Der Ort der Religion im säkularen Europa

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Seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahre 1957, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ins Leben riefen und den bis heute andauernden Prozess der europäischen Einigung in Gang brachten, sind die Gesellschaften Westeuropas in einem rasanten, tiefgreifenden und allem Anschein nach unumkehrbaren Säkularisierungsprozess begriffen. So gesehen, lässt sich von der Entstehung eines nachchristlichen Europa sprechen. Gleichzeitig aber haben der europäische Integrationsprozess, die Osterweiterung der Europäischen Union und die Ausarbeitung des Entwurfs einer europäischen Verfassung grundlegende Fragen aufgeworfen, die das Selbstverständnis Europas betreffen und insbesondere die Rolle, die das Christentum dabei spielt. Was macht »Europa« aus? Wie und wo sollte man die äußeren, territorialen und die inneren, kulturellen Grenzen Europas ziehen? Besonders umstritten und Ängste weckend sind die Fragen der Aufnahme der Türkei in die EU und der Integration der Einwanderer aus Gebieten außerhalb Europas, bei denen es sich, wie es der Zufall will, zum überwiegenden Teil um Muslime handelt.

Die – wenn auch in unterschiedlichem Tempo – fortschreitende Säkularisierung Europas ist eine unbestreitbare soziale Tatsache. Eine wachsende Mehrheit der europäischen Bevölkerung hat aufgehört, an der traditionellen Religionsausübung (zumindest in regelmäßiger Form) teilzunehmen, wenngleich der Grad privater religiöser Überzeugungen relativ hoch bleibt. In dieser Hinsicht sollte man vielleicht von »Entkirchlichung« und religiöser Individualisierung statt von Säkularisierung sprechen. Grace Davie bezeichnet diesen Zustand Europas als »Glauben ohne Bindung«. Dabei verstehen sich freilich die Europäer selbst in den am stärksten säkularisierten Ländern zu großen Teilen immer noch als »christlich«, was auf eine latente, unspezifische, unter der Oberfläche fortdauernde christliche kulturelle Identität hindeutet. Von daher behält auch Danièle Hervieu-Léger Recht, wenn sie umgekehrt den Zustand der Europäer als »Bindung ohne Glauben« charakterisiert. »Säkulare« und »christliche« kulturelle Identität sind bei den meisten Europäern auf komplexe und selten artikulierte Weise miteinander verschränkt.

Soziologisch gesehen ist das interessanteste Problem nicht der fortschreitende Niedergang der Religiosität in der Bevölkerung Europas, sondern der Umstand, dass dieser Niedergang durch die Brille des Säkularisierungsparadigmas gesehen wird und deshalb von einem säkularistischen Selbstverständnis begleitet ist, welches den Niedergang als normal und fortschrittlich begreift, das heißt, als die quasi normative Implikation der Tatsache, ein moderner, aufgeklärter Europäer zu sein. Dieses säkulare Selbstverständnis, das die Eliten Europas mit den Leuten von der Straße teilen, macht aus der Religion und der dicht unter der Oberfläche liegenden christlich-europäischen Identität ein kompliziertes und verwirrendes Problem, wenn es darum geht, die äußeren geographischen Grenzen und die interne kulturelle Identität der im Entstehen begriffenen Europäischen Union zu bestimmen.

Welchen Ort die Religion im Entstehungsprozess des neuen Europa hat, möchte ich anhand von vier Fragen erörtern, die derzeit kontrovers diskutiert werden: der Rolle des katholischen Polen, dem Beitritt der Türkei, der Integration außereuropäischer Zuwanderer und dem Platz, der Gott oder dem christlichen Erbe im Text der neuen europäischen Verfassung zugewiesen werden soll.

Das katholische Polen im nachchristlichen Europa:
Säkularistische Normalisierung oder apostolische Aufgabe?

Dass das katholische Polen zu einem Zeitpunkt »nach Europa zurückkehrt«, da das westliche Europa seine christlich-kulturelle Identität preisgibt, schafft sowohl für die katholischen Polen als auch für die säkularisierten Europäer eine verwirrende Situation. In einer früheren Ausgabe von Transit habe ich mich mit der verwickelten Geschichte der Übereinstimmungen und Divergenzen zwischen der religiösen Entwicklung Polens und des westlichen Europa beschäftigt. Hier mag die Feststellung genügen, dass im Verlauf der kommunistischen Ära der Katholizismus in Polen eine bemerkenswerte Erneuerung und Wiederbelebung erfuhr, just zu dem Zeitpunkt, als die Gesellschaften des westlichen Europa einen drastischen Säkularisierungsprozess durchliefen. Die Wiedereingliederung Polens ins säkularisierte Europa lässt sich deshalb entweder als »schwer zu meisternde Herausforderung« oder aber auch als »große apostolische Aufgabe« betrachten. Angesichts der drohenden Säkularisierung nehmen die fundamentalistischen Teile des polnischen Katholizismus eine ablehnende Haltung gegenüber der europäischen Integration ein. Die Führung der polnischen Kirche hingegen bejaht unter dem Einfluss des polnischen Papstes die europäische Integration als große apostolische Herausforderung.

Die Ängste der »Europhoben« sind um so verständlicher, als auch in Polen die Grundannahme des Säkularisierungsparadigmas, der zufolge Modernität und Säkularisierung zwei Seiten einer Medaille sind, breite Anerkennung genießt. Da Modernisierung im Sinne einer Angleichung an das europäische Niveau der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung zu den Zielen der europäischen Integration zählt, hegen die meisten Beobachter die Erwartung, dass solch eine Modernisierung zu einer Säkularisierung auch in Polen führen und dem religiösen »Sonderweg« des Landes ein Ende setzen wird. Ein Polen, das endlich »normal« wird – das ist schließlich eines der Anliegen der »Euroenthusiasten« .

Dennoch hat der polnische Bischofsrat die der polnischen Kirche vom Papst übertragene apostolische Aufgabe nachdrücklich akzeptiert und wiederholt hervorgehoben, dass es eines seiner Ziele sei, Europa nach dem Beitritt Polens »dem Christentum zurückzugewinnen«. In den Ohren westlicher Europäer mag das zwar lachhaft klingen, aber die Botschaft stößt in der Tradition des polnischen Messianismus auf Resonanz. Falls sich der europäische Zeitgeist mit seiner säkularistischen Orientierung nicht entscheidend wandelt, bestehen für einen evangelistischen Aufbruch freilich wenig Erfolgsaussichten. Angesichts der geschwundenen Nachfrage nach Religion im westlichen Europa ist wenig wahrscheinlich, dass sich mit dem polnischen Angebot an geistlichen Hirten eine europaweite Bekehrungskampagne ins Werk setzen lässt. Die bestenfalls laue, wo nicht geradezu feindselige europäische Reaktion auf den wiederholten Aufruf von Papst Johannes Paul II. zu einer christlichen Erneuerung Europas ist ein klarer Hinweis auf die Schwierigkeit der Aufgabe.

