Das katholische Polen im nachchristlichen Europa

Tr@nsit Online

Gemeinhin stellen wir uns das europäische Christentum als eine 2000 Jahre alte Kultur vor, tatsächlich aber nahm die Verbreitungskarte der europäischen Christenheit erst um 1000 n. Chr. feste Konturen an. Soziologisch gesehen sind die Schlüsselinstitutionen und gesellschaftlichen Organisationsformen der Christenheit des westlichen Europa nicht älter als 1000 Jahre: 500 Jahre gehörten dabei dem lateinischen Christentum des Mittelalters und die folgenden 500 Jahre der neuzeitlichen westlichen Christenheit in ihrer nachreformatorischen Konfessionsvielfalt und in ihren erweiterten kolonialen und postkolonialen Ausprägungen. Auch wenn man vielleicht bis zu dem Bündnis zwischen der karolingischen Dynastie und den Bischöfen von Rom zurückgehen könnte, fällt die definitive Etablierung des Heiligen Römischen Reiches mit dem Papst als spirituellem Oberhaupt in das Jahr 962, als Otto I. gekrönt wurde; die Fixierung der inneren und äußeren Grenzen fällt etwa in die gleiche Zeit und ist geknüpft an die Bekehrung der Skandinavier und Wikinger, der Ungarn und der westlichen und östlichen Slawen sowie an die Besiegelung des Schismas zwischen Ost- und Westkirche im Jahre 1054.

Beim Eintritt ins dritte Jahrtausend sehen wir uns indes mit der Tatsache konfrontiert, dass der fortschreitende Säkularisierungsprozess im nachchristlichen Europa und die zunehmende Globalisierung einer weder territorial gebundenen noch zentral organisierten Christenheit jeglichem Hegemonialanspruch des europäischen Christentums den Boden entzogen hat. Die tausend Jahre alte Verbindung zwischen Christentum und westeuropäischer Zivilisation ist folglich an ihr Ende gekommen. Westeuropa ist immer weniger Zentrum der christlichen Zivilisation, und das Christentum in seinen dynamischsten Ausprägungen ist immer weniger europäisch.

Dass sich das katholische Polen dem westlichen Europa zu einem Zeitpunkt »wieder anschließt«, da dieses im Begriff ist, seine Identität als christliche Zivilisation preiszugeben, bietet uns Gelegenheit, über den Ort Polens in Europa und über das Muster von Übereinstimmungen und Divergenzen in der religiösen Entwicklung der beiden Regionen während ihrer tausendjährigen gemeinsamen Geschichte nachzudenken. Im ersten Teil meiner Darstellung möchte ich kurz drei entscheidende Momente in dieser tausendjährigen Geschichte in Erinnerung rufen:

  • die Annahme des Christentums durch die frühe Piasten-Dynastie, der das strategische Interesse an einer Eingliederung ihres Herrschaftsbereichs in das entstehende System der westlich-lateinischen Christenheit zugrunde lag;
  • die Sonderentwicklung des polnisch-litauischen Gemeinwesens zu einer dezentralisierten und mehrkonfessionellen »Adelsrepublik« in einer Zeit, als die westeuropäischen Monarchien ihre zentralistisch-absolutistische Herrschaft begründeten und die Nationalkirchen staatlicher Kontrolle unterwarfen;
  • die Wiederbelebung des Katholizismus im kommunistischen Polen nach dem Zweiten Weltkrieg, während die westeuropäischen Gesellschaften nachhaltige Säkularisierungsprozesse durchliefen.

Im zweiten Teil werden wir einige abschließende Überlegungen hinsichtlich der – wie Bischof Tadeusz Pieronek, Rektor der Päpstlichen Theologischen Akademie in Krakau, es nennt – »wunderbaren Chance, schwer zu meisternden Herausforderung und großen apostolischen Aufgabe« anstellen, die sich für Polen und den polnischen Katholizismus aus der europäischen Integration ergeben.

Die Taufe Polens und seine Eingliederung in die westliche Christenheit

Die Christianisierung Polens war Folge einer typischen dynastischen Entscheidung: Um die königliche Macht nach innen und außen zu festigen, beschloss Fürst Mieszko, den lateinischen Ritus an seinem Hof als offiziellen Kult einzuführen. Nach innen leistete die Ersetzung mehrer slawischer Stammeskulte durch einen einzigen, von oben verfügten monotheistischen Kult einen Beitrag zur Integration des expandierenden königlichen Herrschaftsgebiets. Nach außen verschaffte die kirchliche Krönung und die Entscheidung, das polnische Königtum dem direkten Schutz des römischen Papstes zu unterstellen, der Piastendynastie geopolitische Legitimität und die symbolische Anerkennung seiner Grenzen zu den ebenso expansiven Nachbarstaaten – dem Heiligen Römischen Reich im Westen, Böhmen im Südwesten und der Kiewer Rus im Osten. So markiert denn das Jahr 966 symbolisch die Geburt sowohl des polnischen Staats als auch des polnischen Christentums. Die päpstliche Erhebung des Bischofssitzes Gniezno zum Erzbistum einer eigenständigen polnischen Kirchenprovinz und der Besuch, den Kaiser Otto III. im Jahr 1000 Gniezno abstattete, waren Zeichen der Eingliederung Polens in das politische und kulturelle System des lateinischen Christentums.

