Murakami ist ein japanischer Familienname, nicht ungewöhnlich. Es gibt viele Murakamis. Auch einige in der Gegenwartsliteratur, von der hier die Rede sein soll. Ein Murakami, der mit dem Vornamen Haruki, steht schon seit einiger Zeit für Größeres, er scheint geradezu die japanische Literatur als Ganzes zu repräsentieren. Wie das? Und was heißt hier eigentlich „japanische Literatur“?
Haruki, besagter Murakami, erschien als Shooting Star in den frühen 1980er Jahren auf der literarischen Bühne Japans. Damals, er war gerade mal dreißig, verdiente er sich seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht mit einem Kneipencafé, das ihm zumindest die Chance bot, den ganzen Tag lang Jazz zu hören und spät nachts nach Kneipenschluss am Küchentisch Texte zu schreiben. Hör das Lied des Windes (Kaze no uta o kike), 1979 auf Japanisch publiziert und 35 Jahre später erst unter dem Titel „Wenn der Wind singt“ auch auf Deutsch veröffentlicht, war eine lose Folge von bittersüßen Erinnerungen an den Sommer 1970, die eigene Studienzeit, Liebesleid, Selbstfindung und Popkultur, brachte ihm gleich einen Preis für Nachwuchsschriftsteller ein und wurde 1981 verfilmt. Damit begann eine recht märchenhafte Karriere. Murakami schrieb Roman um Roman, darunter 1982 „Wilde Schafsjagd“, sein erstes, 1991 auf Deutsch erschienenes Buch, auf das, ebenfalls noch im Insel Verlag, 1995 „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“ folgte. Noch war der Abstand zwischen Erstpublikation und Übersetzung groß, auch wenn schon in den 1980er Jahren erste Erzählungen in kongenialen Übersetzungen seines Entdeckers für das Deutsche, Jürgen Stalph, kursierten, unter neugierig machenden, witzigen Titeln wie „Der Untergang des Römischen Reiches – Der Indianeraufstand von 1881 – Hitlers Einfall in Polen – und die Sturmwelt“, 1987 in der Neuen Rundschau abgedruckt. Wer die japanische Literaturszene im Blick hatte, konnte Murakami in den 1980er Jahren nicht mehr übersehen. Er hatte sich, mit regelmäßig siebenstelligen Verkaufszahlen, daheim bereits zum Superstar entwickelt. Es bedurfte dazu also nicht erst englischer Versionen oder seiner amerikanischen Agentur. Die aber verweigerte in der Folge, dass Titel, die noch nicht ins Englische übersetzt waren, auf Deutsch erscheinen konnten – eine Erfahrung, die ich selber als Herausgeberin der Japanischen Bibliothek im Insel Verlag machen musste. Denn wir hatten uns eigentlich ein anderes Buch vorgestellt, als das, was wir dann brachten – weil wir auf Murakami nicht verzichten wollten. So entstand der Eindruck– sowohl in Japan selbst wie auch im Ausland –, dass dieser Autor – oder auch japanische Literatur allgemein – nur durch Übersetzungen ins Englische zugänglich sei und sich alle, die ihn übertragen wollten, in welche Sprache auch immer außer Englisch, der vorhandenen anglophonen Texte von ihm bedienten. Geradezu, als seien nur Englisch-Übersetzer in der Lage, ein japanisches Buch aus der Originalsprache zu übertragen. Man unterstellte offen oder auch unbewusst, dass Übersetzer für andere Sprachen auf eine Vermittlung über das Englische angewiesen wären und es sich letztlich um Zweitübersetzungen handelte, handeln müsse. Für japanische Leser und Autoren bedeutete das mit anderen Worten: Das Tor zur Welt für ihre Literatur ist das Englische!