Ich habe vorgeschlagen, es mit einer weniger ehrgeizigen, wenn auch nicht weniger mühsamen apostolischen Zielsetzung zu versuchen, die vielleicht ebenso bemerkenswerte Wirkungen erzielen könnte. Wie, wenn Polen die Säkularisierungsthese widerlegte? Wie, wenn Polonia semper fidelisseiner katholischen Identität und Tradition treu bliebe und sich gleichzeitig erfolgreich in Europa integrierte, zu einem »normalen« europäischen Land würde? Wenn dies gelänge, dann wäre es ein Beweis dafür, dass es sich beim Niedergang der Religion in Europa nicht um einen unausweichlich mit der Modernisierung verknüpften teleologischen Prozess handelt, sondern um eine historische Entscheidung, welche die Europäer selbst getroffen haben. Ein modernes, religiöses Polen könnte vielleicht die säkularisierten Europäer dazu zwingen, ihre säkularistischen Annahmen zu überdenken und zu erkennen, dass nicht so sehr Polen hinter den modernen Trends hinterherhinkt, sondern dass es das säkularisierte Europa ist, das nicht Schritt mit der Entwicklung in der übrigen Welt hält. Es soll nicht geleugnet werden, dass dieses provokative Szenario hier nur beschworen wird, um den Bann zu brechen, in dem der Säkularismus den europäischen Geist im allgemeinen und die Sozialwissenschaften im besonderen hält.

Könnte eine demokratisch-muslimische Türkei jemals dem Klub christlicher Europäer beitreten,
oder welches ist das »zerrissene Land«?

Während die Drohung eines polnisch-christlichen Kreuzzuges die säkularisierten Europäer kaum beeindruckt, bauen sie doch zuversichtlich darauf, dass sie imstande sein werden, das katholische Polen zur Anpassung zu bewegen, ruft die Vorstellung von einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union unter christlichen ebenso wie nachchristlichen Europäern massive Ängste hervor, die freilich selten deutlich artikuliert werden, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Die Türkei klopft seit 1959 geduldig an die Tür des europäischen Klubs, nur um sich immer wieder höflich vertröstet zu finden und gleichzeitig zusehen zu müssen, wie in aufeinanderfolgenden Beitrittsschüben die später Eingetroffenen einer nach dem anderen Zutritt erhalten.

Die Bildung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) im Jahr 1951 durch die Beneluxstaaten, Frankreich, Italien und Westdeutschland und der Ausbau dieser Union zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (»Gemeinsamer Markt«) im Jahr 1957 gründete in zwei historischen Aussöhnungsprozessen: der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, zwei Ländern, die von 1870 bis 1945 Kriegsgegner waren, und der Versöhnung zwischen Protestanten und Katholiken innerhalb der christlichen Demokratie. Tatsächlich spielten in der Anfangszeit der europäischen Integration in allen sechs beteiligten Ländern regierende bzw. politisch einflussreiche Christdemokraten die maßgebende Rolle. Der Kalte Krieg, der Marshallplan, die NATO und die neuentstandene Washington-Rom-Achse bildeten den geopolitischen Rahmen für beide Aussöhnungsprozesse. Im Juni 1959 bewarben sich Griechenland und einen Monat später die Türkei, zwei verfeindete Länder, aber beide Mitglieder der NATO, um Assoziationsverträge mit der EWG. Im Januar 1960 gründeten die anderen Länder Westeuropas die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) als eine alternative Wirtschaftsgemeinschaft. Nur das Spanien Francos blieb von allen anfänglichen Assoziationen und Bündnissen des westlichen Europa ausgeschlossen.

Natürlich hatte die EWG von Anbeginn die Aufnahme von Kandidaten an die Erfüllung strenger ökonomischer und politischer Bedingungen geknüpft. Irland, Großbritannien und Dänemark stellten 1961 einen Aufnahmeantrag, traten der Gemeinschaft aber erst 1973 bei. Spanien und Portugal stießen auf eindeutige Ablehnung, solange sie unter diktatorischer Herrschaft standen; doch sobald sie sich demokratisiert hatten und ihre demokratischen Verhältnisse gefestigt erschienen, wurden mit ihnen klare Aufnahmebedingungen und Zeitpläne vereinbart. Beide traten der Gemeinschaft 1986 bei. Griechenland hatte unterdessen schon 1981 Aufnahme gefunden und damit de facto die Möglichkeit, die Aufnahme der Türkei durch ein Veto zu verhindern. Aber selbst nachdem Griechenland und die Türkei in eine Art Entspannungsprozess eingetreten waren und Griechenland seine Bereitschaft erklärt hatte, die Aufnahme der Türkei zu unterstützten, vorausgesetzt, die Türkei stimmte der Aufnahme Gesamt-Zyperns zu – selbst da erhielt die Türkei immer noch keinen eindeutig positiven Bescheid, sondern wurde einmal mehr aufgefordert, sich wieder hinten anzustellen. Der Fall der Berliner Mauer änderte die Prioritäten und die Richtung der europäischen Integration erneut, nämlich im Sinne einer Orientierung nach Osten. 2004 haben zehn neue Mitglieder, acht ehemals kommunistische Länder nebst Malta und Zypern, Aufnahme in der Europäischen Union gefunden. Praktisch alle Gebiete der mittelalterlichen Christenheit, alle Gebiete des katholischen und protestantischen Europa sind nun in dem neuen Europa vereinigt. Nur das katholische Kroatien und die neutrale Schweiz bleiben draußen, während das orthodoxe Griechenland und der griechische und türkische Teil Zyperns die einzigen Andersgläubigen stellen. Die orthodoxen Länder Rumänien und Bulgarien sollen als nächste an die Reihe kommen, allerdings gibt es noch keinen klaren Zeitplan. Noch unklarer ist, ob und wann ernsthafte Verhandlungen über die Aufnahme der Türkei aufgenommen werden.

