Wie eine Witwe aus dem Widerstand und ein DDR-Bürgerrechtler dem Gut des Feldmarschalls Moltke neues Leben einhauchten
Da sitzt der alte Feldmarschall Moltke nun auf einer Wolke im Himmel – so vermuten wir – und schüttelt sachte den Kopf. Was ist aus seinem Gut in Schlesien geworden! Wegen seiner Leistungen als Generalstabschef, wegen seiner Verdienste um die „mit Eisen und Blut“ erkämpfte deutsche Einheit, hatte Bismarck von Moltke in den Grafenstand erhoben. Im Alter von 67 Jahren erwarb Helmuth K. B. Moltke das Gut Kreisau. Mehrere Generationen seiner Familie sollten fortan dort leben und wirtschaften.
Jahrzehnte später bebte – selbst im Himmel war es zu spüren – ein paar Mal die Erde. Die neueste Nachricht von unten, Schlesien betreffend: Die Regierungen Polens und Deutschlands haben auf ihrer gemeinsamen Sitzung in Berlin im November 2012 beschlossen, das Gut, konkret: die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, in den nächsten fünf Jahren mit je 400.000 Euro zu unterstützen. Internationale Jugendbegegnungsstätte, so heißt das nun. Tausende europäischer Jugendlicher haben hier in den letzten Jahren Seminare absolviert, Tausende werden noch kommen. Statt Preußens Gloria – Blumenkinder in Kreisau.
Soviel zum Anfang und zum neuesten Stand dieser wundersamen Geschichte. Dazwischen ist einiges geschehen, damit aus Kreisau werden konnte, was es heute ist. Das Dorf heißt heute Krzyzowa und liegt in Polen. Aber es ist kein Ort wie jeder andere. Kreisau ist über 70 Jahre zu einem Ort der Begegnungen geworden, wie es in Europa keinen zweiten gibt.
Es begann 1940. Zwei schlesische Männer im besten Alter, aber nicht in der glücklichsten Zeit ihres Lebens, begannen per Brief Gedanken auszutauschen über die künftige Ordnung Deutschlands. Helmuth James Graf von Moltke, der Urgroßneffe des Feldmarschalls, und Peter Graf Yorck von Wartenburg, beides Juristen, waren zwar loyale Diener ihres Staates. Aber ihnen wurde immer deutlicher bewusst, dass an der Spitze dieses Staates Verbrecher standen und, schlimmer noch, dass das Verbrechertum durchgesickert war in fast alle Schichten der Gesellschaft.
Aus dem Paar der Briefeschreiber wurde ein Netzwerk, schließlich ein Kreis, der „Kreisauer Kreis“. Und der Mittelpunkt des Kreises war hier, unauffällig am Rande des Reiches, in hügliger Landschaft nicht weit vom Zobten, der bereits seit vorchristlicher Zeit als der heilige Berg Schlesiens gilt. Am Ende des Dorfes gelegen, finden wir hier eine Toreinfahrt, dahinter die rechteckige Anlage der Stallungen und Wirtschaftsgebäude, am Rande eine Kapelle und links ein wuchtiges Herrenhaus, das „Schloss“, wie man in Schlesien sagt. Darin erinnert ein inzwischen renoviertes Monumentalgemälde an den Einritt des Feldmarschalls 1870 in Paris.
Hier kamen sie in der Nazizeit zusammen: Moltke und Yorck, die Geistlichen Augustin Rösch und Alfred Delp, die Sozialdemokraten Theodor Haubach und Carlo Mierendorff und manche andere. Hier arbeiteten sie 1942/43 in geheimen Sitzungen an der „Neuordnung“ Deutschlands und Europas nach der erhofften Überwindung des NS-Regimes. Als erster wurde Anfang 1944 der Gastgeber verhaftet: Moltke. Noch wusste die Gestapo nichts von der Existenz des Kreises. Als jedoch Stauffenberg, Moltkes Cousin, seine Bombe explodieren ließ und Hitler nur verletzt war, kam der Terror auch über die Kreisauer. Moltke, Yorck und viele andere bezahlten ihre Tätigkeit mit ihrem Leben.
