Bernd Marin: Die Welt danach: Leben, Arbeit und Wohlfahrt nach dem Corona-Camp

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​​​​„Österreichs renommiertester Sozialforscher“ (trend) im Dialog über Quarantäne und Wege aus der Corona-Krise.

Wie kann Leben, Arbeit und Wohlfahrt nach der akuten Gesundheits- und Wirtschaftskrise nachhaltig erneuert werden?

Aus Interviews entwickelt sich ein neues Format als Mix aus sozialwissenschaftlicher Studie, investigativer Recherche und Publizistik. Eine informative Chronik der Verschränkung von objektivem Pech und institutionellem Versagen – etwa am Beispiel der „italienischen Tragödie“ und ihrer europäischen Bedeutung. Denn in der Pandemiepolitik interagieren schicksalshaft schierer Zufall, also Glück/Unglück, einerseits und Geschick/Ungeschick anderseits. Wir sehen kuriose bürokratische Fehlleistungen, Dummheit und Indolenz neben kollektivem Lernen, kluger Strategiewahl, intelligenter Steuerung und administrativer Improvisationsgabe. 

Das Buch bietet verständliche Antworten auf häufige Fragen zur Corona-Krise; genaue, evidenzbasierte Beobachtungen; Zahlen und Fakten; spannende Fallgeschichten; anregende Denkanstöße; und originelle Reflexionen über Europas mögliche Zukünfte inmitten großer Ungewissheiten und Halbwissen.

Der Direktor des Europäischen Bureau für Politikberatung und Sozialforschung Bernd Marin war vom September 2019 bis Juni 2020 IWM-Fellow im Rahmen des Programms Europe’s Futures – Ideas for Action. Während dieser Zeit hat Bernd Marin das Buch "Die Welt danach: Leben, Arbeit und Wohlfahrt nach dem Corona-Camp" verfasst, das im März 2021 im Falter-Verlag erschienen ist.

Leseprobe 

Eine Welt ohne oder nach oder eine andere, vielleicht sogar bessere Welt mit Corona?

„Eine Welt ohne oder nach Corona wird es leider kaum geben, sondern wohl nur eine andere, paradoxerweise wahrscheinlich sogar viel bessere Welt mit Corona. Sie wird eine recht bald schon harmlos millionenfach „durchseuchte“, zugleich mit Medika- menten und Impfstoffen besser geschützte sein. Ob in dieser Welt trotz und mit Corona letztlich vielleicht doch noch alles gut ‒ oder jedenfalls wenigstens besser als bisher ‒ wird hängt neben gemeinschaftsimmunisierender Durchimpfung der Bevölkerung vor allem an voller Wiederherstellung wirtschaftlicher Normalität und aller demokratischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten. Nur das kann die lähmende Angst und bedrückend atemabschnürende Enge dieser Episode wie einen schlimmen Fieberalbtraum erscheinen lassen. Dabei zeigte sich, was wissenschaftlicher Erfindungsgeist vermag, ohne doch Vernunft zu verbürgen und per se gegen Panik, Tunnelblick, wirtschaftliche Selbststrangulierung, kollektiven Wahn und demoralisierende Korruption zu immunisieren.

Inzwischen starben Millionen Menschen nicht nur an oder mit  sondern ‒ geschätzt etwa die Hälfte mehr bis doppelt so viele ‒ohne aber wegen Corona. Ersteres könnte sich nach Maßgabe wirksamer Massendurchimpfung sehr bald, Zweiteres auf vorerst unabsehbare Zeit kaum ändern lassen, zu groß und teils unumkehrbar sind längst die bereits eingetretenen wirtschaftlichen und sozialen Folgeschäden. Womöglich werden auch weiterhin weniger von uns am Virus und der Pandemie selbst als an den Kollateralschäden teils missglückter Versuche umfassenden Seuchenmanagements und weltweiter Massenarbeitslosigkeit gesunde Lebensjahre einbüßen und vorzeitig zu Tode kommen.

Erst eine illusionslose Kenntnisnahme erlittener Verluste und gelungene Trauerarbeit an schmerzlichen Traumata wird uns wieder frei machen für neue Lebenschancen. Erst dann kann der kreative Fokus auf die Vielfalt erreichter Wissenszugewinne, diagnostischer und therapeutischer Erfolge, steiler wissenschaftlicher und institutioneller Lernkurven die grundsätzlich zahllosen Innovationen und möglichen Kollateralnutzen in allen Lebensbereichen in den Blick nehmen. Das Entdecken ungeahnten, erstaunlichen Kollateralnutzens wird sich als wichtigster Treiber einer Welle sozialer Innovationen erweisen, die wir erwarten dürfen. Sie werden unsere Lebensqualität steigern und eine neue Balance zwischen materieller Wertschöpfung und Wohlbefinden schaffen.

Die westliche Welt hat 2020/2021 in der Pandemiepolitik und im Seuchenmanagement großteils versagt, sowohl im globalen Vergleich mit asiatischen Ländern wie auch in der EU, bemessen an eigenen stolzen Maßstäben des Europäischen Sozialmodells. So bleibt als künftiger Vorteil nur die Chance auf rasches und nachhaltiges Lernen aus der Analyse gescheiterter Bemühungen und vergangener Misserfolge. Langfristige Frühwarnsysteme und rechtzeitige Präventionspläne, korrekte Risikobewertung und verständliche Krisenkommunikation sowie ein „vereinteres Europa“ sind Voraussetzungen erfolgreicher Seuchenbekämpfung und einer Minimierung unvermeidlicher, aber eben nicht wie bisher ganz unverhältnismäßiger Kollateralschäden.

Es gibt keinen Grund für Pessismismus aus Prinzip. Warum sollten wir bezüglich Risikomanagement der alljährlichen Grippe- und Virensaisonen ‒ und allgemeiner der Hygiene und Patientensicherheit im Gesundheitssystem, in ärztlichen Wartezimmern, Ordinationen, Ambulanzen, Spitälern, geriatrischen Kliniken, in Alten- und Pflegeheimen, Reha-Einrichtungen usw. ‒ künftig weniger erfolgreich sein als im letzten und vorletzten Jahrhundert bei den eindrucksvollen Fortschritten gegen Kindbettfieber der Mütter, Säuglings- und Kindersterblichkeit und ansteckende Krankheiten sowie in den letzten Jahrzehnten gegen tödliche und invalidisierende Verkehrs- und Arbeitsunfälle?

Doch in einer von magischen Zahlen beherrschten Copycat World wird sich ein Erfolg solcher Anstrengungen erst mit ihrer global institutionalisierten Verankerung als messbaren Größen auf Dashboards einstellen. Das gilt etwa für vorzeitige Todesfälle und verlorene gesunde Lebensjahre nicht nur bestimmter Seuchen und Krankheiten, sondern auch anderer Übel und Elends wie Massenarbeitslosigkeit, Armut, Not und Entbehrung, Hunger, Unwissen, Unglück und Verzweiflung bis zum Suizid. Noch vor Corona nahmen sich 800.000 Menschen Jahr für Jahr ihr als unerträglich empfundenes Leben. Freilich können erst sichtbar gewordenes, erfahrbares Leid und Schmerz beachtet, berücksichtigt und wirksam bekämpft werden. Das meiste Unheil liegt, wie wir sehen, selbst in Pandemiezeiten weit diesseits von Corona.“

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