bestimmt: eine Allpräsenz der Gewalt, mit der die grundlegende Unterscheidung von Krieg und Frieden unterlaufen wird. Jan Patočka hat dem im Titel seines sechsten und letzten Ketzerischen Essays Ausdruck verliehen, wenn er den Krieg zur wesentlichen Instanz eines ganzen Jahrhunderts macht: „Die Kriege des 20. Jahrhunderts und das 20. Jahrhundert als Krieg“.
Die Sinnlosigkeit des kriegerischen Treibens im 20. Jahrhundert war es, die viele an eine neue Sinngebung glauben ließ: der Krieg gegen den Krieg als beinahe eschatologische Verheißung einer neuen Menschheit und eines neuen Lebens. Es gehört zu den verstörenden wie auch hellsichtigen Momenten von Patočkas Denken, dass er diese weltliche Eschatologie für eine neue Ideologie und unzureichende Verflachung hält. Die politische Wirklichkeit unserer Gegenwart zeugt davon.
Franz Marc Schriften, hg. v. Klaus Lankheit, Köln 1978, 163f.
Scheler, Max: Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Leipzig: Verlag der Weißen Bücher 1915.
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Buch I, Kap. 1, Abs. 24.
Ludger Hagedorn ist Philosoph und IWM Permanent Fellow.