Anfang Mai trat Misha Glenny sein Amt als neuer Rektor des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen an. Der preisgekrönte Journalist, dessen internationale Karriere in Wien begann, stellt sich vor
Zum ersten Mal kam ich im Januar 1986 aus London nach Wien. Am 3. Februar erschien mein erster Artikel im Guardian, eine bizarre Geschichte über einen korrupten Abt, der mehrere Millionen Schilling aus dem Vermögen eines Stifts in der Nähe von Graz veruntreut hatte. Der Skandal war in einem Land, das immer noch an der von Papst Paul VI. geprägten Bezeichnung "Insel der Seligen" festhielt, zwar einigermaßen ironisch, für die Titelseite hätte er jedoch wohl kaum gereicht.
Bevor ich aus London aufbrach, hatte mich mein Auslandsredakteur beim Guardian gewarnt, dass das Interesse an Mitteleuropa nicht sehr groß sei; Österreich sei langweilig und in Osteuropa passiere, außer den gelegentlichen Verhaftungen von Dissidenten/-innen, nichts. Aber gerade als Österreich dabei war, seinen Ruf als Insel der Seligen zu verlieren, sollten die Ereignisse ihn auf eindrucksvolle Weise Lügen strafen. Nur einen Monat nach der Veröffentlichung meines ersten Artikels wurde bekannt, dass der österreichische Präsidentschaftskandidat und früherer UN-Generalsekretär Kurt Waldheim über seine Vergangenheit im Krieg gelogen und seine Tätigkeit als Offizier und Dolmetscher bei der Wehrmacht während des Balkanfeldzugs verschwiegen hatte. Sechs Wochen später ereignete sich der Unfall von Tschernobyl, und Wien wurde als Sitz der Internationalen Atomenergie-Organisation naturgemäß zum zentralen Ort für Informationen über die Katastrophe. Der Guardian brachte beide Geschichten auf seinen Titelseiten, und ich musste mir in nur wenigen Wochen die außerordentliche Disziplin erarbeiten, die Auslandskorrespondenten/-innen brauchen, wenn sie den Überblick über sich rasant entwickelnde Geschichten bewahren wollen.
Es war jedoch ein noch bedeutsamerer Prozess im Gange, der schließlich sowohl die Waldheim-Affäre als auch Tschernobyl in den Hintergrund drängen sollte. Bei ihren regelmäßigen Reisen nach Warschau, Prag, Budapest, Bukarest und Sofia hatten die in Mitteleuropa ansässigen Auslandskorrespondenten/-innen bereits erkannt, dass Gorbatschows Politik alternde konservative Führer wie Gustáv Husák oder Todor Schiwkow verunsichert hatte. Gleichzeitig fühlten sich die Liberalen in den kommunistischen Parteien sowie die Dissidenten/-innen der Solidarność, der Charta 77 und der Demokratischen Opposition Ungarns gestärkt.
Da ich Anfang der 1980er Jahre ein Jahr an der Karls-Universität verbracht hatte, um die Dramen von Karel Čapek zu studieren, war Prag mein bevorzugtes Reiseziel. Mein Lieblingsgesprächspartner dort war Klement Lukeš, ein Mann, dessen Weisheit und Erfahrung mir bis heute fehlen. Er war 1961 wegen angeblicher Spionage für Jugoslawien aus der KP ausgeschlossen worden und machte seine Wohnung zu einem der größten Zentren für die Verbreitung dissidenter Literatur, und das, obwohl er seit seiner Kindheit blind war.
Lukeš genoss es zu diskutieren. Er pflegte Kontakte zu alten Parteigenossen und informierte mich regelmäßig über das aktuelle Geschehen im Politbüro. Das waren seltsame Zeiten. Intellektuelle und Aktivisten/-innen waren ausnahmsweise weniger an der BBC, Voice of America oder Radio Free Europe interessiert und stärker an russischen Publikationen wie der Literaturnaya Gazeta oder Ogonek, die die Grenzen der Glasnost ausloteten. Die tschechischen Dissidenten/-innen durchforsteten diese Publikationen sorgfältig und interpretierten die Runen, die in Moskau geschrieben worden waren. Die Parteiführung begann sogar, die Einfuhr und Verbreitung dieses Materials aus dem sowjetischen Mutterland einzuschränken, und gab damit den Impuls für eine höchst ungewöhnliche Episode in der Geschichte des Samizdat.
Zurück in Wien lernte ich Krzysztof Michalski kennen und besuchte gelegentlich Vorträge am IWM. Diese faszinierenden Begegnungen festigten meine Überzeugung, dass das Ferment, das ich in den Ländern des Warschauer Paktes beobachtete, kein Hirngespinst war. Dank der bemerkenswerten intellektuellen Stärke seiner Freunde und Fellows war das IWM nicht nur als eines der ersten Institute in der Lage, die Bewegung der tektonischen Platten der Geschichte aufzuspüren, es konnte auch die kommenden seismischen Ereignisse mit erstaunlicher Präzision vorhersagen, nachverfolgen und deuten.
