Die Freiheit als unveräußerliches Menschenrecht ist Bestandteil der europäischen Identität. Der Krieg in der Ukraine stellt Europa nicht nur vor die Frage nach dem Verhältnis der Freiheit zu anderen Menschenrechten. Er nötigt die EU zu einer praktischen Antwort auf die kantische Frage Was ist der Mensch? und wer für sie als Träger dieser Rechte gilt.
„Denn es gibt kein andres Land auf Erden, wo das Herz so frei dem Menschen schlägt!” So lautet der Text des sowjetischen Lieds, dessen erste Akkorde seit 1939 das offizielle Pausenzeichen von Radio Moskau sind. Bekannt ist auch die Anekdote aus der französischen Presse über den russischen Studenten, der in den 1930er Jahren in Paris lebte. Gefragt, warum er nach seinem Studium den sowjetischen way of life doch dem Leben in Frankreich vorziehen würde, hat er geantwortet: „Naja, ihr habt eine Menge feiner Sachen, die wir immer noch nicht haben. Andererseits habt ihr nicht, was uns das Wertvollste ist. Ich meine, Freiheit.“
Ein nachvollziehbarer Grund, warum Menschen der Verlockung des Autoritären nachgeben und auf das Menschenrecht der Freiheit verzichten, kann die Präferenz für andere Werte sein. Neben der Sicherheit oder dem Wohlstand wird insbesondere die Mitgliedschaft in einer hierarchisch organisierten, religiösen, nationalen oder politischen Gemeinschaft der Freiheit vorgezogen. Die menschliche Bereitschaft dazu, die Étienne de la Boethie servitude volontaire, freiwillige Knechtschaft, genannt hat, analysierte Erich Fromm in jeder möglichen Hinsicht in seiner Furcht vor der Freiheit und Leszek Kołakowski in seiner Anwesenheit des Mythos. Man kann sich natürlich die Frage stellen, ob nicht für alle in diesem Kontext zu nennenden Werte das gilt, was Benjamin Franklin einst über das Verhältnis der Freiheit zur Sicherheit gesagt hat; nämlich, wer bereit sei, seine/ihre grundlegende Freiheit zu opfern, um zeitweilige Sicherheit zu gewinnen, verdiene weder die Freiheit noch die Sicherheit. Ein weniger nachvollziehbarer Grund, die Freiheit aufzugeben, ist deren Gleichsetzung mit ihrem offensichtlichen Gegenteil. Ist es nur eine Sache der bloßen Selbsttäuschung oder Propaganda, dass man die Unterordnung unter eine totalitäre Macht als echte, „wertvollste“ Freiheit wahrnimmt, wie im eingangs angeführten Beispiel?
Eine mögliche Antwort auf diese Frage enthält die „Unveräußerlichkeit“ der Freiheit in den modernen Menschenrechtserklärungen. Das Paradox dieser Unveräußerlichkeit besteht darin, dass sie die Freiheit über die anderen Werte erhebt und sie zugleich wesentlich einschränkt. Mit der Erklärung des Freiheitsrechts für unveräußerlich, d.h. zu einem Recht, das man weder aufgeben noch übertragen kann, ist nicht eine faktische, sondern rechtliche Unmöglichkeit gemeint. Es handelt sich bloß darum, dass jede Freiheitsübertragungsvereinbarung, sei es mit einer anderen Person oder mit dem Staat, im Lichte dieser Erklärung ein unwirksames Rechtsgeschäft ist. Was uns aber die heute überall zu beobachtende, demokratische Unterstützung für Staatsmänner lehrt, welche mit ihrer Rechtspolitik die Grundrechte in Frage stellen, ist, dass man die Freiheit faktisch veräußern kann. Was diese Bereitschaft, sich freiwillig mit einer menschenrechtswidrigen Politik zu identifizieren bzw. diese zu tragen, ausdrücklich bezeugt, ist, dass man die Erklärung der Freiheit für unveräußerlich sogar als einen Verstoß gegen sie selbst deuten kann.
Der österreichisch-ungarische Phänomenologe Aurel Kolnai, der 1938 das Buch Der Krieg gegen den Westen veröffentlichte, hat die Veräußerlichkeit der Freiheit als ein Definiens ihres totalitären Verständnisses gedeutet. Nach Kolnai konnte der eingangs erwähnte Student mit seiner Antwort keineswegs gemeint haben, dass er in seinem Land die uneingeschränkte persönliche Macht genießt. Ihm ging es sicher auch nicht darum, dass es in der Sowjetunion größere Redefreiheit und mehr Freiheitsrechte als in Frankreich gab. Das Herz schlug dem russischen Stipendiaten in seinem Land deswegen frei, weil er seine Freiheit dem totalen Staat „selbstlos“ veräußert und mit der obersten Staatsmacht gleichgesetzt hatte. Da die Macht des sowjetischen Staats für ihn den Willen aller und jedes/-r Einzelnen verkörperte, nahm er sie nicht als etwas wahr, dem er seine Freiheit unterwarf, sondern als das Wertvollste, was er überhaupt „hatte“. Als ein Homo sovieticus hat er die Freiheit im Westen für unecht gehalten, weil die Willensmacht der westlichen Wählerschaft durch Spaltungen, Vorbehalte, Erklärungen u.a. eingeschränkt war. Und es war nichts anderes als die Totalität der von den unveräußerlichen Menschenrechten nicht eingeschränkten, sowjetischen Staatsmacht, was sie für ihn zum „Symbol und Instrument der universalen Freiheit“ machte.
