Die postkoloniale Demokratiekritik macht auf Widersprüche im Demokratieverständnis und in der Demokratiepraxis des Westens/Nordens aufmerksam und zwingt diesen, sich mit unangenehmen Fragen auseinanderzusetzen. Martin Nonhoff erläutert die Folgen dieser Kritik für die Demokratietheorie.
Wofür ist die Demokratie gut, wenn die international erhobene Forderung nach ihr einhergeht mit neokolonialer Überwältigung und globaler Ausbeutung? Warum soll man Demokratie für erstrebenswert halten, solange sie nicht schützt vor rassistischer Herablassung und weitgehender – oft ebenfalls von Rassismus durchdrungener – Gleichgültigkeit angesichts des abertausendfachen Sterbens auf den Migrationsrouten gen Europa und Nordamerika? Es ist die postkoloniale Demokratiekritik, die uns zur Auseinandersetzung mit solchen Fragen drängt und uns damit die Möglichkeit eröffnet, noch einmal ganz grundsätzlich danach zu fragen, warum wir eigentlich Demokrat:innen sein wollen. Diese Frage an uns als Bürger:innen ist verwoben mit der Frage an die Demokratietheorie, wie man sinnvollerweise ihre Kernaufgabe beschreiben sollte. Unter den vielen Gesichtspunkten, die sich aus einer Auseinandersetzung mit postkolonialer und/oder anti-imperialistischer Demokratiekritik herausarbeiten ließen, will ich an dieser Stelle drei aufgreifen: die offenkundig strategischen Elemente des Demokratiediskurses in der internationalen Politik; die unterambitionierte Demokratiekonzeption, die dabei eine Rolle spielt; und die Verwobenheit von moderner Demokratie und Rassismus.
Erstens fällt es oft nicht besonders schwer, den Verweis westlicher Regierungen auf Demokratie als Leitwert als strategischen Spielzug einzuordnen. Die Kritik, dass auf Demokratie vor allem verwiesen wird, um Länder des globalen Südens disziplinieren zu können, muss nicht immer so harsch ausfallen wie etwa bei dem türkischamerikanischen Theoretiker Ferit Güven, der von der „Tyrannei der Demokratie“ spricht. Aber es ist ein wiederkehrendes Muster, dass dann, wenn westliche Staaten zu Krisen im globalen Süden Stellung beziehen, sie zwar einerseits Demokratie oder wenigstens „freie und faire“ Wahlen einfordern; aber dass andererseits die Proteste allenfalls zurückhaltend ausfallen, wenn eine gewählte, aber unerwünschte Regierung gewaltsam beseitigt wird, sofern der Putsch das betreffende Land für westlichen Einfluss offen gestaltet und insbesondere den Marktzugang ermöglicht. Der Sturz Allendes 1973 in Chile ebenso wie der Sturz Mursis 2013 in Ägypten bilden nur die bekanntesten Beispiele dafür, dass die eigenen Demokratieforderungen immer wieder hintangestellt und damit entwertet werden. Und so kann es nicht wirklich überraschen, wenn etwa der puertoricanische Soziologe Ramón Grosfoguel den seitens westlicher Organisationen und Staaten gerne festgestellten Mangel an Demokratie in Ländern des globalen Südens in eine Reihe stellt mit dem früher bemerkten Mangel an Zivilisation oder an Entwicklung – nämlich als eine weitere Rechtfertigung für die fortgesetzte Beherrschung des Südens durch den Westen/Norden.
Zweitens verdeutlicht die postkoloniale Demokratiekritik, dass westliche Demokratieforderungen nicht nur oft Alibiforderungen sind, sondern dass sie zudem ein sehr schmales, staatlich-liberales Verständnis von Demokratie zugrunde legen. Nach einem solchen schmalen Verständnis erschöpft sich Demokratie im regelmäßigen Akt der Stimmabgabe, der damit verbundenen Option des Austauschs der politischen Eliten und in der Garantie freien Warenverkehrs. Die Vielfalt von egalitären und freiheitlichen Praxen on the ground gerät dabei leicht aus dem Blick, ebenso die radikaldemokratische Grundidee, dass sich Menschen auf gleicher Augenhöhe begegnen können müssen, wenn sie tatsächlich als freie Gleiche miteinander verkehren wollen. In diesem Zusammenhang geht es um wesentlich mehr als Wahlen, nämlich um gesellschaftsdurchdringende Demokratie, zum Beispiel auch in ökonomischen oder religiösen Bereichen – darum, die eigene Stimme als Gleiche:r erheben zu können und ernst genommen zu werden. Zugleich tauchen hier die eingangs gestellten Fragen auf, die in postkolonialen Kontexten besonders virulent sind: Was ist eine Demokratie wert, wenn sie nicht von Beginn an anti-rassistisch und anti-klassistisch ist? Was nützt sie, wenn man immer noch gegenüber den ehemaligen Kolonialherren oder den lokalen Eliten buckeln muss? Gesellschaftliche Unterwerfungsverhältnisse (lokaler, nationaler und transnationaler Art) sind jedenfalls nicht einfach beseitigt, wenn man „freie und faire Wahlen“ und Marktwirtschaft oktroyiert, also genau das als Ideal verkauft, was etwa James Tully als „lowintensity democracy“ bezeichnet.
