Sexarbeiterinnen gehören weltweit zu den am stärksten benachteiligten Randgruppen. Die Genossenschaft von Sexarbeiterinnen Usha, die vor knapp dreißig Jahren in Kolkata ins Leben gerufen wurde, ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie der Aufbau von Solidaritätsstrukturen zu Empowerment führen kann.
Es war der 21. Juni 1995, als die Usha Multipurpose Cooperative and Credit Society (Usha), eine Genossenschaft von Sexarbeiterinnen, mit dreizehn Mitgliedern ihre Tätigkeit in Kokata aufnahm. Die Initiative zur Gründung einer Genossenschaft ging auf eine Gruppe von Ärzten/-innen, Mitarbeitern/-iinnen des öffentlichen Gesundheitswesens und einigen Leuten aus der Verwaltung zurück, die in direkter Verbindung mit der Abteilung für Gesundheit und Soziales der Regierung von Westbengalen standen. Die Initiative sollte für soziale Gerechtigkeit für Sexarbeiterinnen sorgen, eine Gruppe von Menschen, die in den offiziellen Dokumenten der frühen britischen Kolonialregierung wie auch der demokratisch gewählten Regierungen nach der Unabhängigkeit als social outcasts oder sogar als dangerous outcasts bezeichnet werden.
Laut dem Register des Durbar Mahila Samanwaya Committee (DMSC), eines von Sexarbeiterinnen geführten Interessenverbandes, beläuft sich ihre Gesamtzahl in Kolkata auf 12 000. Sie leben entweder dauerhaft in den Rotlichtvierteln oder kommen von außerhalb, um dort ihrer Arbeit nachzugehen. Im ganzen Bundesstaat Westbengalen wird ihre Zahl auf 50 000 bis 60 000 geschätzt.
Die Personen, die diesen Beruf ausüben, werden entweder aus Bangladesch oder Nepal verschleppt oder sind infolge absoluter Armut und Nahrungsmittelknappheit aus den abgelegenen Dörfern Westbengalens und Bihars zugewandert. Die meisten von ihnen haben keine gültigen Identitätsdokumente, weshalb sie auch kein Bankkonto eröffnen können. Früher hinterlegten sie ihre Ersparnisse in der Regel entweder bei den Agenten/-innen (dalals), die die Sexarbeiterinnen rekrutieren und Kunden akquirieren, oder den Vermieterinnen (malkin), die ihnen in Sonagachi und anderen Rotlichtvierteln Zimmer zur Verfügung stellen, und wurden von ihnen ausgebeutet. Um Geld an ihre Familien zu schicken oder Medikamente zu kaufen, mussten sie am Ende des Monats bei privaten Geldverleihern Kredite aufnehmen. Wegen ihrer Verbindungen zu lokalen Politikern konnten diese wiederum von den Sexarbeiterinnen einen sehr hohen Zinssatz verlangen, ohne Gefahr zu laufen, dafür belangt zu werden. Aus Angst, als „illegale Migrantinnen“ identifiziert zu werden, wandten sich die Sexarbeiterinnen nicht an die Polizei. Manchmal verlangten die Geldverleiher sogar „kostenlose Sexdienste“ für sie oder die lokalen Politiker, mit denen sie in Verbindung standen.
Eine Gruppe von Ärzten/-innen, involviert im HIV/AIDS-Präventionsprogramm der Regierung, ergriffen die Initiative, die Sexarbeiterinnen aufzuklären, und ermutigten diese auch zur Gründung einer Organisation, um die Solidarität unter ihnen zu fördern. Trotz der Vorbehalte von lokalen Politikern/-innen, Mitgliedern der Stadtverwaltung, Polizei- und Regierungsbeamten/-innen sowie einigen Nichtregierungsorganisationen wurde der DMSC im März 1995 ins Leben gerufen. Sie ließen sich von pensionierten Beamten/-innen der Regierungsabteilung für Genossenschaften schulen und beantragten die Gründung einer Genossenschaft. Gegen diese Forderung wurden mehrere Klagen eingereicht. Einwände kamen nicht nur von den lokalen Geldverleihern und Politikern, die aus der prekären Lage der Sexarbeiterinnen Vorteile zogen, sondern auch von einem Teil der Presse und sozialen Aktivisten/-innen.
Nach vielen Pannen und technischen Schwierigkeiten erhielt die Genossenschaft jedoch schließlich die Genehmigung der zuständigen Regierungsstelle und nahm ihre Arbeit auf. Nach der letzten Erhebung, die kurz vor der Pandemie durchgeführt wurde, zählt die Genossenschaft dreißigtausend Sexarbeiterinnen zu ihren Mitgliedern und erzielt einen Jahresumsatz von rund 200 Millionen Rupien. Neben dem Bankgeschäft betreibt die Genossenschaft auch Billigläden und einige Selbsthilfegruppen für Frauen. Ebenso eine kleine Fabrik, in der Damenbinden für arme und marginalisierte Frauen hergestellt werden, die dann über die Genossenschaftsläden vertrieben werden. Für die Kinder von Sexarbeiterinnen wurde ein Schulinternat gebaut. Usha organisierte mehrere Schulungen und Aufklärungsprogramme in den Rotlichtvierteln in ganz Indien. Ihre Funktionäre/-innen ermutigten Sexarbeiterinnen in anderen Teilen Indiens zur Gründung von Genossenschaften. Sie organisieren auch Schulungen für Frauen anderer marginaler Gemeinschaften.
