Z: Putins Krieg der Welten

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Die westlichen Grundwerte haben dem russischen Präsidenten seit jeher Angst eingejagt und ihn dazu gebracht, eine ganze Weltanschauung und ein Selbstverständnis zu entwickeln, das auf der Ablehnung alles Westlichen beruht. Putin, der Reaktionär schlechthin, steht für die Unterdrückung einer Revolution, die ohne seine Kriege und Propagandamaschine längst stattgefunden hätte.

Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar verfolgt die westliche Welt mit Bewunderung, wie das tapfere ukrainische Volk Wladimir Putins bösartigem Despotismus Widerstand leistet. Diese Bewunderung hat sich in einer beispiellosen humanitären und militärischen Hilfe niedergeschlagen, ohne die die Ukraine nicht überlebt hätte, geschweige denn begonnen, die Invasoren zurückzudrängen.

Doch trotz allen Lobes haben die westlichen Regierungen zugleich unablässig wiederholt, was sie nicht tun werden: Bodentruppen einsetzen, Kampfflugzeuge schicken, eine Flugverbotszone durchsetzen usw. Der Politologe Francis Fukuyama hat dafür folgende Begründung: „Es ist viel besser, dass die Ukrainer/-innen die Russen aus eigener Kraft besiegen und Russland der Ausrede berauben, dass die NATO es angegriffen habe.“

Der Westen versteckt sich hinter der Furcht vor einer möglichen Eskalation; eingeschüchtert durch Russlands nukleare Erpressung, hat er eine humanitäre Haltung eingenommen, um zu verbergen, dass er auf eine militärische Gegenoffensive nicht eingestellt ist. Doch eine drängende Frage steht im Raum: Ist die NATO wirklich darauf vorbereitet, „jeden Zentimeter“ des Bündnisgebiets zu verteidigen?

In der Vergangenheit hat sich der Westen bereit gezeigt, für humanitäre Zwecke Gewalt einzusetzen. Der bekannteste Fall eines derartigen „humanitären Militarismus“ war das Eingreifen der NATO in den Kosovo-Krieg 1999, auf das dann die US-geführten Kriege in Afghanistan (2001) und im Irak (2003) folgten. Alle wurden als humanitäre Interventionen gefasst und durch einen ethischen Universalismus legitimiert.

Doch der chaotische US-Rückzug aus Afghanistan im vergangenen Sommer, auf den unmittelbar die Rückkehr der Taliban an die Macht folgte, zeigte offenbar, dass der humanitäre Militarismus gescheitert war. Der Humanitarismus löste sich vom Militarismus, und der Westen sah sich dadurch konzeptionell entwaffnet. Oder wie der französische Präsident Emmanuel Macron es zwei Jahre früher ausgedrückt hatte: Die NATO erlebte einen „Hirntod“.

Dieses Fehlen einer prinzipiengeleiteten Position oder Zielorientierung war zweifellos ein Faktor in Putins Kalkulationen vor der Invasion. Schließlich hatten die Annexion der Krim und die Besetzung des östlichen Donbas durch Russland im Jahre 2014 die Hohlheit der strategischen Zusagen des Westens bereits bloßgelegt.

Hauptmerkmal dieses westlichen Zustands ist ein ständiges Zuspätkommen. Der Westen ist immer zu spät dran; er ist unfähig, vorausschauend zu handeln, und reagiert stattdessen bloß auf das, was bereits passiert ist. Ein ukrainischer Witz lautete damals: „Während die Europäische Union sich Zeit für ihre Entscheidung nahm, nahm sich Russland die Krim.“ Damals wie heute fragten sich die Menschen in der Ukraine: „Wo liegt die rote Linie des Westens? Was wird den Westen nötigen, zu handeln statt abzuwarten und über den richtigen Zeitpunkt für eine Intervention zu diskutieren?“

Wie wir gesehen haben, wurde diese Linie nicht bei ukrainischen Menschenleben gezogen, und der Preis dieses Zauderns sind hunderte massakrierte Opfer in Bucha, Irpin und Hostomel. Vor acht Jahren entschuldigte der Westen Russlands völkerrechtliche Verbrechen und nahm einen Krieg hin. Doch aus der Tatsache, dass die Ukrainer/-innen den Westen an den Frontlinien in Mariupol, Tschernihiw und Charkiw aus eigener Kraft neu einen, ergibt sich zugleich, dass ein Fall der Ukraine dem Westen den politischen Todesstoß versetzen würde.

Die westliche Vorstellung einer auf universellen Menschenrechten beruhenden Welt ist heute mit Putins Konzept der russischen Welt (Russkiy mir) konfrontiert, die auf den Rechten von „Landsleuten“ (sootechestvenniki) basiert. Diese Kreml-Ideologie ist sekundären Ursprungs; sie fungiert als grotesk verzerrtes Spiegelbild des Westens. Russland stellt sich dabei als antiglobalistische Kraft dar, die noch bereit und imstande ist, traditionelle Werte – oder „Klammern“ (skrepy) – zu verteidigen, die sich im „dekadenten“ Westen in Luft aufgelöst haben.

