In den Jahren 2008 bis 2010 veranstaltete das IWM mit freundlicher Unterstützung des Renner- Instituts eine Reihe von Vorträgen unter dem denkbar einfallslosen Titel Kunst – Gesellschaft – Politik. Drei unvermittelt aneinander gereihte Allerwelts-Hauptwörter, noch dazu im verpönten Singular – wo wir doch längst wissen, dass es die/eine Kunst, die/eine Gesellschaft, ganz zu schweigen von der/einen Politik nicht mehr gibt, nie gegeben hat und überhaupt nicht geben kann, sondern nur die unübersichtliche Fülle, die bunte Vielfalt, die irreduzible Pluralität von Künsten, Gesellschaften, Politiken usw. – oder vielleicht auch gar nichts von alle dem. In einer Zeit, in der für alles und nichts geworben werden muss, in der das Ringen um Aufmerksamkeit zum Imperativ für jede Art von öffentlicher Veranstaltung wird, scheint ein so nichtssagender Titel jedenfalls eine fatale Marketingstrategie.
Zur Einführung
Die Wahl der Worte weist nicht unabsichtlich zurück auf die »Sattelzeit« der westlichen Moderne. In den Jahrzehnten vom späten 18. Jahrhundert bis ins erste Viertel des 19. Jahrhunderts haben sich die Grundbegriffe der politisch-sozialen Sprache der Moderne entwickelt; sei es, indem klassische Topoi einen tiefgreifenden Bedeutungswandel erfuhren, sei es, dass neue Begriffe gebildet wurden[1]. Während sich im Verlauf der Neuzeit die überkommene Einheit der scientiae et artes allmählich auflöste und sich die Wege von Wissenschaften und Künsten trennten, verbanden sich die bis dahin disparaten Künste der Malerei und Bildhauerei, der Musik und Literatur sowie Architektur, zu einem einheitlichen System der Kunst. Damit integrierten sich die Künste auf ähnliche Weise zum Singular wie die Geschichte und die Gesellschaft, während die Politik unter dem Vorzeichen von Demokratisierung ganz neue Bedeutung annahm. Mit anderen Worten, die Prozesse der Ausdifferenzierung eigengesetzlicher Wertsphären bzw. Subsysteme der modernen Gesellschaft und der Agglomeration neuer »Kollektivsingulare« verlaufen parallel zu einander.
In diesem Kontext ist es die mit moderner Technologie und Industrie assoziierte Wissenschaft, welche die Stellung des leitenden gesellschaftlichen Wissensdiskurses übernimmt und bis heute – da sich die Gesellschaft explizit als »Wissensgesellschaft« bezeichnet – behält. Dagegen rückt die vergleichsweise lange handwerklich organisierte Kunst so weit an den Rand der gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge, dass sie von diesen überhaupt befreit zu sein scheint. Positiv gewendet bedeutet das: Im Verhältnis zu den anderen, sich in funktional unterschiedene Subsysteme ausdifferenzierenden Gebieten der modernen Gesellschaft entwickelt die Sphäre der Kunst einen höheren Grad an Autonomie und in weiterer Folge Alterität, das heißt Andersartigkeit, Fremdheit gegenüber der Gesellschaft. In der Alterität des ästhetischen lässt sich die Idee des autonomen modernen Subjekts in höherem Masse realisieren als in allen anderen Bereichen – wenn auch nur in der Ausnahme-Gestalt des Künstlers: Vom Dienst an Thron und Altar, von der Aufgabe der Repräsentation sakraler oder der Verherrlichung weltlicher Macht ebenso entbunden wie von der Verpflichtung auf die Wirklichkeit, sei es als Nachahmung der Natur, sei als Beitrag zur Verschönerung des Lebens oder zur Unterhaltung des Publikums, hat der moderne Künstler keine andere Aufgabe als dem Ausdruck zu verleihen, was er in sich selbst findet. Auf die Frage, was der Künstler in seinem Inneren (das auf diese Weise erst konstituiert wird) findet, gibt es zwei Antworten: Entweder sind es die reinen, objektiven Gesetze der Formen, der Farben, der Töne, der Sprache, kurzum des »ästhetischen Materials«, oder es sind die subjektiven Visionen und Imaginationen seiner Fantasie, seines authentischen Erlebens, die in Worte, Klänge und Bilder zu übersetzen, die eigene und einzige Aufgabe des Künstlers ist. Damit eröffnen sich zwei – auf den selben Grundlagen basierende, aber doch entgegengesetzte – Positionen, die für die weitere Entwicklung der modernen Kunst prägend sind: die Ausbildung einer eigengesetzlichen, zweckfreien und selbstreferentiellen Formenwelt auf der Objekt- bzw. Werkseite und die Positionierung des authentischen, exzentrischen, exaltierten Ich des Künstlers auf der Subjekt- bzw. Akteurseite.
Insofern die Entwicklung der modernen Gesellschaft grundsätzlich in Richtung Ausdifferenzierung relativ autonomer Teilsysteme verläuft, ist die Alterität von Kunst und Künstler gegenüber der Gesellschaft ein Reflex der gesellschaftlichen Entwicklung. Insofern als die relative Autonomie im Fall der Kunst besonders ausgeprägt ist, eröffnet sich die Möglichkeit der Reflexion der gesellschaftlichen Verhaltnisse durch Kunst und Künstler. Diese aus der Distanz gegenüber der Gesellschaft resultierende Option zu ihrer Reflexion enthält zugleich ein Potential zur Negation bzw. zur Kritik der Gesellschaft, was – vereinfachend zusammengefasst – in drei Richtungen führen kann: Am leisesten ist die Kritik in der Ausformung einer (wie auch immer ausgestalteten) ästhetischen Anders-Welt, die, ihren eigenen Regeln und Gesetzen gehorchend, einen Rückzugsort von der Gesellschaft bieten soll. Reaktionäre Perspektiven entstehen, wenn im Medium des Ä sthetischen gesucht wird, was die moderne Gesellschaft verloren, hinter sich gelassen oder vernichtet hat. Wenn umgekehrt in der Alterität der Kunst ein Weg zur Entfaltung der Erwartungen und Hoffnungen gesehen wird, welche die moderne Gesellschaft geweckt, aber doch nicht, noch nicht eingelöst hat, dann kann die Kunst den Vorschein eines besseren Morgen zeigen, zur Vorhut einer neuen Gesellschaft werden, zu einer Avantgarde auf dem Marsch in eine schönere Zukunft.