Dass Mieszko den römisch-katholischen Glauben annahm, sollte für Polens Rolle als integraler Bestandteil und als Grenzregion der westlich-europäischen Zivilisation bestimmend sein, insbesondere nachdem Wladimir, Großfürst von Kiew, zwei Jahrzehnte später den Glauben der byzantinischen Ostkirche angenommen hatte. Wladimir traf seine Entscheidung, nachdem er ganz offen die Vorteile abgewogen hatte, die es ihm jeweils bringen würde, die Ostkirche, die Westkirche oder den Islam zur Staatsreligion zu erheben. Die »Frontstellung« des polnischen Katholizismus und sein Abwehrkampf gegen heidnische Religionsformen, gegen die Ostkirche und den Islam führten dazu, dass Aspekte der religiösen, politischen und kulturellen Identität Polens schon früh miteinander verschmolzen – eine Tendenz, die sich dank der späteren historischen Entwicklung fortsetzte und noch verstärkte. Die tatsächliche Christianisierung des polnischen Gebiets vollzog sich unter päpstlicher Schirmherrschaft nur langsam und gegen beträchtliche regionale Widerstände. Sie beschleunigte sich erst im 12. und 13. Jahrhundert mit der Ankunft von Mönchs- und Bettelorden aus dem Westen. Danach waren die Entwicklungen im westlichen Europa auch für das mittelalterliche Polen im großen und ganzen maßgebend.

Die Romanisierung des westlichen Christentums und die partielle Durchsetzung des päpstlichen Supremats im Investiturstreit des 11. und 12. Jahrhunderts hingen in vielerlei Hinsicht eng mit dem Mönchstum und der Ordenskultur zusammen. Gemeinsam mit der geistlichen Reform kirchlicher Strukturen führte die klösterliche Reformbewegung zu einer stärkeren Zentralisierung der römischen Kirche und Verinnerlichung der päpstlichen Herrschaft. Das Papsttum bildete fortan nicht nur die geistliche Führung, sondern auch die maßgebende politische Institution der westlichen Christenheit im Mittelalter. Abgesehen davon, dass es für die Weihe der weltlichen Herrscher zuständig war und sie so legitimieren oder ihnen die Legitimation entziehen konnte, übernahm das Papsttum die historische Funktion eines internationalen Schieds- und Appellationsgerichts, eines Garanten internationaler Verträge und eines Friedensstifters. Tatsächlich stellten in den internationalen Beziehungen des Mittelalters das kanonische Recht und die päpstlichen Verfügungen die einzige anerkannte Autorität dar.

Auf lange Sicht allerdings erwiesen sich die Aufgaben der Behauptung des geistlichen Supremats über die gesamte Christenheit, der Aufrechterhaltung der Herrschaft über die päpstlichen Besitzungen und der Wahrung des geopolitischen Gleichgewichts in Europa als zu disparat, um in Einklang miteinander bleiben zu können. Die Konzentration der Renaissance-Päpste auf die Konsolidierung ihrer fürstlichen Macht über die mittelitalienischen Territorien, die durch die negativen Erfahrung des Exils in Avignon und der folgenden Schismen motiviert war, führte dazu, dass das Papsttum die geistliche Vorherrschaft über große Teile Europas nach der Reformation verlor und sich im entstehenden nationalstaatlichen System der Neuzeit geopolitisch an den Rand gedrängt sah.

Die Sonderentwicklung des polnisch-litauischen Staatenbunds gegenüber den absolutistischen Trends in Westeuropa

Historisch gesehen, hingen die Bildung des neuzeitlichen europäischen Staatensystems, die durch den Westfälischen Frieden errichtete Ordnung und die nachreformatorische Auflösung der westlichen Christenheit in konkurrierende Kirchen zusammen und wirkten wechselseitig aufeinander ein. In der frühen Phase des Absolutismus suchten praktisch jeder Staat und jede Kirche in Europa unter dem Motto Cuius regio eius religio die Totalität der alten katholischen Kirche zu reproduzieren, was darauf hinauslief, dass die Nationalkirchen unter die cäsaropapistische Oberhoheit des absolutistischen Staates fielen.

Noch vor dem Triumph, den das Prinzip der Herrschaft des Staates über die Kirche in den protestantischen Ländern errang, hatten die katholischen Könige Spaniens beim Papst bereits die alsPatronato Real bekannte Reihe von königlichen Privilegien erlangt, die ihnen gestattete, die katholische Kirche in Spanien und seinen Kolonien in ein Organ der Staatsverwaltung zu verwandeln. Überall führte das Bündnis zwischen nationaler Geistlichkeit und Landesherr zu ähnlichen Resultaten. Wie Benedict Anderson hervorgehoben hat, muss die Nation der Neuzeit als der Erbe der dynastischen Monarchie als politischen Systems und der Kirche als religiöser Gemeinschaft verstanden werden. Mit der Auflösung der mittelalterlichen Christenheit gingen aus der alten transnationalen Sakralgemeinschaft, die durch Latein als Sakralsprache zusammengehalten wurde, zersprengte, pluralisierte und territorial beschränkte Kirchen hervor. Die neuen Staatskirchen dienten dem absolutistischen Staat als gemeinschaftsstiftende Kulte und bildeten nationale religiöse Gemeinden, die in den zu Schriftsprachen avancierenden Landessprachen ihr Bindemittel fanden. Der Prozess der Nationalisierung der Staatskirchen, wie ihn die Anglikanisierung der Church of England beispielhaft vorführt, vollzog sich am deutlichsten in protestantischen Ländern, war aber auch in katholischen Ländern und in Ländern der Ostkirche zu beobachten, wie etwa die Gallikanisierung der katholischen Kirche in Frankreich oder die Russifizierung der Orthodoxen Kirche unter Peter dem Großen zeigt.

