Wenn heute über Journalismus gesprochen wird und dann auch noch viele Journalisten dabei sind, erhebt sich meist ein großes Klagen. Und man hat den Eindruck, eher einer Beerdigungsfeierlichkeit als einem Kollegentreffen beizuwohnen. Zu beklagen gibt es ja all over the world bekanntlich viel. Stichworte genügen: Der guten alten gedruckten Zeitung, dem großen Sorgenkind, geht es notorisch schlecht. Noch kein Verlag hat das Zaubermittel gefunden, um den Niedergang von Print – den ich im übrigen nicht für unaufhaltsam halte – mit sprudelnden Einnahmen aus Online zu kompensieren. Der Journalismus scheint zu einer kränkelnden Branche geworden zu sein, in der täglich Hiobsbotschaften ins Haus flattern. Das nagt heftig am Selbstbewusstsein der Journalisten, die man sich zuweilen als melancholische Zeitgenossen vorstellen muss.
Da ist offensichtlich ein Stolz verletzt worden. Vielleicht ein Jahrhundert lang war der Journalist – obgleich oft nicht sehr gut angesehen – doch eine komfortable Gestalt. Er besaß privilegierten Zugang zum Reich der Nachrichten, unterhielt oft gute Kontakte zu Regierenden und sonstigen VIPs, wusste mehr als andere, war schlauer, blickte besser durch. Er konnte sich in dem Gefühl wiegen, gegenüber dem Rest der Menschheit eine autoritative, ja fast hoheitliche Aufgabe zu erfüllen. In meinen Jahren bei einer großen alten Zeitung, der FAZ, konnte ich Reste davon ebenso fasziniert wie auch belustigt beobachten: Mancher FAZ-Redakteur sah sich gewissermaßen noch immer als Informations- und Deutungsbeamter mit quasi-staatlichem Auftrag. Nicht er hatte dem Leser zu folgen – der Leser hatte ihm zu folgen. Es gab fast so etwas wie ein Herr-Knecht-Verhältnis zwischen Redakteur und Leser, der natürlich dauerhaft und unerschütterlich Abonnent zu sein hatte.
Damit ist es bekanntlich vorbei, der Journalist watet heute täglich durch ein Meer von Zumutungen. Es ist vor allem der technische Wandel der Medien, der ihm zusetzt. Jetzt läuft er auf einmal hinterher. Von Avantgarde ist er, so scheint es, zur Derrièregarde geworden. Die journalistische Arbeit wird maschinisiert, industrialisiert und für viele damit entwertet. Der Journalist wird zu einem Rund-um-die-Uhr- Lieferanten von schnell produzierter Ware. Sie alle kennen die Klage – und ich streife sie nur, um hinzuzufügen, dass ich diesen Pessimismus ganz und gar nicht teile. Obwohl ich anerkenne, dass das, was man heute in Redaktionen tagtäglich beobachten kann, nicht immer ermutigend ist.
Dennoch glaube ich, dass in den neuen technischen Möglichkeiten, die es seit dem Aufkommen des Internets gibt, viel mehr Möglichkeiten als Gefahren schlummern. Ich meine damit nicht nur die besseren Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und der visuellen Gestaltung. Ich meine vor allem den Umstand, dass in Zukunft ein erheblich klügerer, viel mehr in die Tiefe gehender Journalismus möglich sein wird. Die pure Geschwindigkeit des Nachrichtenumschlags und die so oft beklagte Verflachung sind nicht unser Schicksal.
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Nachdem ich das vorausgeschickt habe, will ich ein wenig der Frage nachgehen, ob das, was wir gerne die Krise des Journalismus nennen, nicht auch von uns Journalisten selbst geschaffen worden ist, zumindest aber mit verursacht worden ist. Lassen Sie es mich an einem privilegierten Spielplatz des herkömmlichen Journalismus, nämlich am politischen Journalismus, erläutern.
Die Politik, zumindest die demokratischer Staaten, bewohnt heute zwei Etagen. Die erste liegt zu ebener Erde. Alles, was hier geschieht, ist von außen leicht einzusehen. Und was sieht man da? Wenn den journalistischen Berichten, die täglich zu uns dringen, zu glauben ist, dann sieht man da Menschen, die ständig und vor allem in Streit verwickelt sind. Sie konkurrieren untereinander, übervorteilen sich, betrügen sich, sie lügen, verbergen ihre wahren Absichten – und sie sind nie an politischen Inhalten, sondern immer nur am eigenen Fortkommen interessiert. Sie sind wie Du und ich: kleinlich, verschlagen, gemein.
Ich will das an einem aktuellen deutschen Beispiel erläutern. Seit Herbst 2009 haben wir eine Bundesregierung, in der Konservative und Liberale zusammen regieren. Obwohl beide vor der Wahl dieses Bündnis als ihre Traumkonstellation beschrieben und beschworen haben, war der Start katastrophal: inhaltliche Leere, keine Klarheit und viele gegenseitige Beschimpfungen. Das kam der Mehrheit der Journalisten ziemlich gelegen. Denn wenn etwas nicht gelingt, scheint es stets interessanter zu sein als das Gelingende.