Die ersten offenen, wenn auch noch nicht offiziellen, Diskussionen um die Bewerbung der Türkei während des Kopenhagener Gipfels im Jahre 2002 trafen überall in den Öffentlichkeiten Europas einen empfindlichen Nerv. Die Debatte enthüllte, wie sehr das eigentliche Thema der Islam war, in all seinen entstellten Darstellungen als Antipode der westlichen Zivilisation, und nicht etwa die Frage, in welchem Maße die Türkei willens sei, sich den gleichen strengen ökonomischen und politischen Anforderungen zu unterwerfen wie die anderen neuen Mitglieder. Die Bereitschaft und Entschlossenheit der Türkei, diese Bedingungen zu erfüllen, stand außer Frage, da ja die neue, nicht mehr offiziell islamische Regierung sich eindeutig zur Position all ihrer früheren, säkularistischen Vorgängerinnen bekannt hatte. Beide türkischen Öffentlichkeiten, die muslimische ebenso wie die säkularistische, sprachen hier mit einer Stimme. Die neue Regierung stellte zweifellos die repräsentativste demokratische Regierung in der gesamten neueren Geschichte der Türkei dar. Allem Anschein nach war in der türkischen Bevölkerung eine breite Übereinstimmung erzielt worden, die bewies, dass die Türkei in der Frage des Anschlusses an Europa und also an den »Westen« kein »zerrissenes Land« mehr war. Zwei von den drei Anforderungen, denen laut Samuel Huntington ein zerrissenes Land genügen muss, um mit Erfolg eine neue kulturelle Identität in Anspruch nehmen zu können, waren klar erkennbar erfüllt: »Erstens muss sich die politische und ökonomische Führungsschicht des Landes für die Neubestimmung der Identität einsetzen und begeistern. Zweitens muss die Öffentlichkeit zumindest bereit sein, die Neubestimmung zu tolerieren.« Was aber offenbar fehlte, war die Erfüllung der dritten Anforderung, nämlich dass »die tonangebenden Elemente der Kultur des Gastlands, in den meisten Fällen des Westens, bereit sein (müssen), den Konvertiten aufzunehmen.«

Der Traum von Kemal Atatürk (»Vater der Türken«), aus der Türkei einen dem Modell der französisch-republikanischen laïcité nachgebildeten säkularen, republikanischen Nationalstaat zu machen, ist, wie sich erwiesen hat, nicht leicht zu verwirklichen, jedenfalls nicht im Rahmen der kemalistischen Vorgaben. Die Möglichkeit eines türkischen demokratischen Staatswesens freilich, das als echter Repräsentant seiner muslimischen Bevölkerung gelten kann, erscheint heute zum ersten Mal als ein realistischer Prospekt. Die »sechs Pfeiler« des Kemalismus (Republikanismus, Nationalismus, Säkularismus, Etatismus, Popularismus und Reformismus) vermochten keine funktionsfähige Demokratie zu begründen. Letztlich scheiterte das Projekt eines solchen, von oben verfügten Nationalstaats daran, dass dieser Staat den Islamisten zu weltlich, den Alewiten zu sunnitisch und den Kurden zu türkisch war. Ein türkischer Staat, in dem sich die Identität und die Interessen jener Gruppen, die das Gros der Bevölkerung bilden, nicht öffentlich repräsentiert finden, kann keine repräsentative Demokratie sein, selbst wenn er in modernen republikanischen Prinzipien gründet. Die jetzige muslimische Demokratie in der Türkei aber ist ebenso real und lebensfähig wie es vor einem halben Jahrhundert die christliche Demokratie in Westeuropa war. Die noch muslimische, aber offiziell nicht mehr islamistische Partei, die derzeit an der Macht ist, wurde wiederholt des Fundamentalismus bezichtigt; ihr wurde vorgeworfen, sie untergrabe die geheiligten säkularistischen Prinzipien der kemalistischen Verfassung, die religiöse und ethnische Parteien ausschließt, weil sie religiöse und ethnische Zugehörigkeit als Identitätsformen definiert, die in einer säkularisierten Türkei keinen Anspruch auf öffentliche Repräsentation haben.

Man darf sich fragen, ob die Demokratie nicht zu einem unspielbaren Spiel wird, wenn denkbare Mehrheiten nicht mehr die Wahlen gewinnen dürfen und wenn säkulare zivile Politiker die Militärs zu Hilfe rufen, um die Demokratie vor diesen Majoritäten zu retten, die ihre säkularistische Identität und ihre Macht bedrohen. Praktisch in jedem kontinentaleuropäischen Land hat es irgendwann religiöse Parteien gegeben. Viele von ihnen, zumal die katholischen, zeichneten sich nicht unbedingt durch eine demokratische Gesinnung aus, ehe dann die Lektion des Faschismus christlich-demokratische Parteien aus ihnen machte. Wenn man den Leuten nicht erlaubt, das Spiel fair zu spielen, wie sollen sie dann die Regeln schätzen lernen und eine demokratische Einstellung erwerben? Man fragt sich, wer hier eigentlich der Fundamentalist ist: Die Muslime, die ihre Identität öffentlich anerkannt sehen wollen und unter Respektierung der demokratischen Spielregeln das Recht fordern, sich zur Beförderung ihrer ideellen und materiellen Interessen politisch zu organisieren, oder die Säkularisten, die den muslimischen Schleier, den eine demokratisch gewählte Parlamentsabgeordnete trägt, als Bedrohung der türkischen Demokratie und als einen blasphemischen Verstoß gegen die geheiligten säkularistischen Prinzipien des kemalistischen Staates betrachten? Könnte die Europäische Union die öffentliche Repräsentation des Islam in ihrem Geltungsbereich akzeptieren? Kann das »säkulare« Europa der »muslimisch«-demokratischen Türkei Zutritt gewähren? Offiziell wird die Weigerung Europas, die Türkei aufzunehmen, hauptsächlich mit Defiziten der Türkei bei der Wahrung der Menschenrechte begründet. Aber es gibt auch kaum verhohlene Hinweise darauf, dass ein äußerlich säkularisiertes Europa immer noch allzu christlich ist, wenn es darum geht, sich ein muslimisches Land als Teil der europäischen Gemeinschaft vorzustellen. Man fragt sich, ob die Türkei eine Bedrohung für die westliche Kultur darstellt oder ob sie nicht vielmehr eine unerwünschte Erinnerung an die dicht unter der Oberfläche lauernde, aber tabuisierte und angstbesetzte »weiße«, christlich-europäische Identität darstellt.

