Politisches Delirium

Chronicle from Belarus
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Souveräne Macht verkörpert nur eine Instanz, die in der Lage ist, den Notstand auszurufen sowie Gesetze und Normen zu suspendieren. Schlimmer ist es, wenn sie es systematisch macht, und noch schlimmer, „wenn es nicht nur um die Gesetze geht“ (und zwar überhaupt nicht!), wie [der belarussische Leiter Alexander Lukaschenko im August 2020[1] feststellte. Im Ausnahmezustand, auch wenn er nicht offen erklärt wird, beginnt der Staat in einem Modus zu existieren, in dem moralische und rechtliche Ordnungen nicht mehr funktionieren können und brutale Handlungen nicht einmal eine Vergewaltigung des Rechts sind, sondern sich eine neue Antinorm bildet. Repression gegen Dissidenten oder Folter von politischen Gegnern – eine Anomie des Gewohnheitsrechts und ein „no go“ der traditionellen politischen Sphäre – im Ausnahmezustand wird zu einem Existenzstil und einem Credo des Regimes. Und zwar vor allem, wenn es sich seine Zukunft sehr düster vorstellt.

Die Verhängung des Ausnahmezustands ist für die souveräne Macht eine große Versuchung, da sie ihr erlaubt, sich an die von ihr selbst verabschiedeten Normen nicht mehr zu halten, „befreiend“ wirkt und ein Gefühl für enorme Möglichkeiten vermittelt. Ungefähr ähnliche Auswirkungen auf den Menschen haben Schockdosen von Alkohol: Sie befreien das normale Leben von Stress und tragen zur Entspannung bei. Aber was tut die derart befreite Regierung, wenn sie erkennt, dass sie ein Gefühl der Allmacht und Kontrolle über die Situation nur aufrechterhalten kann, während sie den Ausnahmezustand aufrechterhält?

Der Staat wird hier sozusagen zum Alkoholiker, der den Grad des Ausnahmezustandes immer weiter anhebt. Zunächst macht sich der Staat zur Gewohnheit, seine eigene Bevölkerung zu verhöhnen; um bei der Metapher des Alkoholismus zu bleiben, beginnt er bei seiner Liebsten – die ihn für eine andere verlassen wollte – und geht dann zu den Kindern über. Dann dehnt sich die Gewalt auf die Nachbarn aus, die sich natürlich über das Geschrei und das Klopfen an der Wand ärgern, das daraufhin ertönt. Die politische Führung, die ihre Wahlen [zum Amt des Präsidenten im August 2020, Anm. d. Übers.] verloren hat und weiß, dass sie in den Augen der Mehrheit keine Legitimität mehr besitzt, kommt zu dem Schluss, dass sie ihre frühere Position nur halten kann, indem sie die Spielregeln aufhebt, nach denen sie überhaupt erst verloren hat. Wenn alle Liebe verloren ist, versucht der Staat, sie durch Gewalt und Demütigung „zurückzuholen“. Und wenn schon nicht die Liebe [zurückzuholen ist], so [geht es ihm] doch zumindest um ihre Nachahmung oder um Unterwürfigkeit.

Und ab diesem Zeitpunkt sehen wir die Anfänge eines klassischen Falles von politischem Delirium, das sich bei jeder Person aber verschieden äußert. Betrachten wir den Fall des belarussischen Souveräns [gemeint: Lukaschenko, Anm. d. Übers.], so begann er damit, seine Bürger brutal auseinanderzujagen und zu foltern, und zwar zumindest so lange, bis das die durch Alkoholgewalt und Sondervollmachten entzündeten Gehirne erreichte: was dann aber nicht mehr verziehen werden wird. Es wurde notwendig, "die Dosis zu erhöhen" und alles zu zerstören, was mit dem normalen Leben zu tun hatte: Straßencafés; kreative Räume; Organisationen, die sich für den Schutz von Vögeln oder die Rechte von Menschen mit Behinderungen interessieren, und normale Medien, die ohne ästhetischen Schock gelesen werden können. Man kann die Institution der unabhängigen anwaltlichen Vertretung zerstören, man kann das Verwaltungsrecht so ändern, so dass selbst das Tragen eines roten Schals auf einer weißen Jacke[2] als nicht genehmigter Straßenprotest angesehen wird, und man kann eine mehrjährige Haftstrafe gegen jene verhängen, die irgendetwas auf den Bürgersteig gekritzelt haben. Denn das ist de facto das Recht, den Ausnahmezustand zu schaffen, das natürliche Recht des Souveräns, wie Carl Schmitt sagt.

Aber der Grad der politischen Inadäquatheit und uneingeschränkten Macht wächst weiter –wie bei einem Alkoholiker mit steigender Dosis.

