Die Frage, was eine demokratische Gesellschaft zusammenhält, steht heute wieder im Raum. In fast allen deutschen Parteien gilt der gesellschaftliche Zusammenhalt als „Herzensthema“, und so fördert das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 40 Millionen Euro an gleich elf Standorten ein Forschungsinstitut gleichen Namens.
Wer sich um den gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgt, bangt auch um die liberale Demokratie. Es geht nicht allein darum, was unsere pluralistische Gesellschaft zusammenhält, sondern auch um ihre normativen Voraussetzungen. Daher bietet es sich an, nach der Geschichte des Begriffs zu fragen. Schnell zeigt sich, dass es in einer liberalen Demokratie mit dem Zusammenhalt nicht so weit her ist. „Zusammenhalten“, heißt es 1811 in Campes Wörterbuch der deutschen Sprache, bedeutet „fest verbunden sein und bleiben“. Und weiter: „Freunde, Eheleute halten fest und treu zusammen.“ Wir können ergänzen: das gilt auch für Seilschaften im Hochgebirge, in der Wissenschaft und in der Mafia.
Das Zusammenleben in der pluralistischen Demokratie dagegen kennzeichnet eine stachelige Zwietracht. Wir sehnen uns nach „gegenseitiger Wärme“, heißt es in Schopenhauers Parabel von der Gesellschaft der Stachelschweine in einer kalten Winternacht, und empfinden zugleich die „gegenseitigen Stacheln“. Der Streit um den Klimawandel und die Migration, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Kopftuch und das Kruzifix, um die Religion und Moral, die Nation und Europa ist unvermeidlich. Doch können wir überlegen, was zu tun ist, damit er nicht in wechselseitiger Verhetzung endet.
Der Ausgangspunkt ist Hermann Hellers „furchtbare Frage“ aus dem Jahre 1928, wie sich die Demokratie angesichts der „ungeheuren Klassenund Rassengegensätze [...] zu behaupten vermag“. Die Spaltung der Gesellschaft am Ende der Weimarer Republik, so der Staatsrechtler, zeige, dass die Demokratie nur bei einem gewissen Maß an „sozialer Homogenität“ überleben kann. Darunter verstand Heller die „relative Angeglichenheit des gesellschaftlichen Bewusstseins“. Sie ermögliche es, „Spannungsgegensätze in sich [zu] verarbeiten“. Die soziale Homogenität sei die Voraussetzung dafür, dass sich die „gesellig-ungesellige Natur“ der Bürgerinnen und Bürger entfalten könne.
Hellers Thesen stoßen uns auf die Frage, wie die liberale Demokratie ihre Fassung bewahrt. Wer so fragt, erinnert zugleich daran, dass sie eine fragile Ordnung ist, die ohne sorgfältige Pflege „in der Luft“ hängt. Demokratie erschöpft sich nicht im Gang zur Wahlurne, in Parlamentsdebatten oder im Mitund Gegeneinander der drei Gewalten. Indem wir die Sorgen ernstnehmen, welche die Diskussion über den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufwirft, fragen wir nach den kulturellen und sozialen Voraussetzungen der Demokratie. Die Diagnose ihrer Krise schärft das Bewusstsein dafür, dass die Demokratie nicht allein eine Herrschafts-, sondern auch eine Lebensform ist.
Der Begriff der Demokratie als Lebensform beansprucht keine analytische Präzision, sondern dient allein als störrischer Reisebegleiter bei unserer Suche nach den Voraussetzungen der Demokratie. Intellektuelle wie Jane Addams und John Dewey, Richard Rorty und Michael Walzer, für die der Begriff der demokratischen Lebensformen zentral ist, verwenden ihn spielerisch. Das gilt auch für Arno Borst, der unter Lebensformen „geschichtlich eingeübte soziale Verhaltensweisen“ verstand, die wir weder übernoch unterschätzen dürfen. In ihnen erkennt der Mediävist eine schwache Normativität, die zwischen den Polen der moralischen Gewissheit und der belanglosen Routine liegt. Lebensformen sind „keine zeitlosen ethischen Normen, sondern geschichtlich bedingte Verhaltensregeln. Und weiter: Ihre Wirkung „ist in verschiedenen Zeitaltern unterschiedlich. In das alltägliche Verhalten der Menschen zueinander bricht manchmal Geschichte ein und zerbricht alle Gefüge; dann sind Lebensformen nicht mehr selbstverständlich, werden auf das Niveau der Sittlichkeit gehoben und überschätzt. Meistens vollzieht sich Geschichte außerhalb des täglichen Verhaltens der Menschen zueinander und überspielt alle Gefüge; dann sind Lebensformen allzu selbstverständlich, werden in die Niederungen der Banalität abgedrängt und unterschätzt.“
Zwar ist der Streit um Fragen der Moral für alle eine Zumutung. Doch wer als Voraussetzung der Demokratie den normativen Konsens versteht, übersieht, dass gerade aus der Zwietracht spezifisch demokratische Formen des Zusammenlebens und des sozialen Zusammenhalts hervorgehen. Die „guten Gesetze“, notierte Machiavelli zu Beginn des 16. Jahrhunderts, entstehen „aus jenen Kämpfen, die viele unüberlegt verdammen“. Der Streit darüber, was eine gerechte Ordnung ist, geht jedoch weiter. Jeder Kompromiss, auf den sich eine Demokratie verständigt, gibt Anlass für den nächsten Konflikt. Ein Konsens ist dagegen über die Form des Streits zu finden.
