Wird “Nach” Corona nichts mehr so sein wie zuvor?

09.06.2020
Corona Diary

Alle Krisen und unter diesen zumal jene, die als Katastrophen wahrgenommen werden, sind nicht zuletzt durch ihr Gegenteil, den Normalfall definiert. Und der Übergang vom einen zum anderen Zustand wird eingeläutet durch „Warnung“ oder „Entwarnung“. In der Regel werden Katastrophen, die man überlebt hat, in den Normalfall integriert; sie werden zu „ganz normalen Katastrophen“, wie Charles Perrow das in anderem Zusammenhang und in anderer Absicht genannt hat. In Zeiten von Corona lernen wir gerade zusätzlich, dass es eine Vorstufe der Entwarnung gibt, die man als „Lockerung“ zu bezeichnen pflegt. Wie aber steht es in Sachen Corona mit der Entwarnung, auf die jetzt alle hoffen? Wird es die überhaupt jemals geben, oder werden wir uns auf Dauer in dem Übergangsstadium der Lockerung einrichten müssen?

Die Erinnerung an andere Katastrophen mag hier hilfreich sein: Die Formel, die sich uns aufgrund des Anschlags auf die New Yorker Twin Towers gleichsam eingebrannt hat, lautete „Nach 9/11 wird nichts mehr so sein wie zuvor“. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass das zwar zum Teil richtig, in der Generalisierung aber nach Kassandra-Art übertrieben ist. Gewiss: die Sicherheitsvorkehrungen in den Flughäfen sind verschärft worden; und es hat sich weltweit eine Allianz der Terrorbekämpfung gebildet; – aber sonst? Oder denken wir an welthistorische Katastrophen wie die Weltkriege oder gar den Holocaust. Wir wissen, dass es sogar einer eigenen Erinnerungspolitik bedarf, um wenigsten das „Nie wieder!“, das solchen Katastrophen eingeschrieben ist, im Gedächtnis zu behalten. Im Übrigen aber ist Rückkehr zur Tagesordnung angesagt.

Und genau deswegen wird gerade jetzt in der Dämmerung, in der besagte Eule der Minerva ihren Flug beginnt, auf Anderes zu achten sein, wenn wir uns die Frage stellen, ob es im engeren Sinne ein „Nach-Corona“ geben wird, oder ob es nicht vielmehr so sein wird, dass auch Corona – ebenso wie andere Katastrophen – in den Normalfall integriert werden wird. Solange wir noch angemessen beeindruckt sind und noch nicht alles in dem Acker der nächsten Normalität untergepflügt ist.

Die ver-rückte Zeit

Gewiss, vieles aus diesen Monaten, in denen die gesamte Erde zu einer neuen Art von „rasendem Stillstand“, um mit Virilio zu sprechen, gekommen zu sein schien, eingefroren in Homeoffice, Ausgangssperre, Quarantäne und Lockdown, wird in Erinnerung bleiben, vorwiegend allerdings in jener Erinnerung, die sich „anekdotisch“ nennen lässt. Dass wir uns – notgedrungen – Frisuren wachsen ließen, wie wir sie seit den Siebzigerjahren nicht mehr gesehen hatten, gehört hierher. Ebenso wie der gemeinsame abendliche Gesang über die Strassen einiger norditalienischer Städte hinweg. Oder wie die Tatsache, dass aus Eltern Lehrer und aus Lehrern digitale Showmaster wurden.

Die Philosophie jedoch hat die Aufgabe, die Erfahrungen mit Phänomenen zur Sprache zu bringen, die in Vergessenheit geraten könnten, obwohl sie von fundamentaler anthropologischer Bedeutung sind. Ich denke da vordringlich an die Erschütterung von gelebten Selbstverständlichkeiten der Zeitwahrnehmung, die sich als existenzielle Grunderfahrung am Rande unseres Bewusstseins abspielen. Für diese drängen sich mir die Begriffe „Ver-rückung“ oder „Ver-schiebung der Zeit“ auf, in dem Sinne, in dem im Rahmen des Fußballs von einer „Verschiebung“ eines Spielresultats gesprochen wird. Um diese Verrückung oder Verschiebung soll es im Folgenden gehen.

Was genau geschah eigentlich mit uns, als wir plötzlich vor verschlossenen Bürotüren standen, als wir begannen, unsere alltäglichen Routinen durch digitalisierte Kommunikationsstrategien „zu Hause“ zu ersetzen? War es, wie zunächst vermutet, einfach nur die Verlängerung der Zeit im Homeoffice gegenüber derjenigen im Büro, die Ersetzung des Hörsaals oder Besprechungsraums durch Webex oder Microsoft Teams? Obwohl begrifflich nur schwer zu erfassen, schien jedoch etwas anderes mit uns zu geschehen. Nicht nur die begrifflichen Kategorien, mit deren Hilfe wir unser Leben zu organisieren gelernt hatten, sondern auch die Gefühle, in die sie eingebettet sind, verschoben sich zusehends.

Denken wir nur an Arbeit und Urlaub: Viele – unter anderen auch ich selbst – haben zunächst versucht, sich in der Phase des Lockdowns dadurch einzurichten, dass die erzwungene Abwesenheit vom Arbeitsplatz als mehrwöchige Verlängerung des Urlaubs betrachtet wurde. Dass diese Strategie schon bald in sich zusammenfiel, hatte nur auf den ersten Blick seinen Grund darin, dass ein entscheidendes Freiheitselement des Urlaubs, nämlich die Möglichkeit, diesen potenziell an jedem Ort der Erde verbringen zu können, entfiel. Die Schließung der Grenzen und die damit einhergehende Aufhebung der unbeschränkten Reisefreiheit ersetzte schon bald diese Vorstellung durch ein in eine andere Richtung verschobenes Gefühl, demjenigen der Bürgerinnen und Bürger in der DDR vielleicht nicht ganz unähnlich. In philosophischer Terminologie: Arbeitszeit und Freizeit sind Reflexionsbegriffe; verschiebt sich der eine, ist auch der andere nicht mehr der Alte. In dem Moment, in dem die Maloche ein anderes Gesicht annimmt, schmeckt auch das Dolce far niente nicht mehr so süß. Und in demselben Zusammenhang ist das zum Office mutierende Zuhause eben auch nicht mehr „home sweet home“.