Die breite öffentliche Debatte um die Aufnahme der Türkei hat bewiesen, dass im Grunde Europa das zerrissene Land ist, tief gespalten in der Frage seiner kulturellen Identität und außerstande, zu entscheiden, ob die europäische Einheit und also die äußeren und inneren Grenzen Europas durch das gemeinsame Erbe des Christentums und der westlichen Kultur oder durch die modernen säkularen Werte des Liberalismus, der universalen Menschenrechte, der politischen Demokratie und eines toleranten, umfassenden Multikulturalismus definiert werden sollen. Öffentlich können sich die liberalen, säkularisierten Eliten Europas der Haltung des Papstes, der die europäische Kultur als eine im Kern christliche betrachtet, natürlich nicht anschließen. Aber sie sind auch nicht imstande, die unausgesprochenen »kulturellen« Kriterien in Worte zu fassen, welche die Aufnahme der Türkei zu einer so schwierigen Frage machen. Das Problem gewinnt zusätzlich an Präsenz durch das Gespenst der Millionen türkischer Bürger, die bereits, häufig schon in zweiter Generation, in Europa leben, ohne aber Europäer geworden zu sein, weil sie zwischen ihrem Heimatland, das sie hinter sich gelassen haben, und ihren europäischen Gastländern, die unfähig oder nicht willens sind, sie voll zu assimilieren, hin und hergerissen sind. Viele von ihnen sind sogar wahlberechtigt, zumindest auf kommunaler Ebene, und bewähren sich als musterhafte oder zumindest ganz normale Bürger. Aber genügen sie auch den ungeschriebenen Kriterien, die bestimmen, wer Europäer ist, oder müssen sie Fremde bleiben? Kann die Europäische Union neue Bedingungen für jene Art von Multikulturalismus schaffen, den zu akzeptieren den in ihr versammelten nationalen Gesellschaften so schwer fällt?

Kann sich die Europäische Union den »fremden« Zuwanderern öffnen und sie integrieren?
Perspektiven vor dem Hintergrund der amerikanischen Einwanderung

Die ganze Neuzeit hindurch haben die Länder des westlichen Europa die Welt mit Auswanderern beschickt; tatsächlich waren sie die weltweit wichtigste Auswanderungsregion. Während der Kolonialzeit ließen sich europäische Kolonisten und Kolonisatoren, Missionare, Unternehmer und Kolonialbeamte in allen Winkeln der Erdkugel nieder. Im Zeitalter der Industrialisierung, vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, emigrierten schätzungsweise 85 Millionen Europäer in die beiden amerikanischen Erdteile, nach Südafrika, nach Australien und nach Ozeanien, 60 Prozent von ihnen allein in die USA. In den letzten Jahrzehnten allerdings hat sich der Migrationsstrom umgekehrt, und viele Gesellschaften des westlichen Europa sind nun ihrerseits Zielpunkt weltweiter Zuwanderung. Ein Vergleich mit den USA, der klassischen Einwanderungsgesellschaft (auch wenn vom Ende der zwanziger bis zum Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts das Land sich relativ strikt gegen Immigranten abschottete), lässt einige charakteristische Unterschiede zu der Art und Weise sichtbar werden, wie heute das westliche Europa auf die Einwanderung reagiert.

Obwohl der Anteil ausländischer Zuwanderer an der Gesamtbevölkerung in vielen europäischen Ländern (in Großbritannien, Frankreich, Holland und in Westdeutschland vor der Wiedervereinigung) mit 10 % etwa dem der Fremdbürtigen in den USA entspricht, haben die meisten dieser Länder nach wie vor Schwierigkeiten, sich als Einwanderungsgesellschaften zu sehen bzw. die im Land geborene zweite Generation als Landsleute zu betrachten. In den unterschiedlichen Formen, wie sie versuchen, einwandernde Religionen, insbesondere den Islam, den eigenen Verhältnissen anzupassen und Vorschriften zu unterwerfen, unterscheiden sich freilich die europäischen Gesellschaften nicht nur von der amerikanischen, sondern auch untereinander. Sie haben stark divergierende Formen staatlicher Anerkennung, Regulierung und Unterstützung religiöser Gruppen sowie abweichende Vorstellungen davon, wann und wo religiöse Überzeugungen und Kulte öffentlich bekundet und praktiziert werden dürfen.

Wie die USA neigen die europäischen Länder beim Umgang mit eingewanderten Religionen dazu, ihr spezifisches Modell der Trennung von Kirche und Staat und das jeweilige Regelsystem, dem sie ihre eigenen religiösen Minderheiten unterwerfen, zur Anwendung zu bringen. Dem französischen zentralstaatlich-säkularistischen Modell und der politischen Kultur der laïcité zufolge ist die Religion strikt Privatangelegenheit und hat im öffentlichen Raum nichts zu suchen, während gleichzeitig Druck auf die religiösen Gruppen ausgeübt wird, sich zu einer einzigen, zentralisierten, kirchenähnlichen Einrichtung zusammenzuschließen, die nach dem traditionellen Vorbild des mit der katholischen Kirche geschlossenen Konkordats der Regulierung durch den Staat unterworfen werden und als sein Ansprechpartner fungieren kann. Großbritannien dagegen hat zwar auch die staatlich sanktionierte Kirche von England, lässt aber gleichzeitig den religiösen Gemeinschaften größere Freiheit; diese können direkt mit lokalen Behörden und Schulämtern verhandeln, um Änderungen im Religionsunterricht, in den Essensgebräuchen etc. zu erreichen, ohne dass die Regierung damit belangt werden muss. Deutschland mit seinem Modell mehrerer staatlich anerkannter Kirchen hat versucht, eine quasi-amtliche islamisch-kirchliche Institution zu schaffen, teilweise parallel zu vergleichbaren Bemühungen seitens des türkischen Staats, seine in der Diaspora lebenden Bürger unter Kuratel zu stellen. Die internen Spaltungen unter den Einwanderern aus der Türkei, und die öffentliche Artikulation und Mobilisierung konkurrierender Identitäten (Säkularisierte und Muslime, Alewiten und Kurden) durchkreuzten hier allerdings jedes Projekt einer Institutionalisierung von oben. Gemäß seinem überkommenen Modell eigenständiger Trägerschaften förderte Holland, jedenfalls noch bis vor kurzem, die Einrichtung einer zwar staatlich regulierten, aber selbstorganisierten muslimischen Gemeinschaft. Seit neuestem allerdings kommen sogar diesem ebenso toleranten wie liberalen Land Bedenken, und es scheint geneigt, die staatlich tolerierten »uneuropäischen«, »nichtmodernen« Normen und Bräuche stärkeren gesetzlichen Einschränkungen zu unterwerfen.