Eine Generation später wird ein Kanzler aus Deutschlands Westen in Warschau niederknien. Kurz zuvor, im Sommer 1970, reist erstmals ein junger DDR-Bürger nach Polen. Ludwig Mehlhorn heißt er, er stammt aus dem Erzgebirge und studiert Mathematik an der Sächsischen Bergakademie in Freiberg. Die Evangelische Studentengemeinde hat ihn geprägt, die Lektüre Bonhoeffers hat seine Wachsamkeit gegen Übergriffe jeglicher Staatsgewalt geschärft. Mit einer Gruppe der „Aktion Sühnezeichen“, einer der wenigen, in beiden deutschen Staaten tätigen Bewegungen, kommt er nach Polen. Er schreibt seiner Freundin (und späteren Frau) Heimgard voller Begeisterung eine Postkarte: „Wir sind überaus freundlich aufgenommen worden… Ein Nachbarland, das man kennenlernen muß.“
Ein Wendepunkt in seinem Leben. Als in Polen Ende der 70er-Jahre auf Dauer eine Bürgerrechtsbewegung entsteht, reist Mehlhorn immer öfter dorthin. Er schöpft Ideen, übersetzt Texte der Opposition, verbreitet in der DDR polnische Literatur. Als er 1977 die „Ideen für ein Aktionsprogramm“ von Jacek Kuron liest, der wohl charismatischsten Gestalt dieser Bewegung, fällt es ihm, so sagt er, „wie Schuppen von den Augen“. Die Lehren daraus: Marsch durch die Institutionen – sinnlos, gewaltsamer Widerstand – fragwürdig und chancenlos.
Was bleibt? Eigene Strukturen schaffen, „Widerstand durch soziale Bewegung“, Aufbau von „Räumen freier und unzensierter Kommunikation“, Solidarität untereinander, Einsatz „mit vollem Namen und damit auch vollem Risiko“ – und nicht zuletzt: „keine übertriebene Angst vor einer sowjetischen Intervention“. So steht es in „Aufbruch in Mitteleuropa“, einem nachgelassenen, wunderbar aufrichtigen Erinnerungstext Mehlhorns aus den 1990-er Jahren. Der Mathematiker wird zu einem der wenigen Mittelsmänner zwischen der Opposition in Polen und jener in der DDR. Er gibt mit Freunden in Ost-Berlin illegal Anthologien oppositioneller Texte heraus. Es gab ihn, den Samisdat made in Germany, der Stasi zum Trotz.
Mehlhorn orientiert sich nach Osten. Derweil hat Freya von Moltke, die Witwe und letzte Gutsherrin in Kreisau, Deutschland Richtung Westen verlassen. In Vermont (USA) hat die promovierte Juristin wenn nicht Heimat, so doch eine Bleibe gefunden. Was galt sie noch im eigenen Land? „Polenfreunde“ wie Mehlhorn hatten in der DDR einen schweren Stand; die Familien der Nazi-Gegner in Westdeutschland waren ebenfalls wenig beliebt. Spät, spät kehrt die Gräfin zurück ins Bewusstsein ihrer Landsleute, am deutlichsten 1988 mit der Veröffentlichung des Briefwechsels mit ihrem inhaftierten Mann. Wenig später gerät die DDR-Diktatur ins Wanken. Da taucht Ludwig Mehlhorn auf: jahrelang mit Berufs- und Reiseverbot belegt und bespitzelt, ist er im Sommer 1989 einer der ersten Köpfe der Bürgerbewegung. Seine Wohnung direkt am Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg wird zu einem Anlaufpunkt der friedlichen Revolutionäre.
Und jetzt wächst, um das berühmte Wort Willy Brandts zu gebrauchen, wirklich zusammen, was zusammengehört: Freya von Moltke begegnet Ludwig Mehlhorn. Die hagere, groß gewachsene Gräfin mit dem silberweißen Haar trifft den kleinwüchsigen, bedächtigen, fast scheu wirkenden Mann mit dem Schnurrbart. Beide treibt schon 1989 der Gedanke um, was jetzt in Kreisau zu tun sei. Zwar feierten hier Helmut Kohl und der polnische Premier Tadeusz Mazowiecki die „Versöhnungsmesse“ – zufällig war sie für den 12. November angesetzt. Dass zuvor die Mauer fallen würde, ahnte damals offenbar nur Lech Walesa. Die Umarmung Kohl-Mazowiecki in Kreisau: ein strahlendes Ereignis, doch die harte Arbeit taten andere.