Nun trifft das, wie einige von uns wissen, zum Glück nicht zu: Es gibt Autorinnen wie Yoshimoto Banana, deren gleichfalls kometenhafter Aufstieg auch in die 1980er Jahre fällt, weshalb man in Japan vom „Haruki-Banana-Phänomen“ sprach, und die ihren Weg zu internationaler Bekanntheit über andere Sprachen nahmen. In Yoshimotos Fall war das Italienisch, für die Autorinnen Taeko Kōno oder Hiromi Itō war es das Deutsche, um nur diese Beispiele zu nennen. Gewiß, keine japanische Autorin, auch kein Autor, reicht an Murakamis Status als globaler Autor heran. Und so bleibt natürlich die Frage, was denn die spezielle Qualität von Murakamis Literatur ausmacht, dass sie sich international so breit durchsetzen kann.
Aber vielleicht sollten wir zuerst einmal fragen: Ist denn der englische Murakami derselbe wie der japanische? Und wie der deutsche? Worin unterscheiden sich die Versionen eigentlich? Abgesehen von der Sprache. Doch da, bei der Sprache, fängt die Sache natürlich an. Was sich, rein übersetzungstechnisch, schon an Differenzen ergibt, wenn man zwischen eng verwandten Sprachen übersetzt, ist ein großes Thema. Doch lassen wir dieses Fass einmal ungeöffnet. Klar ist, dass bei sprachstrukturell und kulturell so distanten Einheiten wie Japanisch und Englisch oder Deutsch eine noch breitere Palette an Übersetzungsoptionen besteht als zwischen nahen Verwandten. Aber es gibt auch gesellschaftliche Regeln, Lesevorlieben und Tabus in der Zielsprache, die das Übersetzungsgeschehen mitbestimmen und die zum Teil recht rigoros eingefordert werden. Dabei wäre gar nicht in erster Linie an die inzwischen in vielen Sprachen aktive „woke“ Sittenwacht zu denken. Sondern, da ja das Englische bzw. Amerikanische hier als Brückenversion oder, besser, als eine Art Template fungiert, müssten auch Eigenheiten des US-Literaturmarkts in Betracht gezogen werden. Da lässt sich in Bezug auf japanische Literatur nämlich festhalten, dass amerikanische Lektoren und Verlage viel stärker in die Übersetzungen eingreifen als etwa in Mitteleuropa. Sie kürzen, ergänzen, stellen um und redigieren die Bücher bisweilen so stark, dass das sogar im Impressum vermerkt wird. Die ziemlich schräge Geschichte, weshalb dies überhaupt zum Thema und zum Anlass für eine Reihe gewundener Selbstrechtfertigungen des Autors wurde, sei hier nur angedeutet. Sie führt uns ins ferne Deutschland und Österreich, wo zwischen 1988 und 2001 die legendäre Büchersendung „Das literarische Quartett“ ausgestrahlt wurde. Und ausgerechnet ein Eklat bei der Besprechung von Murakamis aktuellem Roman Gefährliche Geliebte führte schließlich zur Einstellung des Programms. Auf YouTube ist die unterhaltsame Sendung immerhin noch präsent.
In der breiten öffentlichen Debatte, die der Verkaufszahlen fördernde Streit um den Murakami-Roman damals auslöste, spielte die Frage eine Rolle, weshalb der Autor denn eine Zweitübersetzung aus dem Englischen nicht nur zugelassen, sondern anscheinend sogar eingefordert hatte. Die verblüffende Antwort, auf diversen Kanälen lanciert, lautete, dass es ihm um die Schnelligkeit der Publikation ging. Schnelligkeit durch Warten auf die englische Fassung? Das klingt einigermaßen paradox. Zumal seither nicht wenige seiner Werke, gerade auch die besonders langen wie der dreiteilige Roman 1Q84 (deutsch 2010 und 2011, englisch 2011), Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki (deutsch Jan. 2014, englisch Aug. 2014) oder Die Ermordung des Commendatore I und II (deutsch Jan. und Apr. 2018, englisch Okt. 2018) in der Direktübersetzung früher auf Deutsch als auf Englisch erschienen sind!
Viel wesentlicher aber als Schnelligkeit ist wohl die Frage, die ich bereits Anfang 2001 in einer kritischen japanischen Zeitschrift aufwarf: Ob nicht Murakamis Priorisierung anglophoner Fassungen, ihre Erhebung zum Mastertext für die Übersetzung in andere Sprachen als – bewusster oder unbewusster – US-Kulturimperialismus gelten müsse. Ich sprach seinerzeit auch von einer Tendenz zur Hollywoodisierung der japanischen Literatur, wenn nach Murakamischem Muster die japanische Originalfassung als lokale Variante eingestuft würde, der gegenüber der Autor die überarbeitete amerikanische Textfassung als Grundlage für die weltweite Verbreitung betrachten wolle.