Die abweichende Entwicklung des polnisch-litauischen Staatenbundes stellt die auffälligste Ausnahme von dieser allgemeinen Regel der Herausbildung absolutistischer Zentralstaaten und der Identifizierung von Kirche und Staat im neuzeitlichen Europa dar. Das Nihil Novi-Statut von 1505 bedeutete eine Einschränkung der königlichen Macht durch das Parlament (den Sejm). Die Union von Lublin von 1569 machte aus dem polnisch-litauischen Staatenbund eine dezentralisierte, multinationale Adelsrepublik. Das Allgemeine Toleranzedikt, das 1573 durch die Warschauer Konföderation verkündet und während des Interregnums gegen den Widerstand der katholischen Bischöfe im Sejm verabschiedet wurde, schloss die Garantie des Verzichts auf Gewalt und Zwang in Religionsfragen ein. Während im übrigen Europa allenthalben Religionskriege tobten und die Staaten andersgläubige religiöse Minderheiten unterdrückten, bot der polnisch-litauische Staatenbund das Bild der friedlichen Koexistenz verschiedener christlicher Konfessionen (Katholiken, Lutheraner und Orthodoxe), der Toleranz gegenüber abweichenden kleineren Glaubensgemeinschaften (Kalvinisten, Wiedertäufer, Böhmische Brüder, Antitrinitarier und armenische Monophysiten) sowie der Religionsfreiheit für nichtchristliche Minderheiten (Juden, Karäer und muslimische Tataren). Tatsächlich entwickelte sich das Polen der frühen Neuzeit zu einer Zufluchtsstätte für Anhänger verfolgter Glaubensrichtungen, die den allgegenwärtigen Religionskriegen zu entrinnen suchten. Damals wurde Polen zur Heimstatt der größten jüdischen Gemeinde in der ganzen Welt und blieb es bis zum Holocaust. Selbst nachdem die Gegenreformation die Vorherrschaft des Katholizismus in der polnischen Kultur wiederhergestellt und der Krieg gegen Schweden eine starke antiprotestantische Reaktion hervorgerufen hatte, bot Polen immer noch ein augenfälliges Beispiel religiöser Toleranz.

Allerdings bestand der historische Preis für das Versäumnis Polens, den absolutistischen Zentralisierungsprozess mitzumachen, in der Ende des 18. Jahrhunderts vollzogenen Aufteilung des Landes unter seine absolutistischen Nachbarn, das evangelische Preußen, das orthodoxe Russland und das katholische Österreich. Und das wiederum hatte zur Folge, dass die Nationalisierung des polnischen Katholizismus im 19. Jahrhundert nicht in Form einer Staatsbildung von oben, sondern in Gestalt einer gegen fremde ausländische Mächte gerichteten Widerstandsbewegung von unten vor sich ging. Kirche und Nation wuchsen in einer Zeit zusammen, in der die katholische Kirche die einzige Einrichtung war, die ein gewisses Maß an Zusammenhang zwischen dem preußischen, russischen und österreichischen Teil Polens gewährleistete. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verschmolzen Katholizismus, romantischer Nationalismus und slawischer Messianismus zu einer neuen polnischen Zivilreligion. Anfangs war dieser Verschmelzungsprozess im wesentlichen auf die Oberschicht und die Intellektuellen beschränkt. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts aber trieben Bismarcks Kulturkampf und die repressive Politik der russischen Verwaltung auch die polnische Bauernschaft ins nationalistische Lager.

Bemerkenswerterweise kam es in Polen zur Verschmelzung von nationaler und katholischer Identität trotz der reaktionären Politik des Vatikan, der die konservativen Monarchien konsequent unterstützte und die polnischen Aufstände verurteilte. Das Polen des 19. Jahrhunderts vermied die für das westliche Europa typischen Konflikte zwischen katholischer Kirche und säkular-liberalem Staat, zwischen der Kirche und einer säkularisierten Intelligenz, die sich zum Humanismus bekannte und zunehmend antiklerikale Tendenzen entwickelte, sowie zwischen der Kirche und einer sozialistischen Arbeiterbewegung, die sich zuerst zum Antiklerikalismus und dann zu einem militanten Atheismus bekannte. Tatsächlich standen die ersten Generationen der polnischen Arbeiterschaft weder dem Christentum noch dem Nationalismus ablehnend gegenüber, zumindest nicht in dem andernorts üblichen Maß. Es kam im Gegenteil oft zu einer Verschmelzung von klassenspezifischer, religiöser und nationaler Identität.