Es wird weiter möglich:

  • Gewaltsam in die Wohnung der Nachbarn einzudringen, um die eigenen Familienmitglieder an den Haaren zu packen und dabei zu schreien: "Die Tür war nicht zu!" (mit anderen Worten: einen Ryanair-Flug, der zwei EU-Städte verbindet, zur Landung zwingen.[3])
  • Steine gegen die Fenster der Nachbarn werfen und alle möglichen schrecklichen Schimpfwörter ausstoßen, weil die einen ständig verurteilen; die Opfer der eigenen Gewalttaten müssen versteckt werden. Und schließlich grüßt man sich nicht mehr am Eingang (das heißt, durch einen künstlich herbeigeführten Zustrom von Wirtschaftsmigranten aus dem Osten wird ein hybrider Angriff [auf die EU] inszeniert).
  • Werden Sie drogensüchtig (oder geben Sie den Kindern von Migranten einfach Methadon, damit diese während des hybriden Angriffs nicht zu viel Lärm machen, und sagen Sie dann in einem CNN-Interview: "Sie werden es nie beweisen können!"[4])
  • Bedrohen Sie das Leben derjenigen, die Sie nicht respektieren (oder sagen Sie Litauern und Polen, dass Vilnius bzw. Białystok „uns gehört“, stellen Sie die Ukraine als Zentrum terroristischer Operationen dar und erklären Sie, dass "wir bereit sind, die Situation in der Ukraine zu normalisieren" – zusammen mit unserem russischen "großen Bruder").

All diese Handlungen einer souveränen Macht sind in der Tat ziemlich weit von den Grundsätzen der Realpolitik entfernt, die zu den bevorzugten zynischen Strategien von Bürokraten und populistischen Politikern gehört. Aber die Letzte wird im Hinblick auf bestimmte konkrete pragmatische Momente entwickelt. Wenn politischer Pragmatismus moralische Werte durch die Verwendung von Effizienzmerkmalen ersetzt, werden moralische Werte und Spielregeln durch ein politisches Delirium ersetzt, was in einen dunklen Abgrund führt. Die Gesellschaft ihrerseits stürzt in diesen Abgrund. So kommt es zum Bruch des Gesellschaftsvertrags, der (wenn man den Theorien von Thomas Hobbes und John Locke Glauben schenken will) die Grundlage jeder Gesellschaft ist. Der Staat verliert in den Augen seiner Bürger zunächst einige seiner Eigenschaften; er gilt nicht mehr als „eigener“ oder den Bürgern selbst zugehörig. Von diesem Zeitpunkt an wird jede seiner Handlungen als feindselig und zu vermeiden angesehen. Dann kommt die Zeit des massenhaften Ungehorsams der Bürger oder gar des bewaffneten Aufstandes, wenn die Menschen nicht mehr bereit sind, auch nur ein einziges der illegitimen „Gesetze“ zu tolerieren. Geschieht dies jedoch nicht, entsteht an der Stelle, wo früher eine Regierung war, ein Konzentrationslager.

Wo liegt der Fehler von Carl Schmitt, wenn wir seine Theorien heute anwenden? Er irrte sich, als er meinte, der Souverän hätte weiterhin das Recht, der Vollstrecker des von ihm gewollten Ausnahmezustands zu sein. Das Völkerrecht ist lange auf der Stelle getreten, bewegt sich aber schließlich auf Prinzipien zu, die in vielen europäischen Ländern bereits von der Jugendgerichtsbarkeit umgesetzt werden. Häusliche Gewalt oder Kindesmissbrauch ist nämlich keine Privatangelegenheit, sondern ein sozial gefährliches Phänomen. Ein alkoholkranker Vater, der seine Familie schlägt, wird zum Gegenstand von rechtlichen Beziehungen, in denen die Gesellschaft verletzte Rechte verteidigt. Auch auf internationaler Ebene zeichnet sich - nicht zuletzt aufgrund der Proteste in Belarus – eine langsame, aber zunehmende Abkehr vom Grundsatz cuius regio eius dextra (wessen Gebiet man ist, dessen Recht gilt) hin zum ius supra potestatem (das Recht steht höher als die Macht) ab. Dies lässt uns hoffen, dass wir in naher Zukunft Zeugen der Entstehung von internationalen Rechtsnormen werden, die es autokratischen und totalitären Herrschern verbieten, das Prinzip der grenzenlosen Macht über ihr Territorium und ihre Bevölkerung auszuüben. Andernfalls bleibt unsere derzeitige Politik eine Politik der häuslichen Gewalt inadäquater Souveräne in einem politischen Delirium.


[1] Lukaschenko fälschte damals die Ergebnisse der Präsidentenwahlen, Anm. d. Übers.

[2] Anspielung auf die weiß-rot-weiße belarussische Staatsflagge 1991-1995, die der Opposition bei ihren Protesten ab August 2020 als Symbol diente.

[3] Gemeint: Ein Vorfall vom 23. Mai 2021, als ein belarussisches Kampfflugzeug eine Passagiermaschine zur Landung in Minsk zwang, wo der Oppositionelle Raman Pratassawitsch festgenommen wurde; vgl. Martin Malek: The EU, the Lukashenka Regime in Belarus, and the Abduction of Raman Pratasevich. IWM, 26.05.2021, https://www.iwm.at/blog/the-eu-the-lukashenka-regime-in-belarus-and-the-abduction-of-raman-pratasevich (16.10.2021).

[4] Transcript: CNN interview with Belarus leader Alexander Lukashenko. CNN, 02.10.2021, https://edition.cnn.com/2021/10/02/europe/belarus-lukashenko-interview-transcript/index.html (16.10.2021).


Pavel Barkouski is an independent researcher in the field of philosophy and social science. From November to December 2020 he was a Visiting Fellow of IWM’s Eurasia in Global Dialogue program.

Martin Malek is an independent Austrian political scientist and contributor to the IWM Chronicle from Belarus.

Translated from Belarussian and edited by Martin Malek for IWM Chronicle from Belarus.
First published on Koine.Community. 
English version of the article published on IWM Chronicle from Belarus:
Political Delirium 


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