Staatenlos und entrechtet

IWMPost Article

Obwohl internationales Recht sie zu beseitigen sucht, nimmt Staatenlosigkeit weltweit zu. Durch prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse gekennzeichnet, ist sie das Produkt einer exkludierenden Staatbürgerschaftspolitik. Das Unvermögen, Recht für sich geltend zu machen, bildet den Kern der Staatenlosigkeit.

Das Phänomen der Staatenlosigkeit hat mittlerweile globale Ausmaße angenommen. Staaten und Staatsbürgerschaftspolitiken sehen sich heute einer großen Zahl von Menschen gegenüber, die an keinem Ort zuhause sind. Zu ihnen zählen Flüchtlinge, Asylbewerber sowie zahlreiche illegal arbeitende Menschen, die sich über Grenzen hinweg bewegen. Diese Bevölkerungsströme sind zu einem großen Teil der logistischen Neuausrichtung der globalen neoliberalen Wirtschaft geschuldet, die auf eingewanderte – legale wie illegale – Arbeitskräfte angewiesen ist. Obwohl „sichere und geordnete Migration“ eine zentrale Forderung des UNO-Migrationspakts ist, bringt die Entwicklung in den Bereichen Infrastruktur und Logistik eine Ausweitung ungeordneter Arbeitsmigration nach sich, im Zuge derer ein beträchtlicher Teil der Menschen aus der Legalität gedrängt wird. Dauerhaftes displacement und anhaltende Illegalität führen zu Staatenlosigkeit.

Während für den Liberalismus und die klassische bürgerliche Demokratie alle Menschen de iure Subjekte eines Gemeinwesens und damit legale Wirtschaftssubjekte sein sollen, bringt die neoliberale Wirtschaft also Subjekte jenseits des Rechts hervor; Subjekte, die in der Wirtschaft sichtbar, in der Politik jedoch unsichtbar sind; Subjekte, die nicht vertreten werden können und denen es nicht möglich ist, sich auf Recht zu berufen.

Trotz der jüngsten Bemühungen des UNHCR in Form des Globalen Aktionsplans zur Beendigung der Staatenlosigkeit wird es immer deutlicher, dass sich das Problem der Staatenlosigkeit mit dem gängigen rechts- und politikwissenschaftlichen Verständnis nicht in den Griff bekommen lässt. Die Ausmaße, die die Staatenlosigkeit in der Gegenwart angenommen hat, deuten auf eine gravierende Schwäche des internationalen Rechts hin, dem Problem angemessen zu begegnen. Statt zu verschwinden, breitet es sich weiter aus.

Das gängige internationale Rechtsverständnis von Staatenlosigkeit vermag dieses wachsende Phänomen nicht angemessen zu theoretisieren. Während sie traditionell als Ergebnis eines ausgedehnten Flüchtlingsstatuts verstanden wird, ist sie auch Produkt einer bestimmten Staatsbürgerschaftspolitik sowie einer Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen zahlreicher Bevölkerungssegmente.

Ironischerweise hat sich so das Rechtswesen selbst als einer der wichtigsten Orte der Staatenlosigkeit erwiesen. „Prekarität“, das allgegenwärtige Merkmal von Staatenlosigkeit, ist kein rechtlicher Zustand. Das Recht versäumt es, Prekarität in sein Verständnis von Staatenlosigkeit einzubeziehen. Je mehr es versucht, die Staatenlosigkeit zu definieren, ohne die vielfältigen Inklusions- und Exklusionspraktiken (citizenship making) in den Staaten zu berücksichtigen, desto mehr produziert es aus den Millionen von prekären Menschen, die nicht in das privilegierte Universum der Bürger eintreten können, die Staatenlosen.

In einem Land nach dem anderen können wir beobachten, wie die Politik der Staatsbürgerschaft direkt oder indirekt durch ein erstaunliches Zusammenwirken der beiden Säulen moderner Herrschaft, nämlich der Bevölkerungspolitik und des Territoriums, umgestaltet wird. Fast überall produziert die Staatsbürgerschaftspolitik dabei die anderen: die Fremden, die Staatenlosen. Die Institution der Staatsbürgerschaft wird von Gespenstern heimgesucht, die als längst gebannt galten, von blood, race und residence. Einer der Hauptgründe, warum Menschen die Staatsangehörigkeit verweigert oder entzogen wird und sie folglich staatenlos werden, ist rassistische bzw. ethnische Diskriminierung. Man denke an Schwarze in Mauretanien (1989), ethnische Russen in Estland (nach 1991), viele Ex-Jugoslawen in den jugoslawischen Nachfolgestaaten (1990er Jahre), Südbhutaner in Bhutan (späte 1980er und 1990er Jahre) und nun Rohingyas in Myanmar, die größte staatenlose Bevölkerung unserer Zeit, die seit Jahrzehnten Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Zwangsumsiedlungen ausgesetzt ist. In vielen postkolonialen Ländern sind ethnische und nationale Identitäten faktisch miteinander verschmolzen, und Staatenlosigkeit ist das Produkt einer diskriminierenden Minderheiten-Governance. Die Staatsbürgerschaftsgesetze einiger Länder, die vom ius soli zum ius sanguinis übergegangen sind, sind stark vom exklusiven Selbstverständnis der „Mehrheit“ durchdrungen, die von sich behauptet, die „Nation“ zu verkörpern. Ethnische Befangenheit, Vorurteile und politische Erwägungen der herrschenden Eliten bestimmen die Politik der Verleihung und Verweigerung der Staatsbürgerschaft.