Zwar beteuerte der Autor seither wiederholt, Direktübersetzungen seien wünschenswert, aber bei Übersetzungen in „kleinere Sprachen“ sei es ihm allemal lieber, wenn deren Leser ihren Murakami zeitnah aus der vorliegenden englischen Fassung transponiert bekämen. Es spräche einfach viel für Zweitübersetzungen, er könne seine Vorliebe nicht leugnen. Zumal man sich den Tatsachen zu stellen habe – Englisch sei nun einmal die lingua franca im Business, und New York der Nabel der Verlagswelt. Sein Gegenüber bei dieser 2000 in Buchform publizierten „Feierabend-Plauderei zum Übersetzen“ ist Tomoyuki Shibata, beide sind als Meisterübersetzer aus dem Amerikanischen bekannt. Verständlich, dass hier niemand mit Fragen einhakt. Die müssen wohl aus einer anderen Ecke kommen. Doch zurück zu Murakamis Betriebsgeheimnis.
Dass dieser Autor von Anfang an eine besondere Affinität zur US-Literatur hegte, belegt schon die Legende von seinen Schreibanfängen. Im ersten „Küchentischroman“ probiert der namenlose Ich-Erzähler herum, bis er auf die Idee kommt, seinen Text auf Englisch zu schreiben und ihn ins Japanische rückzuübersetzen. Und voilà, sein Stil ist gefunden! Die von vielen Kommentatoren tropfnass aus dem Roman in seine Vita eingebaute Saga wird Jahrzehnte später vom Autor selbst in seinen Essays unter dem Titel Von Beruf Schriftsteller beglaubigt (oder verfestigt?). Egal, wer kann schon wissen, wie es damals wirklich war? Er habe einen „flexiblen, ‚neutralen‘ Stil“ schaffen wollen, „einen eigenen natürlichen Erzählton kreieren, der von dem üblichen ‚romanhaften Stil‘ der sogenannten ‚Hochliteratur‘ möglichst weit entfernt war“, schreibt er 2015. Das ist ihm allem Anschein nach gelungen. Und wenn das ein wenig nach Übersetzung klingen sollte, was soll’s!
Sein amerikanischer Übersetzer Jay Rubin eilte ihm mit weiteren Beteuerungen zu Hilfe: Die Kürzungen, die er vorgenommen habe, beruhten auf Umfangsvorgaben des Verlags. Außerdem habe er bei dieser Gelegenheit auch die vielen Widersprüchlichkeiten im „Aufziehvogel“-Plot bereinigen können. Auf Deutsch haben wir seit 2020 auch eine Direktübersetzung und können vergleichen. Aber wer weiß: vielleicht hat Murakami seinen Text inzwischen selber wieder umgeschrieben. Auch das nämlich passiert, beispielsweise mit seinen beiden witzigen „Bäckereiüberfall“-Erzählungen von 1981 und 1985, schon 1988 und 1994 verdeutscht, die mit den Illustrationen von Kat Menschik auch in einer japanischen Ausgabe erschienen sind. Da gesteht Murakami im Nachwort, dass er bei dieser Gelegenheit noch einmal Hand an die Texte gelegt habe. Wo und warum, verrät er nicht.
Vieles ist und bleibt geheimnisvoll, nicht nur in Murakamis Texten, sondern auch drumherum. Da gibt es Übersetzer, die verschwinden, und Fake-Übersetzer, die es gar nicht gibt. Und fluide Textgestalten, so dass man sich stets fragt oder fragen sollte: welcher Murakami? Danach steht noch die Frage im Raum: Wie japanisch ist und was macht Haruki Murakami zum globalen Autor?
Irmela Hijiya-Kirschnereit ist Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaften am Ostasiatischen Seminar (Japanologie) der Freien Universität Berlin. 2022 war sie Fellow am IWM.