Mit der Gründung eines unabhängigen polnischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg begann die Einheit zwischen Kirche und Nation zu zerfallen. Die üblichen Bruchlinien zwischen Klassen, Parteien und Ideologien tauchten auf, während der Chauvinismus, zu dem jeder Nationalismus neigt, sobald er an der Macht ist, im Umgang mit den großen jüdischen und ukrainischen Minderheiten seine hässliche Fratze hervorkehrte. Auch Antiklerikalismus trat in Erscheinung – allerdings in gemäßigter Form. Er zeigte sich in den Streitigkeiten zwischen dem nicht konfessionell gebundenen polnischen Staat und der Kirche. Er ergriff große Teile der Intelligenz, nachdem sie sich endlich die Philosophie der Aufklärung und die Religionskritik des Positivismus und des Marxismus angeeignet hatte. Er wurde in der sozialistischen Linken und in der von Wincenty Witos geführten Bauernbewegung sichtbar. Hätten sich diese Tendenzen fortsetzen können, sie hätten vielleicht dem polnischen »Sonderweg« ein Ende gemacht. Ihnen kam indes der Zweite Weltkrieg und die abermalige Erfahrung der Teilung, der ausländischen Okkupation und des gemeinschaftlichen Widerstands in die Quere. Einmal mehr fand sich die katholische Kirche Polens auf der Seite der Nation wieder – als eine Organisation, die unter der brutalen nationalsozialistischen Unterdrückung besonders zu leiden hatte und die den Untergrundkampf ebenso tatkräftig unterstützte wie spirituell begleitete.

Die Divergenz in der religiösen Entwicklung Polens und des westlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg

Während die Gesellschaften des westlichen Europa einen drastischen, fortlaufenden und allem Anschein nach unwiderruflichen Säkularisierungsprozess durchliefen, dessen Ergebnis von einem nachchristlichen Europa zu sprechen erlaubt, erlebte der Katholizismus in Polen eine außergewöhnliche Neubelebung. Alle Bemühungen des kommunistischen Regimes, die Bande zwischen katholischer Kirche und polnischer Nation zu zerschneiden, schlugen fehl. Allen Strategien einer Säkularisierung von oben, wie sie zuerst in der Sowjetunion und dann in ganz Osteuropa erfolgreich angewandt wurden, blieb in Polen der Erfolg fast völlig versagt. Die Integration der Kirche in den Staatsapparat, die Ausübung von Zwang, eine Resozialisierung auf sozialistischer Basis, die Abdrängung der Religion in die Privatsphäre – all das wurde ohne Erfolg ausprobiert.

Auch der Plan einer Säkularisierung durch ökonomische Entwicklung brachte nicht das gewünschte Ergebnis. Die Hoffnungen des Gierek-Regimes, wirtschaftliche Fortschritte würden in Polen die gleichen säkularisierenden Auswirkungen haben wie offenbar im Westen, erfüllten sich nicht. Marxistische Soziologen sammelten jedes kleine Zeichen, das darauf hindeutete, dass die Gesetze der Säkularisierung auch in Polen gelten. Doch am Ende der Gierek-Ära deuteten die meisten Indikatoren eher auf den umgekehrten Prozess einer Verstärkung der religiösen Bindungen.

Die Jahrtausendfeier der Christianisierung Polens im Jahr 1966 stellte einen Wendepunkt in dem anhaltenden Kampf zwischen katholischer Kirche und kommunistischem Regime um die Gefolgschaft des polnischen Volkes dar. Die gewaltigen, mitreißenden Festlichkeiten bildeten den Gipfelpunkt einer Strategie, die Kardinal Wyszynski nach seiner Entlassung aus der Haft ersann und ins Werk setzte und deren Ziel es war, die Kirche und die Nation 26 Jahre lang (!) um den traditionsreichen Kult der Heiligen Jungfrau von Tschenstochau in Bewegung zu halten. Es begann 1956 mit der feierlichen Übergabe der Nation an die »Königin von Polen«; dann folgten bis zu den Jahrtausendfeiern von 1966 jedes Jahr die Großen Novenen, neuntätige Andachten. Der Versuch des Regimes, der Kirche durch die Veranstaltung eigener Feiern aus Anlass des tausendjährigen Bestehens des polnischen Staates das Wasser abzugraben, scheiterte kläglich. Zur Krönung des Triumphs der Kirche wurden alljährlich mit der Schwarzen Madonna Prozessionen in praktisch jede polnische Stadt veranstaltet, die bis zum neunhundertsten Jahrestag des Märtyrertodes des heiligen Stanislaus im Jahr 1979 andauerten. Ähnlich wie schon die polnischen Aufstände im 19. Jahrhundert galten Beobachtern im westlichen Europa auch diese überschwänglichen religiösen Aktivitäten als hoffnungslos anachronistische, wo nicht reaktionäre Erscheinung, als Ausdruck der ebenso aussichtslosen wie romantisch-heroischen Neigung der Polen, sich dem Fortschritt der Geschichte entgegenzustemmen. Auch diesmal aber straften die Polen den herrschenden Zeitgeist Lügen. Die überraschende Wahl des Kardinals Woityla zum Papst (in der manche ein Wunder sehen wollten), der einem Triumphzug gleichende Besuch, den der neue Papst Johannes Paul II. im Jahr 1979 Polen abstattete, der Aufstieg der Solidarnosc ein Jahr später und der Zusammenbruch des sowjetischen Systems im Jahr 1989, der das Ende des Kalten Kriegs und der Teilung Europas in Ost und West brachte – das alles änderte den Gang der Geschichte und die globale geopolitische Konstellation von Grund auf.