Dieser Interpretationsrahmen erlaubte es dem Kreml, seine Annexion der Krim mit der Befreiung des Kosovo von Serbien durch die NATO gleichzusetzen. In gleicher Weise wurden die russischen Einfälle in Georgien (2008) und im Donbas mit Whataboutism in Bezug auf Amerikas eigene Kriege gerechtfertigt. Die vom Kreml geführte Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), die Anfang dieses Jahres Truppen einsetzte, um soziale Unruhen in Kasachstan zu unterdrücken, ist eindeutig nach dem Vorbild der NATO aufgebaut.

Auf diese und andere Weise hat Putins Regime den Westen lange vorgeführt und zugleich eine idealisierte Version von Russlands vergangener Glorie erdichtet, um Russlands Randstellung in der Gegenwart zu verdecken. Mit seinem Historizismus und seinen thanatologischen Versuchen zur Rückgewinnung russischer „Größe“ hat Putin ein Regime errichtet, das auf einer Karikatur der Vergangenheit basiert.

Der einzige Mythos, der den Zusammenbruch der Sowjetunion intakt überlebt hat, ist der Große Patriotische Krieg (Stalins Bezeichnung für den Zweiten Weltkrieg). Er spielt daher eine zentrale Rolle in Russlands politischer Gegenwart. Indem er die Geschichte der sowjetischen Repression und der Konzentrationslager übergeht, hat der Kreml eine neue ideologische Basis zur Legitimierung seiner Herrschaft errichtet.

Die Begriffe, die der Kreml verwendet, um seinen Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen – „Denazifizierung“, „Entmilitarisierung“, „Verhinderung des Völkermords“ usw. – sind direkt diesem Mythos entnommen. Es ist das einzige Lexikon, das Putins Regime besitzt; das sagt viel über den wahren Charakter des Regimes aus. Paradoxerweise wurden Begriffe, die einst genutzt wurden, um auf den Sieg über den Nazismus zu verweisen, zweckentfremdet, um Russlands eigene faschistische Militärdiktatur zu legitimieren. Es ist kein Zufall, dass Putins Krieg (der sich zum eigenen „Großen Patriotischen Krieg“ der Ukraine entwickelt hat) im Geiste des Zweiten Weltkriegs stilisiert und geführt wird – mit Methoden und Mitteln, die man seit Jahrzehnten nicht gesehen hat.

Putins Besessenheit von der Ukraine ist eindeutig faschistischer Art, da die Ukraine die Maidan-Revolution repräsentiert, die einen früheren, mit Russland verbündeten Präsidenten der Ukraine stürzte. Dieses Szenario ist der schlimmste Alptraum des Putin-Regimes. Das Schreckgespenst des Maidan hat Putin den größten Teil seiner Herrschaft über verfolgt und hilft, sein hartes Durchgreifen gegen abweichende Ansichten im Inland und seine Militärinterventionen zur Verhinderung von Regimewechseln in Belarus, Syrien und Kasachstan zu erklären. Putin beschreibt die Ukraine ständig als „russlandfeindlich“, obwohl er selbst Russland „ukrainefeindlich“ oder „maidanfeindlich“ gemacht hat. Sein primäres Ziel ist die Vernichtung der politischen Alternative zu seinem eigenen Regime, die von der Ukraine – die nach Meinung Putins nicht existieren sollte – versinnbildlicht wird.

Putin ist der Bannerträger der Konterrevolution. Das heruntergewirtschaftete Kreml-Regime, dem er vorsteht, stellt die Unterdrückung der Revolution dar, die sich in Russland ohne Putins Kriege, die politische Vernichtung jeder Opposition und seinen Propaganda-Apparat längst ereignet hätte. Doch hat der heutige russische Staatsapparat ein grundlegendes Problem, da er bisher keinen Mechanismus zur Machtübertragung entwickelt hat.

Putin arbeitet gegen die Zeit angesichts einer unmöglichen Aufgabe: ewig zu herrschen. Er ist wie Kai, der kleine Junge aus Hans Christian Andersens Märchen Die Schneekönigin, der es nicht schafft, aus den Eisstückchen, die ihm gegeben wurden, das Wort „Ewigkeit“ zu buchstabieren. Alles, was Putin aus den Bruchstücken zu formen gelingt, die der sowjetische Zusammenbruch hinterlassen hat, sind die Buchstaben „K“, „R“, „I“, „E“ und „G“ – und jetzt „Z“.

Anzeichen der Eskalation zu einem ausgewachsenen Weltkrieg sind noch nicht erkennbar. Glasklar jedoch ist bereits, dass dieser Krieg ein Krieg der Welten ist, und dass dies die Stunde der Wahrheit für unsere gesamte Welt ist. „Z“ ist das Ende des Alphabets, ein leeres Symbol, auf das nichts folgt – keine Ewigkeit, bloß Leere.

Aus dem Englischen von Jan Doolan
Copyright: Project Syndicate, 2022 (www.project-syndicate)



Vasyl Cherepanyn ist Leiter des Visual Culture Research Center (VCRC) in Kyjiw. 2016 war er Visiting Fellow am IWM.

This article appeared in the special Ukraine supplement to IWMPost 129