Betrachtet man die Immigration in die bzw. in der Europäischen Union als ganze, so lassen sich zwei grundlegende Unterschiede zur Situation in den USA feststellen. Zunächst muss man sagen, dass Einwanderung und Islam in Europa im großen und ganzen gleichbedeutend sind. So handelt es sich in den meisten europäischen Ländern – mit der Ausnahme Großbritanniens – bei der überwiegenden Mehrheit der Zuwanderer um Muslime und bei der überwiegenden Mehrheit der Muslime in den Ländern Westeuropas um Zuwanderer. Diese Äquivalenz wirkt dort sogar noch ausgeprägter, wo die muslimischen Zuwanderer vorwiegend aus einer bestimmten Region stammen, wie z.B. die Türkei in Bezug auf Deutschland oder der Maghreb in Bezug auf Frankreich. Das hat dann eine Überlagerung verschiedener Dimensionen des Andersseins, der Fremdartigkeit zu Folge, wodurch sich die Probleme der Abgrenzung, der Anpassung und der Integration noch verschärfen: Das jeweils Fremdartige des Zugewandertseins, des religiösen Glaubens, der ethnischen Zugehörigkeit und der sozio-ökonomischen Unterprivilegiertheit – all dies konvergiert in einem Punkt.

Im Gegensatz dazu stellen in den USA die Muslime höchstens 10 Prozent aller neu Zugewanderten – ein Prozentsatz, der sich aufgrund der strengen Einwanderungsbeschränkungen, die nach dem 11. September von dem zunehmend repressiven amerikanischen Sicherheitsapparat gegen die Einwanderung von Arabern und Muslimen verhängt wurden, in Zukunft nach verringern dürfte. Da in den USA das Statistische Bundesamt, die Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde sowie andere regierungsamtliche Stellen keine die Religionszugehörigkeit betreffenden Daten erheben dürfen, existieren keine zuverlässigen Schätzungen über die Anzahl von Muslimen in den USA. Die vorhandenen Schätzungen differieren stark und reichen von 2,8 bis 8 Millionen. Außerdem wird angenommen, dass es sich bei 30 bis 42 Prozent aller Muslime in den USA um Afroamerikaner handelt, die zum Islam konvertiert sind. Das macht es natürlich schwierig, den Islam als fremde, »unamerikanische« Religion zu betrachten. Hinzu kommt noch, dass sich die Gemeinschaften muslimischer Zuwanderer massiv voneinander unterscheiden, was ihre geographische Herkunft, ihre religiösen Traditionen und ihre sozioökonomischen Merkmale betrifft. Das hat zur Folge, dass die Formen der Interaktion zwischen den verschiedenen muslimischen Zuwanderergruppen, den nichtmuslimischen Einwanderern aus derselben Region, den afroamerikanischen Muslimen bzw. der eingesessenen Bevölkerung viel komplexer und vielfältiger sind als in Europa.

Der zweite Hauptunterschied betrifft die Rolle der Religion und der religiösen Gruppen im öffentlichen Leben und in der Zivilgesellschaft. Ungeachtet aller Unterschiede sind die europäischen Gesellschaften zutiefst geprägt vom Säkularismus als herrschendem Prinzip. Als liberaldemokratische Gesellschaften tolerieren und achten sie die Religionsfreiheit des Einzelnen. Aber infolge des erfolgreichen Drucks, die Religion in die Privatsphäre zu verbannen, der in Europa zu einer vom Bild der modernen, säkularen Gesellschaft nicht mehr zu trennenden Selbstverständlichkeit geworden ist, fällt es hier viel schwerer, der Religion im öffentlichen Leben und in der Organisierung und Mobilisierung kollektiver Gruppenidentitäten eine legitime Rolle zuzuerkennen. Das Kollektivbewusstsein der muslimischen Gruppen und seine öffentlichen Ausdrucksformen erzeugen in der säkularen Gesellschaft tiefe Ängste, nicht nur, weil es sich um Andersgläubige, um eine nichtchristliche und nichteuropäische Religion, handelt, sondern auch und wichtiger noch, weil der europäische Säkularismus in der kollektiven Gläubigkeit als solcher sein »Anderes« gewahrt. Vor diesem Hintergrund verstärkt sich die Versuchung, Islam und Fundamentalismus gleichzusetzen. Der Islam tritt automatisch in Gegensatz zur säkularen Moderne des Westens. Die mit der Integration muslimischer Zuwanderer verknüpften Schwierigkeiten werden so bewusst oder unbewusst mit dem Problem der Rolle der Religion im öffentlichen Raum in Verbindung gebracht – einem Problem, von dem die europäischen Gesellschaften meinten, sie hätten es mit der liberal-säkularistischen Devise von der Religion als Privatangelegenheit bereits gelöst.

Die Amerikaner sind dagegen bekanntlich religiöser als die Europäer, weshalb es für Zuwanderer dort einen gewissen Anpassungsdruck hinsichtlich der herrschenden religiösen Normen gibt. Allgemein lässt sich sagen, dass Einwanderer in Amerika tendenziell religiöser sind, als sie es in ihren Heimatländern waren. Noch auffälliger aber ist, dass heute wie auch schon früher die Religion und die öffentliche konfessionelle Zugehörigkeit beim Prozess der Eingliederung der neu Zugewanderten eine wichtige Rolle spielen. Auch für den heutigen Immigranten gilt noch die These, die Will Herberg im Blick auf den früheren Einwanderer aus Europa aufgestellt hat: »Nicht nur wurde von ihm erwartet, dass er seine alte Religion beibehielt, während er seine alte Sprache bzw. Nationalität ablegen sollte, sondern die Verhältnisse in Amerika waren auch so beschaffen, dass er oder vielmehr seine Kinder und Enkel hauptsächlich in der Religion und mittels ihrer einen definierten Platz im amerikanischen Leben fanden.« Aus dieser These folgt, dass kollektive religiöse Identitäten zu den Hauptgrundlagen für die Herausbildung des gesellschaftlichen Pluralismus in der amerikanischen Geschichte zählten.

Als Korrektiv bleibt anzufügen, dass nicht, wie aus Herbergs Untersuchung hervorzugehen scheint, allein die Religion und auch nicht, wie zeitgenössische Studien zur Einwanderung gerne suggerieren, allein die Rasse, sondern beide zusammen in komplexer Verschränkung die amerikanische Erfahrung der Integration bestimmen und in der Tat die Schlüsselfaktoren beim »amerikanischen Sonderweg« darstellen. Einmal mehr erleben wir heute verschiedene Weisen des Widerstreits und Zusammenwirkens zwischen religiös bestimmter und rassebezogener Identitätsstiftung, wobei diese Prozesse beträchtliche Auswirkungen auf die gegenwärtige und zukünftige Struktur des amerikanischen Multikulturalismus haben dürften. Religion und Rasse werden erneut zu Merkmalen, anhand deren sich die neuen Zuwanderer als assimilierbar oder als verdächtige »Fremde« identifizieren lassen.