Die Integration des katholischen Polen in das postchristliche Europa.

Bischof Pieronek zufolge muss »Europa als eine wunderbare Chance, eine schwer zu meisternde Herausforderung und ein großer apostolischer Auftrag an die Kirche« begriffen werden. Es dürfte auf der Hand liegen, dass der europäische Einigungsprozess Polen in der Tat »die wunderbare Chance« bietet, an den Segnungen teilzuhaben, die mit der Vorzugsstellung der Gesellschaften des westlichen Europas einhergehen und zu denen internationale Sicherheit und politische Stabilität, wirtschaftlicher Fortschritt, hoher Lebensstandard und Freiheit zählen. Nach zwei Jahrhunderten der Teilung, der Okkupation, des totalitären Terrors und der Unterdrückung ist die Chance, dem erlesenen Klub der avanciert-kapitalistischen, liberaldemokratischen Länder beizutreten und in den Genuss der relativen Garantien zu gelangen, die mit der Zugehörigkeit zu ihnen verknüpft sind, in der Tat wunderbar.

Zugleich kann man nicht bestreiten, dass die Integration in die Europäische Union eine »schwer zu meisternde Herausforderung« darstellt, insbesondere für viele Bereiche der polnischen Wirtschaft und Gesellschaft. Zumindest auf kurze Sicht wird der Anpassungsprozess schwere soziale und ökonomische Opfer fordern. Deshalb kann nicht überraschen, dass in den letzten Jahren die Meinungsumfragen in der Öffentlichkeit einen sinkenden Prozentsatz von Befürwortern einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union ausweisen. Hinzu kommt, dass man bei genauerer Betrachtung der wachsenden Gruppe von »Euroskeptikern« »eine klare Korrelation zwischen Wohnort, Alter und Bildungsstand und den Einstellungen gegenüber der EU erkennen kann. Die Landbevölkerung, Bewohner der östlichen Landesteile und Menschen mit geringem Einkommen neigen dazu, die Integration negativ zu beurteilen. Am stärksten befürwortet wird sie von Befragten, die unter 24 sind, von Gebildeten, leitenden Angestellten, Freiberuflichen und Studenten.«

Mich interessiert in diesem Beitrag freilich nicht die Art von »Euroskepsis«, die auf einer Kosten/Nutzen-Rechnung aufbaut, also nicht einer prinzipiellen Ablehnung der europäischen Integration entspringt – deren Vertreter daher auch umzustimmen sind, wenn man nachweisen kann, dass langfristig der Nutzen die Kosten übersteigen wird, dass sich für Polen ein günstigeres Beitrittsabkommen aushandeln lässt oder dass sich sozialpolitische Maßnahmen zur Entlastung der vom Anpassungsprozess am meisten betroffenen gesellschaftlichen Bereiche ergreifen lassen.

Vielmehr interessieren mich hier die »Europhoben«, jene, die prinzipiell gegen die Integration sind, weil sie ablehnen, was Europa in ihren Augen verkörpert. Man kann mindestens vier verschiedene Gruppen solcher »Europhoben« unterscheiden: die Gruppe der kommunistischen Linken, die nicht gegen die Integration als solche, sondern nur gegen die Eingliederung in ein kapitalistisches Europa sind und die deshalb zur Vereinigung mit einem sozialrevolutionär veränderten Europa bereit wären; eine zweite Gruppe, die aus nationalistischen Gründen gegen jede Form von multinationaler Einheit ist, weil dadurch die nationale Souveränität eingeschränkt und die Identität bzw. die Werte der polnischen Nation bedroht würden; sodann diejenigen, die nach wie vor Angst vor einem deutschen Expansionsdrang haben, den sie hinter der EU vermuten (man könnte sie auch als eine Spielart der nationalistischen »Europhobie« betrachten); und schließlich die katholischen »Europhoben«, die gegen die europäische Integration sind, weil das heutige Europa seine christliche Identität eingebüßt habe und mit seinen irreligiösen, materialistischen und hedonistischen Wertvorstellungen eine Gefahr für die katholische Identität und die katholischen Werte Polens darstelle. Letzteres ist der Standpunkt, den jene Teile des polnischen Katholizismus vertreten, die sich um Radio Maryja, Pater Tadeus Rydzyk oder Bischof Stanislaw scharen. Sie fürchten die Säkularisierung, die mit der europäischen Integration kommen wird.

Säkularisierungsgefahr oder großer apostolischer Auftrag?