Wer nach demokratischen Lebensformen fragt, richtet den Blick darauf, dass allein Formen und Konventionen es uns ermöglichen, auch mit jenen Konflikten zu leben, die wir nicht lösen, sondern nur aushalten können. Das Nachdenken über Lebensformen bietet die Chance, ein Gespür für die kulturellen und sozialen Grundlagen der Demokratie zurückzugewinnen. Die Herrschaftsund Verfassungsordnung mag noch so gelungen sein, ohne die Möglichkeit demokratischer Erfahrungen geht sie ein.
Die Demokratie lebt davon, dass die Bürgerinnen und Bürger sie im Alltag tragen, gestalten und erneuern. Damit die stachelige Zwietracht nicht zur Spaltung führt, braucht die Demokratie jene öffentlichen Orte, in denen sich Bürgerinnen und Bürger begegnen können. Hierzu zählen Parks und öffentliche Plätze, Stadtbibliotheken und Museen, Kindergärten und Spielplätze, Jugendzentren, Schwimmbäder und Sportanlagen, Schulen und Universitäten. Zusammen schaffen sie demokratische Räume, die allen die Chance bieten, Freiheit und Gleichheit im Alltag sinnlich zu erfahren. Dass gerade in finanzschwachen Städten diese Orte in schlechtem Zustand sind, Museen ihre Öffnungszeiten einschränken und Stadtbibliotheken ihre Zweigstellen schließen, gefährdet die Demokratie.
In der Summe bilden diese Räume eine demokratische Allmende, die es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, demokratische Lebensformen zu pflegen. Die Demokratie lebt vom politischen Gegensatz und moralischen Konflikt. Aber diese Auseinandersetzungen können ihre schöpferische Kraft nur entfalten, wenn wir die demokratische Allmende erhalten, in der wir den Streit aushalten können. Je klarer sich die Krise der Demokratie abzeichnet, desto deutlicher erweist es sich als Irrweg, dass bei leeren Kassen gerade jene Orte dem Rotstift zum Opfer fallen, die demokratische Erfahrungen und lebendige Vielheit ermöglichen, den bürgerlichen Gemeinsinn und eine Kultur der Teilhabe stärken.
Das Siechtum dieser Allmende gefährdet die liberale Demokratie, zunächst die Lebensform, dann auch die Herrschaftsform. Eine Demokratie, die nicht mehr bereit ist, die demokratischen Lebensformen zu pflegen, nimmt in Kauf, dass sich
ihre kulturellen Voraussetzungen auflösen. Wenn wir im öffentlichen Raum primär auf Effizienz und Leistung, Controlling und Bench-Marking schielen und öffentliche Güter privatisieren, weil die „unsichtbare Hand“ des Marktes zu vermeintlich faireren Lösungen führt, geht uns das Gespür für demokratische Lebensformen verloren. Es zeigt sich: je „schlanker“ der Staat, desto gefährdeter die liberale Demokratie.
Es ist die Aufgabe der Demokratie, die demokratischen Lebensformen zu pflegen und die Gestalt der demokratischen Allmende jeweils neu zu bestimmen. Wie die öffentlichen Räume konkret zu gestalten, welche Erziehungsstile und welche Familienformen, welche Kindergärten und Schulen Wege zur Mündigkeit eröffnen, welche Form der ungeselligen Geselligkeit die demokratischen Tugenden stärkt, bleibt offen. Auch hier lebt die De
mokratie vom Streit. Entscheidend ist, dass sie eine Form des Zusammenlebens ermöglicht, in dem alle die Chance haben, sich als frei und gleich zu erfahren. Der Konflikt ist in einer liberalen Demokratie unvermeidlich. Ob aber die Zwietracht den Hass nährt oder die Demokratie immer aufs Neue belebt, ist eine Frage der Lebensformen. Wer ein Gemeinwesen der Freien und Gleichen will, in dem alle ohne Angst verschieden sein können, wird den Streit nicht fürchten. Umso mehr gilt es, jene Räume und Umgangsformen zu pflegen, die es ermöglichen, unser stacheliges Zusammenleben auszuhalten.
Till van Rahden ist Historiker und lehrt Deutschlandund Europastudien an der Université de Montréal. 2016 und 2021 war er Fellow am IWM. Sein Buch Vielheit. Jüdische Geschichte und die Ambivalenzen des Universalismus erscheint im Mai 2022 in der Hamburger Edition.