Aufgrund der in der amerikanischen Gesellschaft so durchgängigen und alles durchdringenden Logik rassischer Diskriminierung gewinnt im Prozess der Integration von Einwanderern die Dynamik religiöser Identitätsstiftung eine zweifach positive Bedeutung. Unter dem Eindruck der gesellschaftlich verankerten Anerkennung des religiösen Pluralismus wird die religiöse Identität von den neuen Zuwanderern hochgradig besetzt. Diese positive Besetzung wird bei den meisten Immigrantengruppen zudem durch einen Mechanismus verstärkt, der sich als Abwehrreaktion gegen die Zuschreibung einer rassischen Identität, insbesondere gegen das Stigma der Schwarzhäutigkeit, betrachten lässt. In dieser Hinsicht stellen das religiös und das rassisch bestimmte Selbstverständnis alternative Organisationsmodelle für den amerikanischen Multikulturalismus dar. Zu den offenkundigen Vorzügen des religiösen Pluralismus gegenüber dem rassischen zählt, dass er sich im Rahmen verfassungsmäßiger gesellschaftlicher Institutionen besser mit dem Gleichheitsprinzip und einer nichthierarchischen Vielfalt, kurz, mit echtem Multikulturalismus, verträgt.

Die amerikanische Gesellschaft ist im Begriff, in eine neue Epoche einzutreten. Das traditionelle Assimilationsmodell, das Angehörige europäischer Nationen in »ethnische Gruppen« verwandelte, hat heute, in einer Zeit der buchstäblich weltweiten Immigration, seine Gültigkeit verloren. Amerika verspricht, »die erste neue globale Gesellschaft« zu werden, in der alle Religionen und Kulturen der Welt versammelt sind – und das zu einem Zeitpunkt, wo religiös-kulturelle Identitäten auf der Weltbühne erneut eine wichtige Rolle spielen. Im selben Augenblick, da Politikwissenschaftler wie Samuel Huntington einen Zusammenprall der Kulturen im weltweiten Maßstab prophezeien, findet in den USA selbst ein neues Experiment der interkulturellen Begegnungen und der Verständigung zwischen allen Weltreligionen statt. Der religiöse Pluralismus Amerikas expandiert und integriert sämtliche Religionen so, wie er früher die Religionen der alten Einwanderer integriert hat. Ein komplexer Prozess wechselseitiger Anpassung vollzieht sich. Wie zuvor der Katholizismus und die jüdische Religion werden jetzt auch andere Weltreligionen wie der Islam, der Hinduismus und der Buddhismus »amerikanisiert«. Es handelt sich dabei um einen doppelten Prozess: Die jeweilige Religion erfährt in Amerika einen Wandel, wobei die dortige Diasporagemeinde gleichzeitig als Katalysator für die Transformation ihrer Religion zu Hause fungiert – genau so, wie sich der amerikanische Katholizismus im Sinne einer Transformation des weltweiten Katholizismus auswirkte und das amerikanische Judentum auf das Weltjudentum verändernd eingewirkt hat.

Dieser Prozess eines expandierenden religiösen Pluralismus wird durch die doppelte Bestimmung im Ersten Zusatz zur amerikanischen Verfassung erleichtert, der zufolge einerseits garantiert wird, dass keine Staatsreligion eingeführt wird und folglich eine strikte Trennung von Kirche und Staat statthat, mithin eine echte Neutralität des säkularen Staates, und andererseits die »freie Religionsausübung« in der Zivilgesellschaft gewährleistet wird, was zugleich bedeutet, dass staatliche Eingriffe in das religiöse Leben und dessen bürokratische Regulierung engsten Beschränkungen unterliegen. Diese Kombination aus nachdrücklich säkularem Staat und verfassungsmäßig geschützter freier Religionsausübung in der Gesellschaft ist es, was den institutionellen Rahmen der Religion in Amerika von dem in Europa unterscheidet. In Europa findet man als ein Extrem den Fall Frankreich, wo ein säkularistischer Staat die Religionsausübung in der Gesellschaft nicht nur einschränkt und reguliert, sondern mehr noch der Gesellschaft ihre republikanische Ideologie der laïcité aufzwingt, und als anderes Extrem England, wo sich eine etablierte Staatskirche mit einer weitgehenden Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten und einer relativ unkontrollierten freien Religionsausübung in der Gesellschaft verträgt.

Als liberale demokratische Systeme respektieren alle europäischen Gesellschaften die private Religionsausübung, auch die des Islam, als individuelles Menschenrecht. Schwierigkeiten haben die meisten europäischen Gesellschaften mit der öffentlichen und kollektiven Ausübung der Einwandererreligion Islam, und zwar aus dem einfachen Grund, weil der Islam als »uneuropäische« Religion wahrgenommen wird. Die vorgebrachten Begründungen für diese Sicht variieren je nach Land und sozialer bzw. politischer Gruppenzugehörigkeit beträchtlich. Für die immigrations- und fremdenfeindliche nationalistische Rechte, wie sie sich im Diskurs von Le Pen in Frankreich und von Jörg Haider in Österreich artikuliert, ist die Sache einfach: Der Islam ist schlicht deshalb unwillkommen und nicht assimilierbar, weil es sich bei ihm um eine Religion von »Ausländern« handelt. Solch ein – gewöhnlich rassistischer – Heimatkult lässt sich klar von der konservativen »katholischen« Position unterscheiden, wie sie paradigmatisch der Kardinal von Bologna formulierte, als er erklärte, Italien solle Zuwanderer aus allen Völkern und Regionen der Welt aufnehmen, aber um der Wahrung der katholischen Identität des Landes willen katholischen Einwanderern ein Vorrecht einräumen.