Vor allem das Tandem Mehlhorn-Moltke. Dazu eine Handvoll West- und Ost-Berliner und der polnische „Klub der Katholischen Intelligenz“ aus Breslau. Noch 1989 entstand der Verein „Kreisau-Initiative“, um in dem Gut, jetzt Sitz einer polnischen LPG, eine Begegnungsstätte einzurichten und dafür auch das verfallene Schloss zu renovieren. Das Bohren dicker Bretter begann. Ein Projekt, das Mehlhorn entwarf, war eine Dauerausstellung, die dem geschichtlichen Erbe gewidmet sein sollte. Die Frage war nur: Welchem Erbe?
Darüber gab es auch ein wenig Streit. Konnte man wirklich, ohne Missverständnisse zu provozieren, den deutschen Widerstand gegen den Hitlerstaat mit der polnischen Solidarnosc-Bewegung verknüpfen? Schlimmer noch: Bei deutschen (oder westeuropäischen) und bei polnischen (osteuropäischen) Betrachtern könnten dabei jeweils eigene Missverständnisse aufkommen. Am Ende gar eine dämliche Debatte darüber, welche Diktatur „schlimmer“ oder welcher Regimegegner „tapferer“ war.
Mehlhorn hat diese Gefahren souverän gemeistert. Er war es, der die gemeinsame Ausstellung am Ende durchsetzte. Sie steht unter dem berühmten Motto von Václav Havel: „In der Wahrheit leben.“ Der Kampf für die Wiederherstellung der Wahrheit sei, so Mehlhorn, der „kleinste gemeinsame Nenner“ jeglichen Widerstands gegen totalitäre Diktatur gewesen. Als die Ausstellung 1998 eröffnet wurde, reisten einige ihrer Protagonisten persönlich an. Freya von Moltke trifft Jacek Kuron. Nijole Sadunaite, die bekannteste litauische Bürgerrechtlerin, begegnet Tatjana Welikanowa, der fröhlichsten russischen Dissidentin, auch nach sieben Jahren Lager und Verbannung. Ein großer Tag für Kreisau.
Wer heute durch das Anwesen streift, dem muss die Tyrannis von einst wie ein böser Traum erscheinen. Heute hält am Tor gerade ein Bus mit deutschen Touristen, in den früheren Stallungen wird eine polnische Hochzeit gefeiert, im Schloss diskutieren weißrussische und holländische Jugendliche mit Männern und Frauen im besten Alter über die Zukunft Europas. Wer auf die Namensschildchen schaut, wird Mitglieder der Familien des deutschen Widerstands entdecken. Wie dieser neue Kreisauer Kreis entstehen konnte, ist in zwei Büchern nachzulesen. Sie erzählen mit sorgsam ausgewählten Bildern eine große europäische Geschichte.
Stephan Bickhardt (Hg.), In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2012. 298 S., 13,80 Euro.
Ludwig Mehlhorn, In der Wahrheit leben. Aus der Geschichte von Widerstand und Opposition in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Begleitbuch zur Ausstellung, Kreisau/Krzyzowa 2012. Deutsche Ausgabe: 10 Euro, polnische Ausgabe: 7 Euro, jeweils 295 Seiten. Erhältlich bei www.kreisau.de.
Gerhard Gnauck ist Journalist und ehemaliger Milena Jesenska Fellow des IWM. Nach dem Studium (Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaft, Slawistik; Promotion über Russland nach 1990) war Gnauck Redakteur bei der FAZ und zog 1999 als Korrespondent für die Welt in die polnische Hauptstadt, wo er heute lebt. Er ist Autor eines Büchleins über Warschau und einer kritischen Biografie über Marcel Reich-Ranickis, die 2009 unter dem Titel Wolke und Weide erschien.