Nicht im Dienst an den bestehenden Verhältnissen, nicht in der affirmierenden, grundsätzlich affirmativen Repräsentation gesellschaftlicher Macht und politischer Herrschaft, vielmehr in der nostalgischen Sehnsucht nach oder im entschlossenen Engagement für eine radikal andere Gesellschaft entwickelt Kunst in der Moderne politische Züge, die von einem ›realpolitischen‹ Standpunkt aus allemal fragwürdig erscheinen: dilettantisch illusionär, utopisch, lächerlich – und unter Umständen sogar gefährlich. Dass das alteritäre Potential der Kunst gleichwohl durch reale gesellschaftliche Interessen und politische Parteien gebraucht und missbraucht werden kann, hat sich im Verlauf des zwanzigsten Jahrhundert ebenso gezeigt wie die unumstößliche Tatsache, dass Kunst trotz der ihr eigenen Distanz zur modernen Gesellschaft nicht aufhört, deren Züge zu tragen, so dass der Anspruch von Kunst auf das ›richtige‹ Leben immer auch am ›falschen‹ teilhat.
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Der Geschichte und der Transformation des Verhältnisses zwischen Kunst und Gesellschaft im Allgemeinen und namentlich dem Schicksal der engagierten Kunst, der Relation von Kunst und Politik gilt das Interesse des hier vorgestellten Projekts.
Gewiss ist das hier skizzierte idealtypische Konstrukt der ästhetischen Ideologie der Moderne im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts aus den verschiedensten Gründen und in den unterschiedlichsten Hinsichten in Frage gestellt, in Zweifel gezogen, attackiert und unterminiert, ja fast bis zur Unkenntlichkeit zerrieben, zerrissen worden; es hat sich so gut wie restlos verschlissen und scheint beinahe erledigt. Aber doch nicht ganz. Wenn die Vortragsreihe und die an sie anschließende Publikation den Versuch unternehmen, den Weg der durch die Leitbilder von Autonomie, Authentizität und Alterität geprägten Kunst auf ihrer Gratwanderung zwischen andersweltlicher Distanz und politischem Engagement für eine andere Welt durch das zwanzigste Jahrhundert hindurch und bis in die Gegenwart hinein zu verfolgen, dann vor allem deswegen, weil sich die Grundzüge dieser Konzeption unter gänzlich veränderten Bedingungen durchhalten bzw. unerwartet wieder auftauchen. Dies gilt nicht ausschließlich, aber in auffallender Weise für die im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts besonders exponierte und entsprechend besonders desavouierte engagierte bzw. politische Kunst. Vielfach beargwöhnt und oft totgesagt, erregen in der Kunst der Gegenwart Phänomene, Werke, Ereignisse und Kommentare Aufmerksamkeit, die sich dieser Traditionslinie der modernen Kunst zuordnen lassen – oder vielleicht auch nicht?
So wenig wie es die/eine Kunst, Gesellschaft oder Politik gab, gibt oder jemals geben kann, so wenig kann es die/eine Theorie der gesellschaftlich engagierten, politischen Kunst geben, und entsprechend heterogen sind die im projektierten Band versammelten Texte. Unser Ziel ist es, einen möglichst weiten Blick auf das äußerst breite Spektrum von Ansätzen zu werfen, die es heute zu diesem Themenkomplex gibt. Es geht darum, der Unterschiedenheit der Künste Rechnung zu tragen, von den traditionellen ästhetischen Ausdrucksformen bis zu den durch neue Technologien eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten. Das Interesse einiger Aufsätze gilt der problematischen Geschichte der politischen Ä sthetik in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie versuchen, die Zusammenhänge und Brüche zwischen Avantgarde, Neo-Avantgarde und Post-Avantgarde zu beleuchten, aber auch die dunklen Punkte der ästhetischen Politik der totalitären Regime (namentlich des Nationalsozialismus) vor den Blick zu bringen. Andere Beiträge befassen sich mit der gesellschaftlichen Verfasstheit von Kunst in den ihrer Vermittlung dienenden Institutionen (z.B. Museum). Es stellen sich die ›alten‹ Fragen, die gerade im Kontext gesellschaftlich und politisch engagierter Kunst immer wieder gestellt wurden: nach dem Realismus und der Breitenwirksamkeit, nach dem Verhältnis zwischen Hoch- und Populärkultur, Kunst und Kitsch. Und schließlich treten unter den Stichworten Feminismus und Postkolonialismus neue Themenfelder engagierter Kunst und Kunsttheorie ins Zentrum.
Der aus den Vorträgen der Veranstaltungsreihe und weiteren Beiträgen gestaltete Band wird 2012 im Rahmen der Wiener Reihe – Themen der Philosophie im Akademie Verlag in Berlin erscheinen. Unter dem einfallslosen Titel »Kunst – Gesellschaft – Politik«? Eine Auswahl von Beiträgen erscheint hier im Vorabdruck.
Anmerkung
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Transit – Europäische Revue, Nr. 41/2011