Liberale säkularisierte Europäer blicken mit Unbehagen auf solch unverhohlene Bekundungen rassistische Bigotterie und religiöser Intoleranz. Wenn es um den Islam geht, werden freilich auch bei ihnen die Grenzen und inneren Widersprüche der modernen säkularistischen Toleranz sichtbar. Offen fremdenfeindliche oder antireligiöse Äußerungen wird man aus dem Munde liberaler Politiker und säkularisierter Intellektueller selten zu hören bekommen. Die politisch korrekte Fassung der Ablehnung folgt eher der Devise: »Wir nehmen Immigranten ohne Ansehung ihrer Rasse oder religiösen Zugehörigkeit auf, vorausgesetzt, sie sind bereit, unsere modernen, liberalen, säkularen, europäischen Normen zu achten und zu akzeptieren.« Was an Normen faktisch geltend gemacht wird, mag dabei von Land zu Land variieren. Der Streit um das muslimische Kopftuch, der in so vielen europäischen Gesellschaften entbrannt ist, und die Unterstützung, die das kürzlich beschlossene gesetzliche Verbot, das Kopftuch und andere demonstrativ religiöse Symbole in staatlichen Schulen zu tragen, beim größten Teil der Bevölkerung und angeblich sogar bei einer Mehrheit der französischen Muslime gefunden hat, weil anders »der nationale Zusammenhalt bedroht« sei, mag einen Extremfall von illiberalem Säkularismus darstellen. Tatsächlich aber beobachtet man ähnliche Tendenzen zu einer repressiven Gesetzgebung gegenüber muslimischen Zuwanderern auch im liberalen Holland, und zwar eben unter Berufung darauf, dass das Land seine von Liberalität und Toleranz geprägten Traditionen gegen die Gefahr illiberaler, fundamentalistischer, patriarchalischer Bräuche schützen müsse, die von den muslimischen Einwanderern weiterhin praktiziert und an die jüngere Generation weitergegeben würden.

Bezeichnenderweise sprach Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin in seiner Rede vor dem französischen Parlament, in der er das Verbot verteidigte, ostentativ religiöse Symbole an staatlichen Schulen zu tragen, im gleichen Atemzug auch von »dem alten christlichen Land« Frankreich und von dem unantastbaren Prinzip der laïcité, um dann den Islam zu ermahnen, er solle sich dem säkularistischen Prinzip in gleicher Weise anpassen, wie das zuvor alle anderen Religionen in Frankreich getan hätten. »Für die zuletzt Hinzugekommenen, ich meine hier den Islam, ist der Säkularismus eine Chance, die Chance, eine Religion Frankreichs zu sein.« Der islamische Schleier und andere religiöse Kennzeichen würden mit Recht aus den staatlichen Schulen verbannt, fügte er hinzu, weil »sie eine politische Bedeutung annehmen«, wohingegen nach dem säkularistischen Prinzip der Religion als Privatsache »die Religion kein politisches Projekt« sein könne. Es wird sich erst zeigen, ob die restriktive Gesetzgebung ihren Zweck erfüllt und die Ausbreitung des »radikalen Islam« einzudämmen vermag oder ob sie den entgegengesetzten Effekt erzielt und eine bereits entfremdete und unangepasste Immigrantengemeinschaft weiter radikalisiert.

Die positive Begründung, die man von liberalen Befürwortern solch illiberaler Einschränkungen der freien Religionsausübung zu hören bekommt, besteht gewöhnlich im Hinweis darauf, dass es wünschenswert sei, den jungen Mädchen die Emanzipation von geschlechtlicher Diskriminierung und patriarchaler Unterdrückung zu ermöglichen, wenn nötig auch gegen ihren erklärten Willen. Das war die Argumentation, die dem ermordeten liberalen Politiker Pim Fortuyn im liberalen Holland die Schaffung seiner so erfolgreichen immigrantenfeindlichen Plattform ermöglichte – eine Kampagne, die jetzt in Gestalt neuer restriktiver Gesetze Früchte trägt. Während von konservativ Religiösen erwartet wird, dass sie ein in ihren Augen moralisch verwerfliches Verhalten wie die Homosexualität tolerieren, erklären liberale, säkularisierte Europäer offen, keine religiösen Verhaltensweisen oder kulturellen Bräuche tolerieren zu wollen, die ihnen ein moralischer Greuel sind, weil sie den modernen europäischen Normen widersprechen. Was der säkularen liberalen Mehrheit diese intolerante Tyrannei grundsätzlich gerechtfertigt erscheinen lässt, ist nicht einfach das demokratische Mehrheitsprinzip, vielmehr die den Modernisierungstheorien eingepflanzte säkularistisch-teleologische Überzeugung, dass das eine Normensystem reaktionär, fundamentalistisch und antimodern, das andere hingegen progressiv, liberal und modern sei.

Soll die neue europäische Verfassung sich auf Gott bzw. das christliche Erbe berufen
oder braucht Europa eine neue säkulare »zivile Religion« auf der Grundlage der Prinzipien der Aufklärung?

Eigentlich brauchen moderne Staatsverfassungen keine Rückgriffe auf die Transzendenz, und es gibt auch wenig empirische Belege für das funktionalistische Argument, die normative Integration moderner, differenzierter Gesellschaften erfordere so etwas wie eine »zivile Religion«. Den Streitigkeiten, zu denen es im Zusammenhang mit der Formulierung der Präambel zur neuen europäischen Verfassung gekommen ist, ließe sich auf dreierlei Weise begegnen. Die erste Möglichkeit wäre, jedem Streit dadurch aus dem Weg zu gehen, dass man auf das Vorhaben einer Präambel, in der die Europäische Union ihr Selbstverständnis artikuliert und der Welt ihre politische Grundlage und Identität erläutert, überhaupt verzichtet. Das wäre allerdings ein Armutszeugnis, weil ja der Hauptzweck, der mit dem Entwurf einer europäischen Verfassung verfolgt wird, offenbar gar nicht im rechtlichen Bereich zu suchen ist, sondern in der Absicht besteht, einen Beitrag zur sozialen Integration Europas zu leisten, das Bewusstsein einer gemeinsamen europäischen Identität zu fördern und Abhilfe für den Mangel an demokratischer Legitimation zu schaffen.