Nun erlebten wir in diesem Sommer eine Zeit, in der sich fast alle kommentierenden Auguren ganz sicher waren, dass diese Regierung am Ende sei. Man überbot sich wechselseitig in Prognosen, wann Schluss sein würde. Sie war natürlich nicht am Ende. Politik ist ja schließlich auch die Kunst, Auswege aus ausweglosen Situationen zu finden. Die Regierung machte das eine oder andere gar nicht so schlecht. Und plötzlich rieb man sich die Augen: keine Spur von Zusammenbruch mehr. Warum diese Fehleinschätzung, warum die Verwunderung? Man hatte beharrlich nur auf die skandalisierbare Oberfläche der Politik geblickt. Dahinter stand die – wenn ich so sagen darf – niedere Gesinnung vieler Beobachter, die Politik grundsätzlich nur unter dem Blickwinkel ihres möglichen Scheiterns betrachten und die ins Besserwissen verliebt sind. Es würde mir nicht schwer fallen, das deutsche Beispiel etwa um das italienische zu ergänzen. Auch dort blasen die meisten Medien – auch so seriöse Blätter wie Corriere della Sera oder La Repubblica – die kleinen, sich in endloser Folge ablösenden Querelen im Palazzo Montecitorio, im Parlament und auf endlosen Pressekonferenzen zu einem täglichen Horrorbild auf, wie es greller George Grosz nicht hätte malen können.
Es stand und steht aber auch eine ganz törichte Vorstellung von Aktualität dahinter, nämlich die völlig verrückte Idee, Politik finde nur in der Gegenwart, nur im Moment statt. Das hat natürlich mit der großen Geschwindigkeit des Nachrichtenumschlags zu tun. Jede kleine Missstimmung muss in einer medialen Welt, die auf Krach, Sensation und Katastrophe setzt, über Gebühr aufgeblasen werden. Und am Ende glaubt das Publikum sogar, eben das sei das Wesen, der Kern von Politik. Dieser Journalismus verliert die großen Bögen aus den Augen, er ertrinkt in der Gegenwart.
Oder – um im Bild von den zwei Etagen zu bleiben – er übersieht die zweite und wichtigere Etage der Politik. Den Keller, den großen Raum, in dem träge und zäh der große Fluss der Geschichte fließt. Auch in Zeiten globaler Beschleunigung sind es ja zumeist nicht die neuen, sondern die alten Probleme, mit denen Politik sich herumzuschlagen hat. In Italien etwa ist der alte Nord-Süd-Konflikt, ist das alte Nord-Süd-Ungleichgewicht unendlich bedeutsamer als das aktuelle Ballett, das die Herren Berlusconi, Fini, Bossi, Casini, D’Alema und Bersani so schwungvoll aufführen. Kurz vor dem 150. Jahrestag der italienischen Vereinigung fragt sich Italien wie eh und je, was diesen Staat eigentlich zusammenhält.
Und auch in Deutschland sind es die langen Wellen, die tieferen Strömungen, die das aktuelle Geschehen prägen. Hier ist die alte Frage, wie viel Freiheit die Deutschen vertragen und wollen, viel bedeutsamer als das Räsonnement darüber, ob Frau Merkel noch fest im Sattel sitzt oder bald von Jüngeren und Smarteren abgelöst werden wird. Ich will das Interesse an der politischen Soap Opera ja gar nicht diffamieren, oft ist sie ja wirklich lustig. Darüber sollte man doch aber bitte nicht übersehen, dass unsere Politik – ob sie es will oder nicht – an so dauerhaften Fragen arbeitet wie der, ob den Deutschen in unsicheren Zeiten Sicherheit über alles gehen muss oder ob sie zu Schritten ins Offene befähigt sind. Es geht dann um Fragen wie Demographie, Sozialstaat, industrieller Fortschritt. Trauen wir es uns zu, Bahnhöfe unter die Erde zu verlegen, oder soll alles bleiben wie es ist?
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Ich will eine These wagen. Ein Journalismus mit Hoffnung auf Zukunft und Leser muss entschieden mehr tun, als auf den Schaumkronen der aktuellen Aufgeregtheiten zu schwimmen. Er muss diese entschlossen beiseite räumen und zu Fragen wie den eben genannten vordringen. Wenn er das nicht tut, unterfordert er das Publikum. Gewiss, Journalisten müssen vielleicht auch Surfer sein. Wichtiger wird es in Zukunft aber sein, dass sie tauchen können. Es geht immer mehr um die Geschichte hinter der Geschichte.