Die Angst vor der Säkularisierung ist nicht völlig unbegründet, da einer Grundthese der Säkularisierungstheorie zufolge eine Gesellschaft um so irreligiöser wird, je mehr sie sich modernisiert. Die Modernisierung gilt als strukturell verknüpft mit der Säkularisierung, wobei dieser Begriff hier einfach im Sinne eines fortschreitenden Verfalls religiöser Überzeugungen und Praktiken in einer Bevölkerung gebraucht wird. Da Modernisierung im Sinne einer Angleichung an das Niveau der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung im westlichen Europa zu den erklärten Zielen der europäischen Integration zählt, lässt sich erwarten, dass solche Modernisierung Säkularisierung nach sich zieht. Diese Erwartung findet in der Überschrift des 1. Kapitels von George Sanfords Buch Poland. The Conquest of History ihren treffenden Ausdruck: »From God’s Playground to Normality« (Von Gottes Spielwiese zur Normalität). Polen zu einer »normalen« europäischen Gesellschaft zu machen, ist schließlich eines der Ziele der »Europabegeisterten«. Ich halte es allerdings für sinnvoll, jene als normativ angenommene europäische »Säkularisierung« ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen.

Die – wenn auch in unterschiedlichem Tempo – fortschreitende Säkularisierung Europas ist eine unbestreitbare gesellschaftliche Tatsache. Eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung Europas nimmt nicht mehr (oder zumindest nicht mehr regelmäßig) an traditionellen religiösen Praktiken teil, selbst wenn viele immer noch relativ starke religiöse Überzeugungen hegen. Außerdem ist einschränkend zu sagen, dass die Religiosität innerhalb Europas beträchtlich schwankt. Das Gebiet der ehemaligen DDR ist die mit Abstand am wenigsten religiöse Region Europas, gefolgt von Tschechien und den skandinavischen Ländern. Am anderen Ende der Skala sind Irland und Polen die bei weitem religiösesten Länder Europas mit einem Prozentsatz von Gläubigen, der in etwa dem in den USA entspricht. Wenn man von den Ausnahmen Frankreichs und Tschechiens absieht, so kann als Regel gelten, dass katholische Länder religiöser sind als protestantische bzw. als Länder mit gemischten Konfessionen wie Deutschland oder die Niederlande.

Lässt man indes die Sonderfälle der Übersäkularisierung (Ostdeutschland, Tschechien) oder der Untersäkularisierung (Irland, Polen), für die sich ad hoc historische Erklärung anführen ließen, beiseite, so erscheint, aufs Ganze gesehen, die These von der fortschreitenden Säkularisierung Europas empirisch gut belegt. Die Kernländer Europas – Großbritannien, Frankreich, Holland, Deutschland -, die im europäischen Modernisierungsprozess eine führende Rolle gespielt haben, scheinen dem Säkularisierungsmodell bestens zu entsprechen. Aber auch wenn die drastische Säkularisierung des westlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg eine unwiderrufliche Tatsache darstellen mag, so können doch die üblichen Erklärungen des Phänomens, die den allgemeinen Modernisierungsprozess bemühen und auf zunehmende institutionelle Differenzierung, steigende Rationalität oder wachsenden Individualismus abheben, nicht überzeugen, da ähnliche Modernisierungsprozesse andernorts – in den USA oder in den Kultursphären anderer Weltreligionen – nicht die gleichen Säkularisierungsfolgen zeitigen.

Wir müssen ernsthaft die These in Betracht ziehen, dass die Säkularisierung in Europa zu einer self-fulfilling prophecy wurde, nachdem große Teile der Bevölkerung des westlichen Europa, die christlichen Kirchen eingeschlossen, die Grundannahmen der Säkularisierungstheorie akzeptiert hatten: dass nämlich die Säkularisierung im modernen gesellschaftlichen Veränderungsprozess teleologisch angelegt sei, dass eine Gesellschaft um so irreligiöser werde, je mehr sie sich modernisiere, dass Säkularismus das »Zeichen der Zeit« sei. Wenn unsere These zutrifft, dann lässt sich die Säkularisierung der Gesellschaften des westlichen Europa besser als Triumph einer säkularistischen Ideologie denn als Folge von Phänomenen wie Urbanisierung, Bildung, Rationalisierung usw., das heißt von Strukturveränderungen im Rahmen der sozioökonomischen Entwicklung, erklären.

Es ist an der Zeit, die eurozentrische Ansicht aufzugeben, dass es sich bei den modernen Entwicklungen im westlichen Europa, die Säkularisierung der westlichen Christenheit eingeschlossen, um universale Vorgänge handele. Je mehr man die Sache global betrachtet, um so klarer wird, dass die tiefgreifende Säkularisierung in den Gesellschaften des westlichen Europa ein Sonderphänomen darstellt, zu dem es außer in Regionen, die von Europäern besiedelt wurden, wie Neuseeland, Quebec oder Uruguay, andernorts kaum Parallelen gibt. Solch ein Sonderphänomen erfordert eine spezifischere historische Erklärung. Der Verfall der Überzeugungskraft des europäischen Christentums ist so extrem, dass es nicht ausreicht, zu seiner Begründung auf den Modernisierungsprozess zurückzugreifen. Wenn man dagegen an der traditionellen Säkularisierungstheorie festhält, so erscheint dieser Verfall uns modernen, irreligiösen Europäern als etwas Natürliches und Zwangsläufiges. Eine solche Sicht verleiht der Säkularisierung das Gewicht praktischer Unausweichlichkeit und Unwiderruflichkeit. Mit anderen Worten, sie wird zu einem Selbstläufer.