Drittens sind rassistische Strukturen nicht nur ein mehr oder weniger kontingentes Problem für die Demokratie, sondern – und diese Beobachtung ist im Diskurs postkolonialer Theoriebildung von zentraler Bedeutung – die Geschichte der modernen Demokratie ist aufs Engste verwoben mit einem rassistisch-kolonialen Dispositiv. Die postkoloniale Kritik hat immer wieder – jüngst zum Beispiel in Gestalt von Achille Mbembe – darauf hingewiesen, dass es den Kolonialmächten (und ihren staatlichen Nachfolgern wie den USA oder Südafrika) ohne viel Aufhebens möglich war, in ein und demselben Rechtsrahmen egalitäre Praxen für die einen und Praxen der Unterwerfung für die anderen festzuschreiben. Sklaverei, Apartheid und verschiedene koloniale Massaker gehören zur Geschichte der modernen Demokratie ebenso wie das Versprechen auf die gewaltfreie Selbstregierung von Freien und Gleichen. Dass beides kognitiv zu vereinbaren war, lässt sich nur dadurch erklären, dass sich das abstrakte Denken von Freiheit und Gleichheit immer wieder mit einem konkreten Rassismus verband, der es erlaubte, nur bestimmte, in Bezug auf Herkunft und körperliche Erscheinungsform „geeignet“ erscheinende Menschen zu den Freien und Gleichen zu zählen. Dass die rassistische Ideologie, die die moderne Demokratie begleitet, heute keineswegs ad acta gelegt wurde, belegt zum Beispiel die verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber dem migrantischen Sterben im Mittelmeer, aber auch die Tatsache, dass die von westlichen Konzernen etablierten Gewaltregime, die regelmäßig mit der Ausbeutung wichtiger Ressourcen im globalen Süden einhergehen, kaum geahndet werden. Ganz offensichtlich sind in Demokratien menschliche Opfer auf unterschiedliche Weise betrauerbar – und ob sie betrauert werden, hängt ganz wesentlich mit hierarchisierenden und rassifizierenden Markierungen zusammen.
Die nun kurz umrissene postkoloniale Demokratiekritik legt vier Konsequenzen nahe: Erstens hilft sie uns, uns wieder daran zu erinnern, dass hinter den liberal-demokratischen Staatsformen eine unbedingte Idee gleicher Freiheit (und von Selbstregierung der gleichen Freien) liegt; unbedingt in dem Sinn, dass es um die gleiche Freiheit aller geht. Zweitens ist es im Anschluss hieran zwingend erforderlich, die Geschichte der Demokratie nicht einfach als Idealgeschichte zu zeichnen, in der sich der demokratischemanzipierende Geist zwangsläufig in liberalen Staatsordnungen manifestiert. Wenn wir übersehen, dass sich in der Geschichte der Demokratie Licht (das Versprechen einer Selbstregierung der freien Gleichen) und Schatten (Sklaverei, kolonialisierende Unterwerfung, tötende Grenzpolitiken) vermengen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Schattenseiten immer und immer wieder wiederkehren. Drittens kann sich die Demokratietheorie nicht damit bescheiden – so interessant das mitunter auch sein mag – ideale liberal-demokratische Institutionenordnungen zu entwerfen und deren Inkraftsetzung zu vermessen. Sie muss vielmehr ihr Augenmerk einerseits auf die Vielfalt demokratiestützender, egalitärer und freiheitlicher Praxen und andererseits auf die demokratiegefährdenden, anti-egalitären und anti-freiheitlichen Unterwerfungspraxen richten. Die Kämpfe, die aus dem Gegenüber dieser beiden Praxisformen resultieren, bilden das Material einer Theorie radikaler Demokratie, die sich die Kritik von Unterwerfung zur zentralen Aufgabe macht. Viertens muss das Ziel lauten – auch wenn es wohl stets nur unvollständig erreicht wird – die demokratischen Kämpfe tatsächlich global zu untersuchen und so – mit Boaventura de Sousa Santos gesprochen – in die Demokratietheorie Epistemologien des Südens einzuschreiben.
Martin Nonhoff ist Professor für Politische Theorie am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen. Von April bis Juli 2021 war er Fellow am IWM.