Journalisten müssen heute schnell sein. Das kann im Zeitalter großer Geschwindigkeit im Nachrichtenumschlag auch nicht anders sein. Aber: Nur schnell zu sein, kann die Lösung nicht sein. Es braucht auch ganz traditionelle Tugenden: Ruhe, Distanz, Muße. Darum muss Journalismus mit Leidenschaft kämpfen. Ich darf das Problem an einem deutschen Beispiel erläutern. Schon seit Jahrzehnten sind Politik und Journalismus einander näher gekommen. So nah, dass es nicht immer gut war. Gerhard Schröder wäre wohl nie Bundeskanzler geworden, wenn er nicht in frühen Jahren eine ganz Schar von Journalisten um sich geschart hätte, die seinen neuen Stil, der sehr casual war, toll und spannend fanden. Beide Seiten halfen einander, auch wenn das nie ausgesprochen wurde und es manchem vielleicht gar nicht klar war. Journalisten waren einem Alphatier nahe, das sie mit spannenden Politstories versorgte. Und sie profitierten vom Glanz dieses ungewöhnlichen und so selbstbewussten Mannes.
Es liegt auf der Hand, dass solche Nähe höchst problematisch ist. Seit die deutsche Regierung nach Berlin gezogen ist und wir uns seit knapp zwei Jahrzehnten in Hauptstadt üben, ist diese Nähe nun noch enger geworden. Politik und Journalismus sind geradezu ineinander verzahnt – und das schadet erkennbar beiden, dem Journalismus und der Politik.
Ich will keinesfalls die alten Zeiten verherrlichen. Aber vielleicht war es – journalistische Neugier hin oder her – doch besser, dass früher die Parteien, die Politiker, die Regierungen Gesetze, Reformen, Koalitionen etc. in einiger Abgeschiedenheit beraten konnten. Erst dann, wenn sie etwas Substanzielles in der Hand hatten, gingen sie an die Öffentlichkeit – die dann darüber diskutieren konnte. Es fehlte damit Gott sei Dank der tägliche Hauch der Geschichte.
Mit der Hektik, die heute herrscht, beschädigen wir Politik und Journalismus gleichermaßen. Beim Journalismus liegt es auf der Hand. Er ertrinkt im Alltag, in der winzigen Sensation. Eine Gesellschaft wird älter und immer älter. Wie kann sie da jung und neugierig und innovativ bleiben? Ein riesiges Thema ist das, das fast alle Bereiche umfasst: Viele Gesetze müssen geändert werden; über kurz oder lang muss ein neues Rentensystem her; wir werden uns mit der Frage nach den Lebensaltern, nach der Entvölkerung bestimmter Regionen herumschlagen müssen; wir werden uns kulturell an junge Alte gewöhnen müssen, die sich nicht mehr der jahrtausendealten Regel beugen, dass Alte am Rande oder gar außerhalb der Gesellschaft zu stehen haben. Themen über Themen, die das Handwerk der Politik genauso betreffen wie unsere innersten Lebens- und Empfindungswelten. Was für ein unermesslicher Stoff! Hier liegen die Geschichten, die Rätsel, die Lösungen, die Dilemmata. Ich bin mir sicher: ein Journalismus, der hier hartnäckig beim Thema bleibt, wird sein altes Publikum halten und ein neues hinzu gewinnen.
Aber die hektische Nähe von Politik und Journalismus schadet auch der Politik. Um in meinem Bild von den zwei Etagen zu bleiben: Es lohnt sich für jeden ehrgeizigen Politiker, sich so lange und so sichtbar wie möglich im Parterre aufzuhalten und zur Schau zu stellen. Was er unten tut, interessiert niemanden – was übrigens oft zur Folge hat, dass das eigentliche politische Geschehen, das Mahlen der großen politischen Mühlen von der Öffentlichkeit überhaupt nicht wahrgenommen wird. (Das wiederum mag manchem Politiker ganz recht sein.) Politiker stehen unter ständiger Medienbeobachtung. Das zwingt viele von ihnen dazu, viel dafür zu tun, dass die Medien ihnen gewogen sind. Nicht was sie tun, zählt – es zählt vielmehr, wie sie es inszenieren. Die Politik pflegt ihre den Medien zugewandte Seite. Und das geht dann so weit, dass politische Entscheidungen in erster Linie unter medialen Gesichtspunkten erfolgen. Es gibt kaum einen Politiker, der das im Gespräch nicht beklagt – der es aber für ein eisernes Gesetz der medialen Moderne hält, dass sich die Politik nie wieder aus der Geiselnahme durch die Medien wird befreien können.
Es tut mir sehr leid, das sagen zu müssen. Denn eigentlich neige ich überhaupt nicht zum Kulturpessimismus. Die Welt wird nicht besser oder schlechter, sondern anders. Und immer gibt es gute Chancen. Auch heute. Die neuen technologischen Möglichkeiten eröffnen uns Chancen, von denen wir früher nicht zu träumen gewagt hätten. In die Tiefe gehen, große Geschichten erzählen, die immer noch unentdeckte Welt erkunden, Hintergrund zu liefern, Fragen aufwerfen, Beobachtungssprachen einzuüben und aus Antworten wieder Fragen zu machen: Es ist herrlich, was heute alles möglich ist. Wir müssen es nur tun. Warum tun wir es eigentlich nicht?
Tischrede anlässlich des vom österreichischen Bundeskanzler gegebenen Essens am Vorabend der IWM-Konferenz Social Solidarity, Democracy and the Media, 19. und 20. November 2010.
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Transit – Europäische Revue, Nr. 41/2011