Was die europäische Situation im Vergleich mit der übrigen Welt so einzigartig und zu einem solchen Ausnahmefall macht, ist genau jener Triumph des Säkularismus als einer teleologischen Theorie von der Entwicklung der Religion. Die von der Aufklärung initiierte und von einer Reihe von Sozialbewegungen zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert aufgegriffene ideologische Religionskritik prägte die europäischen Säkularisierungstheorien dermaßen, dass diese aufhörten, bloß deskriptive Theorien von Sozialprozessen zu sein. Sie funktionierten darüber hinaus, und wichtiger noch, als kritisch-genealogische Religionstheorien und als normativ-teleologische Theorien der Entwicklung von Religion, die im Niedergang des Religiösen eine wesentliche Zielbestimmung der Geschichte erblickten.

Das führte dazu, dass eine Bevölkerungsmehrheit in Europa die Grundannahmen jener Theorien schließlich als Beschreibung des Normalzustands und als eine Voraussage der weiteren Entwicklung akzeptierte. Die These, dass die Religion einen um so stärkeren Niedergang erlebt, je mehr die betreffende Gesellschaft sich modernisiert und voranschreitet, hat in Europa die Züge eines Dogmas angenommen, das nicht nur Religionssoziologen, sondern auch der Mehrheit der Bevölkerung als fraglos wahr gilt. Das Postulat des fortschreitenden Verfalls der Religion ist zum festen Bestandteil des europäischen Begriffs von Moderne geworden und hat insofern praktische Folgen für die kirchlich organisierte Religiosität. Dass die europäische Sonderentwicklung einer selbstinduzierten Säkularisierung den Betroffenen selbst als Normalfall gilt, wirkt verstärkend auf sie zurück und lässt den Prozess zunehmend unumkehrbar erscheinen, solange es nicht entweder zu einer allgemeinen religiösen Erneuerungsbewegung oder zu einem radikalen Wandel des europäischen Zeitgeistes kommt.

Hier könnte nun der »große apostolische Auftrag«, von dem Bischof Pieronek spricht, Bedeutung gewinnen. Trotz einiger anfänglicher Bedenken unterstützt die katholische Kirche zumindest seit dem Besuch einer Delegation polnischer Bischöfe in Brüssel, der 1996 stattfand, offiziell die europäische Integration ohne Wenn und Aber. Diese Haltung steht in vollem Einklang mit einer Vision von der Einheit Europas, wie sie der polnische Papst wiederholt beschworen hat. Bei dem Besuch, den der Papst im Jahr 1999 Polen abstattete, sprach er sich in seiner Rede vor dem Parlament wie auch in seiner Botschaft an die polnische Bischofskonferenz ausdrücklich für die Integration Polens in die Europäische Gemeinschaft aus. Nach einer Umfrage vom Februar 1998 votierten 80 Prozent des polnischen Klerus für den Eintritt in die EU, wohingegen in der Gesamtbevölkerung der die Zustimmung bei 64 Prozent lag.

Einer der Gründe für diese positive Einstellung mag in dem apostolischen Auftrag zu suchen sein, den der polnische Papst der polnischen Kirche zugewiesen hat. Als der erste slawische Papst in der Geschichte sah es Johannes Paul II. als seine besondere Aufgabe an, die slawischen Völker vom Joch des Kommunismus zu befreien und den ökumenischen Dialog mit den Ostkirchen zu fördern. Der Fall der Berliner Mauer bestätigte ihn in seiner Mission, die nunmehr als Wiedervereinigung und spirituelle Regeneration des christlichen Europa verstanden wurde. Allerdings sah er sich mit seiner Vision einem hartnäckig materialistisch-kapitalistischen westlichen Europa gegenüber: Den traditionellen Kernbereich der europäischen Christenheit erfuhr er als zunehmend heidnisch, hedonistisch und taub gegenüber seinem Aufruf zur Erneuerung. Enttäuscht wandte er sich dem östlichen Europa und insbesondere dem vom kapitalistischen Materialismus noch unberührten katholischen Polen zu, das er ermahnte, sich als »spiritueller Rückhalt« des christlichen Europa zu bewähren – nur um feststellen zu müssen, dass diese spirituelle Hochburg bereits von materiellen Gütern und materialistischen Werten aus dem Westen überflutet wurde.

Der polnische Episkopat indes nimmt den päpstlichen Auftrag ernst und hat wiederholt hervorgehoben, dass es zu den Zielen der katholischen Kirche in einem vereinten Europa zähle, die europäische Christenheit zu erneuern und »Europa für das Christentum zurückzugewinnen«. Ein solches Vorhaben trifft in der messianischen Tradition Polens ohne Frage auf Resonanz. Pragmatisch genommen ist die Mindestbedingung für das Zustandekommen einer solchen Missionsanstrengung die Überzeugung, dass der Säkularisierungsprozess in Europa umkehrbar ist und es sich deshalb beim Versuch einer Erneuerung des Christentums nicht um eine dem Strom der Geschichte zuwider laufende Donquichotterie handelt. Soziologisch betrachtet hätte solch ein Evangelisierungsunternehmen allerdings wenig Erfolgsaussichten, solange sich nicht der Zeitgeist wandelt. Angesichts des mangelnden Bedürfnisses nach Religion im westlichen Europa kann man sich wenig davon erhoffen, wenn Scharen polnischer Geistlicher zu einer europaweiten Missionskampagne ausgeschickt werden. Die bestenfalls laue, wo nicht überhaupt feindselige europäische Reaktion auf die päpstlichen Erweckungspredigten sind ein klarer Hinweis auf die Schwierigkeiten, die der Durchführung des apostolischen Auftrags entgegenstehen.

