Die ukrainische Hungerkrise von 1933 und Österreich

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Vor dem Hintergrund der Hungersnot in der Ukraine in den 1930er Jahren ist auf dem Altar der österreichisch-sowjetischen Beziehungen viel geopfert worden. Die Geschichte dieser Beziehungen ist noch nicht geschrieben.

Der Frühling 1933 verhieß in Österreich nichts Gutes: Nach der Parlamentskrise im März 1933 kam es zum Zusammenbruch des demokratischen Systems und dem Beginn einer Ära des Autoritarismus. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und dem Reichstagsbrand war es nur eine Frage der Zeit bis Österreichs nationalsozialistische Opposition Rückenwind für eine Vereinigung mit dem Reich erhalten würde.

Das Jahr 1933 war für die Sowjetunion gleichermaßen einschneidend, und zwar sowohl außenpolitisch (man denke an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den USA) als auch im Bereich der Innenpolitik. Im Januar verkündete Stalin den großen wirtschaftlichen Erfolg des Fünfjahresplans 1928-1933: Während die Welt weiterhin von der Wirtschaftskrise angeschlagen war, würde die Sowjetunion immer stärker. Und die Welt glaubte an dieses vermeintliche Wunder.

In Wirklichkeit vollzog sich in der UdSSR kein Wunder. Entgegen einer bis heute verbreiteten Überzeugung lässt sich die damalige Entwicklung weniger mit „Industrialisierung“ oder „Modernisierung“ und vielmehr mit „Militarisierung“ umschreiben. Zur selben Zeit wurde die Kollektivierung durchgesetzt, welche die Bauern in den fruchtbarsten Regionen der UdSSR – nämlich in der Ukraine, dem Kuban-Gebiet und der Autonomen Republik der Wolgadeutschen – am schlimmsten zu spüren bekamen. Die Kollektivierung hatte gerade dort verheerende Auswirkungen, weil sie eine restriktive Regierungspolitik (Entkulakisierung) mit Repressionen gegenüber Nationalitäten, welche als Feinde des Regimes eingestuft wurden, verband. Im Einklang mit Stalins längerfristigen Kriegsvorbereitungen sollten die westlichen Gebiete der UdSSR, allen voran die Ukraine, als sicheres Hinterland fungieren. Kurzfristiges Ziel war die Gewinnung von möglichst viel Getreide für den Export, d.h. für die Sicherung von Devisen, die für die Weiterführung der „Industrialisierung“ unerlässlich waren, sowie für den „internen Export“, d.h. die Drainage von Kolonieressourcen und deren Überführung in Industriegebiete in den Tiefen Russlands. Sorgfältig geheim gehalten war dabei die Ausschaltung der potenziellen Bedrohung, die die ukrainische Bauernschaft und die Bevölkerung der Wolgadeutschen für diese Pläne bedeutete. Dazu wurde eine künstliche Hungersnot herbeigeführt, welcher allein in der Ukraine nicht weniger als vier Millionen Menschen zum Opfer fielen. Im Frühling 1933 erreichte die Hungerkrise ihren Höhepunkt. Die Regierung verhängte eine Sperre der von Hunger betroffenen Regionen und schloss die Binnengrenzen der sowjetischen Ukraine, so dass Bauern nicht ausreisen konnten.

Obwohl die Welt über die Hungerkrise ausreichend informiert war, ließ eine Reaktion auf sich warten. Als Hauptbedrohung für den Frieden galt nämlich Hitlers Machtergreifung. Die UdSSR wurde als potenzielles Gegengewicht zum Dritten Reich gesehen. Es gab auch einen ökonomischen Beweggrund: die verlockende Perspektive einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland. Wie sich kaum einige Jahre später herausstellen sollte, war das ein schwerwiegender Fehler, welcher zig Millionen Menschenleben kostete.

1933 diagnostizierte Olgierd Hipolit Boczkowski, ein in Prag lebender ukrainischer Soziologe, politischer Publizist und sozialistischer Aktivist, Bolschewismus und Faschismus seien siamesische Zwillinge. Ein Jahr später kommentierte er die Reaktion der Weltöffentlichkeit auf die sowjetische Vernichtungspolitik gegen die eigene Bevölkerung mit den Worten: „Die Welt war über die Hungerkatastrophe in der Sowjetunion gut informiert. Es ist eine andere Sache, dass sie auf diese Katastrophe nicht reagierte, dass sie der massenhaft an Hunger sterbenden Bevölkerung auf der anderen Seite der sowjetischen Grenze nicht zur Hilfe kam“. 1936 bezeichnete er das Dreieck „Moskau – Rom – Berlin“ als größte Bedrohung für den Frieden in Europa und auf der Welt.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass es Menschen aus der Ukraine waren, die vor einer Verbindung zwischen Faschismus und Bolschewismus warnten. Die Hungerkatastrophe war eine existenzielle Bedrohung für ihre Brüder und Schwestern in der sowjetischen Ukraine. Im Gegenzug bezichtigte die sowjetische Regierung sie der Zusammenarbeit mir Hitler. Die Weltöffentlichkeit wurde in diesem Glauben bestärkt, weil es der einfachste Weg war, die Aufmerksamkeit von den sowjetischen Gräueltaten abzulenken. Er erwies sich als erfolgreich.