Der paradoxe Begriff der totalitären Freiheit war nicht nur für das sowjetische Machtverständnis konstitutiv. In seinem Krieg gegen den Westen hat Kolnai auch die „deutsche Freiheit“ kritisiert, die als eine „innere“, dem Vernunftstaate veräußerte Freiheit mit der liberal-demokratischen „egoistischen“ Freiheit nichts zu tun hätte. Was einen tiefen Schatten auf die Idee der Freiheit auch in den liberalen Demokratien wirft, ist die Erklärung des Freiheitsrechts für veräußerlich in der ersten modernen Rechtsstaatstheorie von Thomas Hobbes. Als eine rationale Theorie der Staatsmacht, deren Legitimität nicht auf dem Willen Gottes oder einem anderen Gründungsmythos, sondern auf der freiwilligen Veräußerung der individuellen Rechte an den Staat gründet, hat sie als einziges, unveräußerliches Naturrecht das Recht des Menschen auf Leben anerkannt. Damit Hobbes’ Theorie des so verstandenen Gesellschaftsvertrags auch für das gegenwärtige, liberal-demokratische Machtverständnis maßgeblich bleiben konnte, wurde sie genau in diesem Punkt von den späteren, kontraktualistischen Staatstheorien wesentlich modifiziert. Es waren nicht zuletzt Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant, die gegen Hobbes für die Unveräußerlichkeit des Freiheitsrechts argumentierten. Wie überzeugend auch immer ihre Argumente waren, dass der Mensch die Freiheit nicht nur verdient, sondern ihr auch verpflichtet ist, haben sie die Unveräußerlichkeit der Freiheit philosophisch unbegründet gelassen.
Die Unveräußerlichkeit des Freiheitsrechts kann als willkürliches Axiom liberaler Staatstheorien gesehen werden, da sie seit Rousseau und Kant mit Hinweis auf ihre Untrennbarkeit von der Menschenwürde gerechtfertigt wird. Da eine Freiheitseinschränkung aufgrund liberaler Theorien nicht allein durch angeblich objektive gesellschaftliche, religiöse oder nationale Werte begründet werden darf, reicht dieser Verweis als Begründung der Unveräußerlichkeit des Freiheitsrechts keineswegs aus. Kants Forderung, dass „die Menschheit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse“, stützt sich auf eine immer umstrittene Antwort auf die Frage Was ist der Mensch? – eine Frage, auf welche Kant alle anderen Fragen der Philosophie zurückführt. Entsprechend werden autoritäre Staatstheoretiker wie Thomas Hobbes oder Carl Schmitt aufgrund ihrer pessimistischen Beobachtung homo homini lupus („Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“) genauso berechtigterweise für die Legitimität der totalitären Staatsmacht argumentieren. Dagegen werden die konservativen Denker wie Kolnai aus ihrer theozentrischen Antwort auf diese Frage ableiten, dass bereits die modernen Erklärungen der Menschenrechte als „atheistisch“ totalitäre Züge haben.
Selbst wenn die Frage Was ist der Mensch? für immer offen bleibt, darf sie angesichts von Menschenrechtsverletzungen keinesfalls unbeantwortet bleiben. Der russische Krieg in der Ukraine legt heute nicht nur von der Unergründlichkeit und Unberechenbarkeit des Menschen unwiderlegbares Zeugnis ab. Sofern die Veräußerung der Freiheit der Russen an ihren Staat mit einem Freibrief zum Töten, Vergewaltigen, Foltern, Rauben und Schweigen einhergeht, ist zumindest auch eine Antwort auf die Frage Wer ist der Mensch? dringend nötig. Die Anerkennung des Freiheitsrechts als unveräußerliches und zugleich universales Menschenrecht nötigt in erster Linie zu einer Antwort auf die europäische Identitätsfrage. Es geht um die Entscheidung darüber, worauf sich die ethische Identität Europas gründen soll. Ausschlaggebend dafür wird sein, ob wir uns für bedingungslose Solidarität mit jenen entscheiden, die für die Unveräußerlichkeit ihres Freiheitsrechts kämpfen, oder dazu bereit sind, die Freiheit und den Widerstand gegen die Unterdrückung dem Recht an Eigentum und Sicherheit unterzuordnen.
Andrzej Gniazdowski ist Professor am Institut für Philosophie und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Von Oktober 2021 bis Februar 2022 war er Józef Tischner Fellow am IWM.