Neben der Gewährleistung sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit leistete Usha einen entscheidenden Beitrag zur Festigung des Status der Sexarbeiterinnen als Staatsbürgerinnen. Aus verschiedenen abgelegenen Gebieten oder grenznahen Dörfern zugewandert oder zwangsumgesiedelt haben die meisten von ihnen keine Chance, in ihrer Heimat Akzeptanz zu finden. Transgender-Personen gegenüber ist die Ablehnung sogar noch größer. Mit der Unterstützung mehrerer Rechtsorganisationen startete Usha eine Bewegung, damit ihre Mitglieder als Bürgerinnen des Staates anerkannt werden. Dazu wurden beim Obersten Gerichtshof mehrere Petitionen eingebracht. Infolgedessen erklärten sich die Regierungsabteilungen für Lebensmittelversorgung und Genossenschaften in Westbengalen bereit, das Sparbuch als Identitätsnachweis für die Beantragung von Darlehen bei allen Banken, die der Abteilung für Genossenschaften unterstehen, anzuerkennen. Seit 1996 haben sie Anspruch auf Nahrungsmittel, Speiseöl und Kerosin im Rahmen öffentlicher Verteilungsprogramme. Bald darauf erkannten die staatlichen Banken und Versicherungsagenturen das Usha-Sparbuch als Identitätsnachweis sowie als Adressnachweis an und erlaubten den Inhaberinnen, ein Konto bei den staatlichen Banken zu eröffnen.
Ein durchschlagender Erfolg war jedoch die Entscheidung der indischen Wahlkommission, das Sparbuch der Genossenschaft ab den Parlamentswahlen 2001 als primäres Identitätsdokument für den Erwerb des Wahlrechts anzuerkennen. Dadurch wurden die Mitglieder der Genossenschaft in den demokratischen Prozess als Bürgerinnen integriert. Das demokratische Bewusstsein hat sie selbstbewusster gemacht und sie dazu inspiriert, ein internes Wahlgremium zu errichten, das die Vorstandsmitglieder von DMSC und Usha wählt. Dieser Prozess der Demokratieausübung in ihren Institutionen hat die Solidarität unter ihnen erheblich gestärkt.
Dieser Sinn für Solidarität hat die Sexarbeiterinnen sogar während der Pandemie gerettet. Obwohl sie in den letzten Jahren und nicht zuletzt nach der Demonetarisierung im Jahr 2016 mit einer akuten Finanzkrise konfrontiert waren, startete Usha mit der Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen in fast allen Rotlichtvierteln ein Hilfsprogramm. Die Genossenschaft reichte eine Petition beim Obersten Gerichtshof Indiens ein, um die Versorgung der Sexarbeiterinnen mit Lebensmitteln und angemessenen Gesundheitsdiensten sicherzustellen. Aufgrund dieser Initiative wies der Oberste Gerichtshof alle Bundesstaaten und Unionsterritorien an, die von der Nationalen AIDS-Kontrollorganisation (NACO) identifizierten Sexarbeiterinnen direkt mit Rationen zu versorgen und ihnen baldmöglichst Lebensmittelkarten auszustellen. Zudem appellierten DMSC und Usha an die Zivilgesellschaft und die Regierung, Geld an einen für die Sexarbeiterinnen und ihre Kinder eingerichteten Hilfsfonds zu spenden. Mit diesem Geld war DMSC in der Lage, bis Ende März 2022 in jedem Rotlichtviertel Hilfe anzubieten.
Aber die Genossenschaft hat unter der Pandemie auch stark gelitten. Die jährlichen Einlagen sind in den letzten zwei Jahren beträchtlich gesunken. Das hat den Jahresumsatz der Bank stark beeinträchtigt und sie gezwungen, einige ihrer Anlagegüter zu verkaufen. Trotz dieser Probleme bleibt Usha nach wie vor eine wichtige Stütze für die am stärksten benachteiligten Migrantengemeinschaften, damit diese Staatsbürgerschaftsrechte und finanzielle Sicherheit erhalten. Als Verkörperung einer sozioökonomischen Alternative stellt diese Solidaritätsinitiative eine Herausforderung für die herrschende neoliberale Governance dar.
Übersetzung aus dem Englischen von Evangelos Karagiannis
Rajat Kanti Sur ist Forscher der Calcutta Research Group, Kolkata, Indien. 2022 war er Junior Visiting Fellow am IWM.