Ein weniger ehrgeiziger apostolischer Auftrag freilich könnte beachtliche Wirkungen zeitigen. Wie, wenn Polen die Säkularisierungsvorhersage Lügen straft? Wie, wenn Polen bleibt, was es ist? Wie, wenn Polonia semper fidelis seiner katholischen Identität und Tradition treu bleibt, während es sich gleichzeitig Europa anschließt und dabei zu einem »normalen« europäischen Land wird? Wenn dem Land das gelänge, dann bewiese es, dass der Niedergang der Religion in Europa kein notwendig mit Modernisierung verknüpfter, teleologischer Prozess, sondern Resultat einer historischen Entscheidung der Europäer ist. Ein modernes religiöses Polen könnte vielleicht die säkularen Europäer zwingen, ihre säkularistischen Grundannahmen zu überdenken und zu erkennen, dass es nicht so sehr Polen an Gleichzeitigkeit mit Europa, sondern dem säkularen Europa an Gleichzeitigkeit mit dem Rest der Welt und mit globalen Tendenzen mangelt. Zugegeben, dies alles sind rein hypothetische Überlegungen, deren Zweck es ist, den Bann zu brechen, in dem der herrschende Säkularismus den europäischen Geist hält.

Doch mag sich schon dieser bescheidenere apostolische Auftrag zur Wahrung der katholischen Glaubenstradition in Polen als allzu anspruchsvoll erweisen. Eine Tradition unter modernen Bedingungen aufrechtzuerhalten erfordert, dass man sie ständig erneuert und auf wechselnde Herausforderungen kreative Antworten findet. Nur traditionalistisch den Glauben gegen die Bedrohungen durch Liberalismus, Hedonismus und Relativismus zu verteidigen, genügt nicht. Mit der protektionistischen Pflege ihrer institutionellen Macht, ihrem ungeschickten Eingreifen in parlamentarische Willensbildungsprozesse, Wahlkämpfe und öffentliche Debatten, mit dem Widerstand der Geistlichkeit gegen die Forderung der Laienschaft nach größerer Autonomie und mit ihrem Misstrauen gegen die modernen Freiheiten des einzelnen, die Gewissensfreiheit ebenso wie die intellektuellen und künstlerischen Freiheiten, hat die Kirche bereits viel Kredit verspielt. Die leitende Hand und das Charisma des polnischen Papstes sowie die kollektive Begeisterung anlässlich seiner häufigen Besuche haben diesen Autoritätsverlust bislang halbwegs kompensiert.

Ob der polnische Katholizismus der Chance, Herausforderung und Aufgabe gewachsen sein wird, welche die europäische Integration für ihn bereit hält, kann natürlich nur die Zukunft zeigen. Die Erneuerungskraft freilich, die er wiederholt in der Vergangenheit unter Beweis gestellt hat und die keineswegs mit einem bloßen Beharrungsvermögen zugunsten überholter und rückständiger Traditionen verwechselt werden darf, hat die Zweifler und Kritiker schon des öfteren verblüfft. Vielleicht geschieht das ja ein weiteres Mal.

Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz


Anmerkungen

Hier und im nächsten Abschnitt folge ich Jerzy Kloczowksi, A History of Polish Christianity, Cambridge 2000.

Weitere Ausführungen hierzu finden sich bei José Casanova, »Globalizing Catholicism and the Return to a ›Universal Church‹«, in: Peter Beyer (Hg.), Religion im Prozess der Globalisierung, Würzburg 2001.

Benedict Anderson, Imagined Communities, London 1991.

Das komplexe Beziehungsmuster zwischen Staat, Kirche, Gesellschaft und Nation findet man ausführlicher dargestellt in José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994, Kap. 4.

Elzbieta Stadtmüller, »Polish Perceptions of the European Union in the 1990s«, in: Karl Cordell (Hg.), Poland and the European Union, London 2000, S. 36.

Ebd.

George Sanford, Poland. The Conquest of History, Amsterdam 1999.

José Casanova, »Beyond European and American Exceptionalisms: Towards a Global Perspective«, in: G. Davie/P. Helas/L. Woodhead (Hg.), Predicting Religion, Aldershot 2002.

Grace Davie, Religion in Modern Europe, Oxford 2000.

Stadtmüller, »Polish Perceptions«, a.a.O.


Copyright © 2003 by the author & Transit-Europaeische Revue. All rights reserved. This work may be used, with this header included, for noncommercial purposes. No copies of this work may be distributed electronically, in whole or in part, without written permission from Transit.
Transit – Europäische Revue, Nr. 25/2003