Drei Jahre nach meiner Ankunft in Wien ging die Region, von der mir mein Auslandsredakteur zuvor versichert hatte, dass dort nie etwas geschehen würde, mit explosiver Kraft in die Luft, entledigte sich dabei des Schutts des Kalten Krieges und versprach eine gründliche Säuberung von fünfundvierzig Jahren Stalinismus. Die BBC ernannte mich 1988 zu ihrem Mitteleuropa-Korrespondenten und über diese Ereignisse, von Warschau bis Tirana, zu berichten, war das Privileg meines Lebens.
Mit einunddreißig Jahren konnte ich die berühmten, an den Beginn der Französischen Revolution erinnernden Zeilen aus William Wordsworths Präludium nicht nur verstehen, sondern erleben. Glückseligkeit es war, in jener Zeit der Morgendämmerung zu leben, doch noch jung dabei zu sein, das war der Himmel! Weniger gut in Erinnerung sind die Zeilen, die etwas weiter unten folgen:
als die Vernunft zuvörderst schien Instanz,
die ihre Rechte geltend macht, als man
fixiert darauf, dass sie sich selbst bestimmt
zur Ober-Zauberin, die assistiert
dem Werk, das dann in ihrem Namen vorwärts
drängte.
Damals, 1989, glaubten viele von uns, dass die Ereignisse den Sieg der Vernunft widerspiegelten, dass die Menschenrechte sogar direkt aus ihrem Triumph hervorgingen. Nicht viele, die in der Region arbeiteten, nahmen diese Ereignisse als das Ende der Geschichte wahr. Wir waren angespornt, glücklich und fest entschlossen, die neuen Demokratien in Gang zu bringen. Aber wir wussten auch, dass dies alles andere als einfach werden würde.
Zwei Jahre vor diesen gewaltigen revolutionären Ereignissen hatte ich Ciril Ribičič, ein führendes slowenisches Mitglied des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, in Ljubljana interviewt. Ich war verblüfft, als er unverblümt erklärte, die Entwicklungen in der serbischen Schwesterpartei nach der Machtübernahme von Slobodan Milosevic könnten zu einem Bürgerkrieg in Jugoslawien führen. Während der wachsende serbische Nationalismus im ganzen Land spürbar wurde, war in Kroatien ein ähnlicher Prozess in Gange. Der Boden für den Krieg war bereitet.
Die unausgereifte Deutung des Konflikts als Folge eines „uralten Hasses“ hielt sich weit über die Kriegsdauer hinaus, auch nachdem Experten/-innen diese These vollständig widerlegt hatten. Mittlerweile, dreißig Jahre später, hat eine Fülle akademischer Studien, die auf politische wie wirtschaftliche Motive des Konflikts hinweisen, eine Veränderung der Wahrnehmung der Jugoslawienkriege bewirkt.
Insbesondere Milosevics Aufstieg sowie die von ihm geschmiedeten Allianzen und entwickelten Mechanismen, um seine Macht aufrechtzuerhalten und auszubauen, bieten reichhaltiges Material für die Untersuchung des neuerlichen Aufstiegs der sogenannten Eisernen Männer. Besonders lehrreich ist dies für hybride Systeme, in denen sich demokratische und autoritäre Elemente vermischen. Unter dem Deckmantel des Krieges versuchten in Jugoslawien miteinander verknüpfte Netzwerke von Oligarchen, Sicherheitsdiensten, monopolistischen politischen Parteien und des organisierten Verbrechens die Überführung von Staatsvermögen in private Hände in rasantem Tempo voranzutreiben. Jugoslawien war weniger der Endpunkt des Kalten Krieges, als vielmehr ein Vorbote dessen, was die Welt erwarten sollte. Der Neoliberalismus im Westen förderte diese Prozesse, die sich in verschiedenen Formen in der ehemaligen Sowjetunion und in Osteuropa wiederholten.
Spätestens seit 2008, dem Jahr der russischen Annexion Südossetiens und des Zusammenbruchs von Lehman Brothers, sind Gewissheiten der Vergangenheit in ihren Grundfesten erschüttert. Meine Rückkehr nach Wien als Rektor des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen fällt in eine Zeit, in der einige Ungeheuer erstanden sind, von denen keines gewalttätiger und zerstörerischer war, als es Russlands Einmarsch in die Ukraine ist. Auch wenn ich nicht mehr so optimistisch bin wie einst, als mich die Revolution und meine eigene Jugend aus der Glückseligkeit in den siebten Himmel beförderten, bin ich nach wie vor der festen Überzeugung, dass solide akademische Arbeit in Verbindung mit offenen Debatten und einer vernunftgeleiteten Politik noch vor den schlimmsten Auswüchsen dieser Ungeheuer bewahren können. Wir müssen erneut den Geist Michalskis heraufbeschwören. Und es gibt keinen besseren Ort als das IWM, um dies zu tun.