Wer hätte sich in Vor-Corona-Zeiten nicht schon über die elenden überflüssigen Sitzungen beklagt, die einen so viel wertvolle Zeit kosten, die sich hätte nutzbringender in kreative Tätigkeit investieren lassen? Dass deren Ersetzung durch Videokonferenzen daran auch nicht viel ändert, aber mit Sicherheit sehr viel anstrengender ist, ist eine Erfahrung, über die wir jetzt alle verfügen. Ob wir das nun bedauern oder begrüßen, sicher ist jedenfalls, dass unsere Lebensstrukturierung in unserer Wahrnehmung verschoben wird. Und zwar so, dass nicht nur die Bewertung, sondern sogar schon die begriffliche Unterscheidung ver-rückt wird. „Skype“ fühlt sich bereits wie aus einer anderen, untergegangenen Welt an. Der „Call“ und die „Zoom“-Konferenz sind zum Taktgeber des Alltags geworden, der gegenüber dem Feiertag so ausfranst, dass er wie ein Krebsgeschwür in diesen hineinwuchert.

Analoges gilt für Dienstreisen oder für, wie es in der Vor-Coronazeit noch hieß, „Quality Time“ mit der Familie, mit Freunden und Bekannten. Dass man sich eine Zeitlang – besonders, wenn man einer „Risikogruppe“ angehörte – nur noch mit wenigen Menschen treffen konnte, war nur die eine, die äußere Seite. Was hingegen auch in der „Lockerung“ bleibt, ist die Verunsicherung und das Gefühl des Befremdens: Dass jemand, der eine Bank betritt, explizit dazu aufgefordert wird, eine Maske anzulegen, hat seinen surrealen Charakter bereits verloren. Die Alltäglichkeit des Vermummungsverbots ist derjenigen der Vermummungspflicht gewichen.

Und das trifft nicht zuletzt für so elementare begriffliche Strukturen wie den Unterschied zwischen real und virtuell oder analog und digital zu. Der Digitalisierungsschub etwa, den Corona in den Bildungseinrichtungen von den Kindergärten über die allgemeinbildenden Schulen bis zu den Hochschulen ausgelöst hat, hätte unter Bedingungen der Vor-Coronazeit Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte erfordert.

Wenn wir unter Zeit nicht nur den objektiv messbaren unumkehrbaren Richtungspfeil der Ereignisse, sondern das, was uns als Menschen bestimmt, verstehen, haben wir die Erfahrung gemacht, „aus der Zeit gefallen“ zu sein. Und das wird besonders deutlich an jener anthropologischen Grundverfassung, die dem Zeitpfeil zugrunde liegt; in der phänomenologisch orientierten philosophischen Hermeneutik eines Martin Heidegger etwa wird sie „Zeitlichkeit“ genannt und bestimmt uns in unserem Selbstbewusstsein: Wir sind Wesen, die sich nur aus dem Sich-selbst-immer-schon-voraus verstehen lassen: aus unserem Planen und Entwerfen. Für uns Menschen ist Zeit immer schon vordringlich Zukunft.

Was aber heißt Zukunft in jenem Wartesaal, den wir als den der „Lockerung“ kennengelernt haben? Wie planen wir eine Zukunft, wenn diese – bis in die Details unserer Terminkalender hinein – immer unter Coronavorbehalt stehen? Wie vereinbaren wir Termine, wenn ihnen das, was sie im Wortsinne ausmacht, nämlich ihre raum-zeitliche Begrenzung, ihre Sicherheit und Verlässlichkeit, fehlt? Und zwar nicht aus kontingenten Gründen wie etwa individueller Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit, sondern mit Notwendigkeit.

Was bleibt?

Kein Zweifel, wir werden uns auch daran gewöhnen, dass die Grenzen zwischen real und surreal ebenso wie diejenigen zwischen real und virtuell oder zwischen analog und digital und letztlich auch zwischen „vergangen“, „gegenwärtig“ und „zukünftig“ de facto verschoben sind. Die ver-rückte Zeit wird Bestandteil der „normalen“ werden. Und wir werden uns vermutlich eines Tages ebenso selbstverständlich im Herbst unsere Covid-19-Impfung bei unserem Hausarzt abholen, wie viele von uns das schon heute mit der allgemeinen Grippeimpfung tun.

Und selbstverständlich wird es dann auch keineswegs so sein, dass „nach Corona“ nichts mehr so sein wird wie vorher. Selbstverständlich werden wir – kompensatorisch – alles das wieder im Übermass tun, was wir in der Coronazeit und besonders in der Phase der „Lockerung“ entweder gar nicht tun durften oder wovon abgeraten wurde. Aber vielleicht werden wir uns ab und zu daran erinnern, dass wir kurzfristig in einer „ver-rückten Zeit“ gelebt haben, in der nichts mehr war wie vorher. Und vielleicht werden wir uns auch daran erinnern, dass wir in dieser ver-rückten Zeit so verrückt waren zu glauben, dass sich alles ändern und nichts mehr so sein könnte wie vorher…

9. Juni 2020.

Walther Ch. Zimmerli, Philosoph, ist Honorarprofessor «Geist und Technologie» an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von Oktober bis Dezember 2019 war er Visiting Fellow am IWM.