Doch auch immer mehr Menschen, die nicht von der traditionellen rechtlichen Definition der Staatenlosigkeit erfasst werden, leben unter Bedingungen, die es ihnen nicht erlauben, sich auf Recht zu berufen und werden so de facto zu „Staatenlosen“. Denn selbst die Institution der Staatsbürgerschaft kann nicht verhindern, dass ein beträchtlicher Teil von „Bürgern“ das Leben von Staatenlosen führt. „Bürger“ waren früher die Bewohner der Städte. Postkoloniale Städte sehen heute zunehmend wie Lager aus, während sich ausbreitende lagerähnliche Siedlungen immer mehr Städten ähneln. Die Realität dieser städtischen Räume widerspiegelt die strukturellen Vulnerabilitäten und Erfahrungen, die Staatenlose, Flüchtlinge, Migranten aber auch Bürger teilen. Städte produzieren zunehmend Subjekte, die nicht in der Lage sind, eine legale Subjektivität für sich zu beanspruchen. Zu den bekanntesten und berüchtigtsten Orten der Staatenlosigkeit gehört die Sexarbeit, die eine der wichtigsten Formen subalterner städtischer Migrantenarbeit darstellt. Die Staatenlosigkeit beraubt die Menschen sogar ihrer Rechte über ihren Körper und ihrer Lebenswürde. Sie beraubt sie der Möglichkeit, gegen ausufernde Ausbeutung zu protestieren. Prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen und Staatenlosigkeit fließen in dieser Weise ineinander. Das eine führt zum anderen. Staatenlosigkeit ist somit der Ort, an dem das Leben und die Erfahrungen der de facto staatenlosen Menschen und derjenigen, die sich im Hinblick auf ihren rechtlichen Status in der Schwebe befinden, zusammenlaufen.

Je prekärer die Lebensbedingungen der entwurzelten Menschen werden, desto mehr flüchten sie auf das Meer. Doch welche Möglichkeiten des Schutzes gibt es für Staatenlose oder Flüchtlinge, die sich auf hoher See verirren? Die komplexe rechtliche Infrastruktur, in der die Seeverkehrsvorschriften eingebettet sind, lassen die Schutzverantwortung der Staaten oft im Dunkeln, was wiederum verschiedene Formen der Rechtlosigkeit nach sich zieht.

Der internationale Schutzmechanismus für Staatenlose ist schwach, da er innerhalb der souveränen Gerichtsbarkeit jener Staaten, in denen die Mehrheit der Staatenlosen lebt, keine Anwendung findet. Die Staaten kontrollieren ihre Grenzen und legen die Staatsbürgerschafts- und Einwanderungspolitik eigenständig fest. Die jeweiligen Einwanderungsgesetzgebungen machen zudem keinen Unterschied zwischen Staatenlosen und anderen Migranten. Dabei geht es auch um die Frage der Zuständigkeit und damit der Verantwortung: die Verantwortung des Staates, der die Vertreibung auslöst; die Verantwortung des Staates, der Schutz und Asyl gewähren muss; die Verantwortung der Regionen (man denke nur an die verschiedenen regionalen Initiativen und Vereinbarungen); und nicht zuletzt die Verantwortung der Mächtigsten, die die globale Governance einschließlich der internationalen rechtlichen Regelungen maßgeblich bestimmen.

Das kumulative Ergebnis der Versäumnisse aller dieser Akteure und Institutionen ist massive Defacto-Staatenlosigkeit.

Will man gegen die expandierende Staatenlosigkeit vorgehen, ist es zwingend erforderlich, über die Opposition „Staatsbürgerschaft-Staatenlosigkeit“ hinauszugehen und die Verflechtungen zwischen der Konstruktion von Staatsbürgerschaft, De-iure- und De-facto-Staatenlosigkeit unter die Lupe zu nehmen und zuallererst an der Beseitigung der prekären Lebensund Arbeitsbedingungen zu arbeiten, die Rechtlosigkeit und somit Staatenlosigkeit hervorbringen.

Wir hoffen, dass die gemeinsame Initiative des IWM und der Calcutta Research Group zur Erforschung von Orten der Staatenlosigkeit in der heutigen Welt wichtige Einsichten zu diesem sehr brisanten Problem unserer Zeit zutage fördern wird.


Ranabir Samaddar ist Distinguished Chair für Migrations- und Zwangsmigrationsstudien, Calcutta Research Group, Kolkata, Indien, und regelmäßig als Gatwissenschaftler am IWM.