Die Politik Österreichs, welches seine Unabhängigkeit von Deutschland zu wahren suchte, war keine Ausnahme vom weltweiten Trend, der gute Beziehungen zu der UdSSR priorisierte. Und dies geschah trotz des Bündnisses Österreichs mit dem faschistischen Italien und der Gefahr, welche die Unterstützung der österreichischen Kommunisten seitens der UdSSR bedeutete. Bald sollte die Pflege dieser Verbindungen die Beziehungen mit den kirchlichen Autoritäten in Österreich auf die Probe stellen.

Im Sommer 1933 wandte sich der griechisch-katholische Großerzbischof von Lemberg, Metropolit Andrej Scheptyzkyj, an den Erzbischof von Wien, Kardinal Theodor Innitzer. Im Hirtenbrief „Ukraine in Todeskrämpfen“ rief er die Gläubigen und die christliche Welt auf, der an Hunger sterbenden Bevölkerung der sowjetischen Ukraine Hilfe zu leisten. Einige Tage später wurde der Brief von der Reichspost, der größten katholischen, Regierungskreisen nahestehenden Zeitschrift Österreichs, abgedruckt.

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Daraufhin appellierte Kardinal Innitzer – im Einvernehmen mit dem Heiligen Stuhl – um Bereitstellung internationaler Hilfe für die Hungernden. Der Appell wurde von den einflussreichsten Zeitungen der Welt abgedruckt. Im Herbst rief Innitzer das Interkonfessionelle und Internationale Hilfskomitee für die Hungergebiete in der Sowjetunion ins Leben und ordnete eine Tagung aller Hilfsorganisationen an. Zum Ehrensekretär des Komitees wurde Ewald Ammende, ein in Wien ansässiger Baltendeutscher, Mitbegründer und Generalsekretär des Europäischen Nationalitätenkongresses, ernannt. Ammende besaß große organisatorische Erfahrung. 1921-1923 hatte er die Hilfsmaßnahmen für Hungerleidende in Russland koordiniert.

Die sowjetische Regierung reagierte prompt: Der sowjetische Botschafter in Wien intervenierte, und auch der österreichische Botschafter in Moskau wurde zitiert. Die sowjetische Presse verneinte die Existenz einer Hungerkrise und griff die Organisatoren der Katastrophenhilfe an. Im Visier befand sich anfangs Ammende: Er wurde als Instrument deutscher Propaganda diffamiert. Zugleich wurde Österreich auf eine Stufe mit dem Dritten Reich gestellt. Kardinal Innitzer kam eher glimpflich davon und wurde „nur” als „Pfaffe” bezeichnet.

Die Reaktion der österreichischen Behörden war leicht vorhersehbar: Um der guten Beziehungen zur UdSSR willen wurde beschlossen, Kardinal Innitzer aufzuhalten. Aufgrund der Autorität der Kirche geschah dies auf Umwegen. Der österreichische Botschafter in Rom wurde gebeten, sich mit dem Kardinal zu treffen. Innitzer kam im Herbst 1933 in den Vatikan, u.a. um dem Papst die Aktivitäten des Komitees vorzustellen. Der Botschafter setzte den Kardinal über die vermeintlichen Verbindungen von Ammende zu Goebbels in Kenntnis und erbot sich das Versprechen, während des Treffens mit dem Papst die Hilfe für die Hungerleidenden nicht zu erörtern. Auf diese Weise wurde einerseits der Handlungsspielraum des Komitees auf internationaler Ebene geschmälert und andererseits Ammendes Ruf geschädigt.

Die sowjetische Regierung hatte ihr Ziel beinahe erreicht. Da es ihr allerdings nicht gelungen war, das Komitee gänzlich zu lähmen, bediente sie sich in den folgenden zwei Jahren bewährter Methoden: Kompromittierung und Erpressung. Die sowjetische Presse beschuldigte Innitzer, ein „Geldeintreiber Vatikans“ zu sein, und behauptete, die vom Komitee für die Hungerleidendenden in der UdSSR gesammelten Mittel würden in Wirklichkeit die Bedürfnisse des Klerus befriedigen. Ammende wurde mit vermeintlichen homosexuellen Beziehungen – einer zu jener Zeit strafbaren Handlung – erpresst. Er verstarb unerwartet im Frühling 1936, einige Monate nach der Veröffentlichung seines Buches über die Ursachen der Hungersnot, die von den sowjetischen Behörden geleugnet wurde und in der Weltöffentlichkeit keine Beachtung fand. Die Umstände seines Todes ähnelten jenen von Gareth Jones, einem britischen Journalisten, dessen Reportagen über die hungernde Ukraine es für die Sowjets erschwerten, die Hungersnot als „faschistische Propaganda“ darzustellen.

Während Kardinal Innitzer überlebte, um von den Völkern der Welt als Gerechter verehrt zu werden, konnte Ammende seinen Ruf nicht wiederherstellen. Über die österreichisch-sowjetischen Beziehungen, für welche man nicht nur das Ansehen des Kardinals opferte, wurde bislang noch nicht berichtet.


Ola Hnatiuk ist Professorin an der Mohyla-Akademie Kiew und emeritierte Profesorin der Universität Warschau. 2024 war sie Jerzy Giedroyc Fellow am IWM.