Till van Rahden ist Historiker und lehrt Deutschland- und Europastudien an der Université de Montréal in Kanada (Canada Research Chair). Ferner ist er Adjunct Research Professor an der Carleton University.
Zu ungeduldig für Demokratie? Ein kurzer Kommentar zum Buch “Demokratie – Eine gefährdete Lebensform” von Till van Rahden
von Jakob Fürst
Till van Rahdens Buch beginnt dort, wo viele politische Analysen unserer Zeit enden: die liberalen Demokratien verfallen, degenerieren, gehen nieder – ein Urteil, das einerseits allgegenwärtig zu sein scheint, andererseits neben einer gewissen Faszination für das Untergangsspektakel auch Ungeduld vermittelt. Ist es endlich soweit? Sind liberale Demokratien nun endlich dort, wo wir sie seit Jahrzehnten hinschreiben? Werden sie nun endlich abgelöst von dem, was da kommen mag?
Dieser Form der menschlichen Ungeduld begegnen wir in „Demokratie – Eine gefährdete Lebensform“ immer wieder: bei Theodor Heuss‘ „Piefke aus Moabit“, der lieber heute als morgen „Herrenmensch und Held“ sein will und dafür in den 1930er- und 1940er-Jahren sogar Weltkrieg und Völkermord in Kauf nimmt; bei den Westdeutschen der 1950er- und 1960er-Jahre, die sich in ihrer Sehnsucht danach, nach der selbstverschuldeten Massengewalt endlich wieder „normal“ zu sein (am besten international überhaupt gar nicht mehr aufzufallen), emsig und unbeholfen mit der Frage beschäftigen, wie man „demokratisch werden“ könne; bei den Achtundsechziger:innen, denen ebenjene Demokratisierung viel zu langsam vonstatten geht; und – fast-forward – im Heute, wo die einen vorschnell bereits das Ende der liberalen Demokratie beklagen und die anderen es heimlich oder unheimlich erfreut willkommen heißen.
Inspirierend sind van Rahdens Entdeckungen in den Social Media Bubbles der damaligen Zeit: Gemeinde- und Kirchenbroschüren, Branchen- und Gewerkschaftsblätter, Ratgeberliteratur, Kommentare zu Urteilsbegründungen bis hin zu den großen Wochenzeitschriften beteiligen sich an der öffentlichen Demokratiedebatte – jedes dieser Medien konfessionell, politisch oder zumindest interessenspezifisch verortet, mit eigener (zahlenmäßig teils beachtlicher) Leser:innenschaft und eigenen intellektuellen Standpunkten. Der aus nachgeborener Sicht überraschende Punkt dabei ist, wie detailliert sich viele der damals Schreibenden um die „Demokratie als Lebensform“ bemühen und betonen, wie wichtig diese Form des Umgangs mit Streit und Konflikt im ganz gewöhnlichen Alltag für das persönliche Demokratieerlebnis und deren Weiterentwicklung sind. Ihre Argumente bewegen sich dabei durchaus auch abseits der passiven Annahme, rechtsstaatliche und gewaltenteilende Institutionen oder Normen alleine würden zur Demokratie genügen. Sie machen sich gewissermaßen auf die Suche nach der staatsbürgerlichen Muße, die dazu notwendig ist, sich des eigenen Gemeinwohls streitend anzunehmen, um es in stetiger Kleinarbeit täglich wiederherzustellen. Es scheint daher gut nachvollziehbar, dass besonders auch das Verhältnis der Geschlechter in Ehe und Familie und das Verständnis von Vaterschaft zwischen militaristischem Patriarchat und demokratischer Gleichberechtigung große Beachtung in Medien und schließlich Rechtsprechung erfährt.
Das Tempo dieser Entwicklungen war jedoch offenbar gemächlicher, als es 1968 noch auszuhalten war – und auch diese Beobachtung erinnert an die heutige Situation, in der so viele das Demokratische an der liberalen Demokratie bezweifeln. Den einen ist diese Regierungsform zu behäbig, um dringende Entscheidungen zu treffen, den anderen ist sie zu kompromissorientiert, um Machtmissbrauch zu korrigieren, den dritten missfällt ihre kosmopolitische, den vierten ihre aristokratische Tendenz.
Was können wir also aus dieser Geschichte lernen? Ist die sich aktuell abzeichnende genervte Enttäuschung von der liberalen Demokratie etwa die Ungeduld unserer Zeit – begleitet von der resignierten Verzagtheit jener, die die liberal-demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaften eigentlich sehr wohl noch erhaltenswert fänden?
Die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft hatte weder moralische, noch realpolitische Alternativen zur liberalen Demokratie – man musste liberal-demokratisch werden, und sich daher fragen, wie man das nun am besten hinkriegt. Die Beiträge in den zitierten Mittel- und Kleinmedien und ihre angestrengte Suche nach dem Silberstreif der Demokratie als Lebensform bezeugen das. Dies stellt sich uns heute ein wenig anders dar: Der demokratische Abschied von der Demokratie ist wieder eine tatsächliche Alternative, nicht nur für Deutschland.
Der konkrete Vorschlag in Till van Rahdens Buch, die fragile Demokratie der Nachkriegszeit und die so vielfältigen Bemühungen um ihre Form (mehr als ihre Norm) als Inspiration zu nutzen, scheint mir daher hilfreich. Wo uns konkrete demokratische Erfahrungsräume fehlen, tun wir uns auch schwer, an die Demokratie im Großen zu glauben. Können wir daher die graduelle Beseitigung undemokratischer Überbleibsel in den 1960er-Jahren (zum Beispiel in den Familien) zum Vorbild für heutige Herausforderungen an die Demokratie nehmen, zum Beispiel im Arbeitsleben, an Schulen und Universitäten, im Straßenverkehr, im Generationendialog? Würden wir uns auf diesem Weg jene Sensibilität für die konfliktive demokratische Lebensform angewöhnen, die wir brauchen, um größere Baustellen wie Wahlrecht, Polizeiwesen, Technologie- oder Klimapolitik bearbeiten zu können? Dient vielleicht gerade das Wissen, dass Westdeutschland unmittelbar nach seiner demokratisch dunkelsten Stunde zum geistigen Projekt der „Demokratie als Lebensform“ in der Lage war, als Hoffnungsanker, dass wir es auch heute in – bei aller Dringlichkeit der anstehenden Probleme – demokratisch gefestigteren Zeiten selbst in der Hand haben, unsere Gesellschaft weiterhin zu demokratisieren? Lohnt es sich, das zu erhalten, was uns an der heute existierenden liberalen Demokratie gefällt, und das zu verbessern, was uns noch nicht demokratisch genug ist? Wenn wir diese Fragen bejahen, wird es auf uns alle, unsere Kreativität, unsere Beständigkeit – und unsere Geduld ankommen: als Demokratieforscherinnen, als politische Bildner, als Bürgerinnen und Bürger.
Jakob Fürst ist Head of Programs am IWM.
Ressourcen
Rezensionen
Ein Plädoyer für das Gespräch mit Jedermann, Deutschlandfunk, 13. Januar 2020
Es beginnt in der Familie, Süddeutsche Zeitung, 3. Februar 2020
Till van Rahden: Demokratie, Sehepunkte, Ausgabe 20, 7-8, 15. Juli 2020
Till van Rahden: Demokratie, socialnet.de, 14. Juli 2020
Video
Democracy: A Fragile Way of Life, The Graduate Institute Geneva, 2 March 2020.
Andere Texte
Till van Rahden: Demokratie als Lebensform. Ein deutsches Missverständnis, IWMpost 126, 2020.