Eine weitere Möglichkeit wäre, die grundlegenden Werte, die den »übergreifenden Konsens« der europäischen Gesellschaften ausmachen, entweder als evidente Wahrheiten oder als soziale Fakten aufzuzählen, ohne sich auf den problematischeren Versuch einzulassen, diese Werte normativ zu begründen oder genealogisch herzuleiten. Diesen Weg wählten die Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, als sie verkündeten: »We Hold These Truths As Self-Evident«. Die starke rhetorische Wirkung dieses denkwürdigen Satzes gründete freilich im fraglosen Glauben an einen Schöpfergott, der die Menschen mit unverlierbaren Rechten ausgestattet hatte – ein Glaube, in dem republikanische Deisten, staatskirchliche Protestanten und radikal-pietistische Gemeinschaften übereinkamen. In unserer nachchristlichen und postmodernen Gesellschaft ist es nicht mehr so einfach, Wahrheiten zu beschwören, die keiner argumentativen Beweisführung bedürfen. Die Feierliche Proklamation der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aus dem Jahr 2000 versucht mit ihrem ersten Paragraphen eine ähnliche Wirkung zu erzielen: »Im Bewusstsein ihres geistigen und moralischen Erbes gründet die Union in den unteilbaren, universalen Werten menschlicher Würde, Freiheit, Gleichheit und Solidarität.« Die Proklamation dieser Werte als einer grundlegenden sozialen Tatsache, einer von der Mehrzahl der Europäer akzeptierten und geteilten Normenstruktur, dürfte allerdings kaum den gewünschten Effekt haben, eine europäische politische Identität zu stiften. Sie wiederholt schlicht und einfach die Erklärungen, die sich in den meisten nationalstaatlichen Verfassungen Europas, in der europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 und vor allem in der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948 finden. Ohne sich explizit auf die dornige Frage des »geistigen und moralischen Erbes« Europas und dessen umstrittene Rolle bei der Entstehung jener angeblich »universalen Werte« einzulassen, wird solch eine Proklamation schwerlich jene Werte als einzigartig und spezifisch europäisch kennzeichnen können.

Die letzte und am ehesten von Verantwortungsbewusstsein zeugende Möglichkeit wäre, sich der schwierigen und kontroversen Aufgabe zu stellen, in offener und öffentlicher Debatte die politische Identität der neuen Europäischen Union zu bestimmen: Wer sind wir? Wo kommen wir her? Worin besteht unser geistiges und moralisches Erbe und wo liegen die Grenzen unserer kollektiven Identität? Wie flexibel im Inneren und wie offen nach außen sollten diese Grenzen sein? Dies zu klären, wäre eine ungemein komplexe Aufgabe, in deren Verfolgung die vielen problematischen und widersprüchlichen Aspekte des europäischen Erbes in seinen nationalen, europäischen und global-kolonialen Dimensionen thematisiert und aufgearbeitet werden müssten. Diese an sich schon schwierige Aufgabe würde allerdings durch säkularistische Voreingenommenheiten zusätzlich erschwert, die nicht nur einer gleichermaßen kritischen wie ehrlichen und reflexionsbereiten Würdigung der jüdisch-christlichen Tradition im Wege stehen, sondern auch jede öffentliche bzw. offizielle Bezugnahme auf diese Tradition verhindern, mit dem Argument, der Rückgriff auf die Religion könne Uneinigkeit schaffen und sich kontraproduktiv auswirken, oder einfach mit dem Hinweis darauf, dass er gegen das Postulat des Säkularismus verstoße.

Ich plädiere hier nicht dafür, in die neue europäische Verfassung einen Hinweis auf das christliche Erbe bzw. auf eine Transzendenz aufzunehmen, sondern möchte bloß deutlich machen, dass der Streit um die Aufnahme eines religiösen Bezugs in den Verfassungstext Ausdruck der Tatsache ist, dass der herrschende säkularistische Dogmatismus die Religion erst zum Problem werden lässt und so die Möglichkeit vereitelt, mit religiösen Fragen auf pragmatische, vernünftige Weise umzugehen.

Erstens stimme ich voll und ganz mit Bronislaw Geremeks Ansicht überein, dass jede genealogische Rekonstruktion der Idee oder des Selbstbildes der europäischen Gesellschaft, die sich zwar auf die griechisch-römische Antike und die Aufklärung bezieht, hingegen die Erinnerung an die Rolle des christlichen Mittelalters bei der Herausbildung der europäischen Zivilisation auslöscht, entweder von historischer Ignoranz oder von Verdrängung zeugt. Zweitens bedeutet die Unfähigkeit, das Christentum als einen der konstitutiven Bestandteile der kulturellen und politischen Identität Europas wahrzunehmen, dass vielleicht eine große historische Chance vertan wird, der bereits erreichten Versöhnung zwischen Protestanten und Katholiken und zwischen den einander bekriegenden europäischen Nationalstaaten noch eine dritte Versöhnungstat folgen zu lassen und die alten Streitigkeiten zwischen Aufklärung, Religion und Säkularismus beizulegen. Dass sich die säkularisierte Gesellschaft in ihrer Identität bedroht fühlt und dem Christentum jede öffentliche Anerkennung verweigert, straft ihren selbstgefälligen Anspruch Lügen, nur säkularistische Neutralität könne die Freiheiten des Individuums und den kulturellen Pluralismus gewährleisten. Das erzwungene Totschweigen zeugt nicht nur von dem Versuch, das Christentum wie auch jede andere Religion aus dem kollektiven Bewusstsein der Öffentlichkeit zu tilgen, sondern damit auch und zugleich von dem Bemühen, eine zentrale Komponente der persönlichen Identität vieler Europäer aus der Sphäre der Öffentlichkeit zu verbannen. Um Gleichberechtigung im Zugang zum öffentlichen Raum Europas und eine unverzerrte Kommunikation zu gewährleisten, müsste die Europäische Union nicht nur nachchristlich, sondern auch nachsäkular werden.

Räumt man bei der genealogischen Begründung der gemeinsamen europäischen Werte menschlicher Würde, Gleichheit, Freiheit und Solidarität den Formen säkularer Identität und säkularistischen Selbstverständnisses den Vorrang ein, dann kann das am Ende auch dazu führen, dass man sich nicht nur den Weg zu einem vollen Verständnis der Genese dieser Werte samt ihrer sozialen Institutionalisierung und individuellen Internalisierung verstellt, sondern sich auch der Möglichkeit beraubt, eben diese Formen säkularer Identität kritisch zu würdigen und reflexiv zu durchdringen. David Martin und Danièle Hervieu-Léger haben klar gezeigt, wie unauflöslich in der gesamten neuzeitlichen Geschichte Europas das Religiöse und das Säkulare miteinander verschränkt sind, wie untrennbar die verschiedenen Erscheinungsformen der europäischen Aufklärung mit unterschiedlichen Erscheinungsformen des christlichen Glaubens zusammenhängen und wie sehr kulturelle Schemata, die in bestimmten religiösen Traditionen und den entsprechenden institutionellen Strukturen wurzeln, bis heute die verschiedensten säkularen Verhaltensweisen prägen. Die bewusste, reflektierte Anerkennung dieser christlichen Prägung bedeutet nicht, dass man die Ansprüche des Papstes oder irgend einer anderen kirchlichen Obrigkeit als alleinige Wächter oder bevollmächtigte Verwalter des christlich-europäischen Erbes akzeptieren muss. Es bedeutet nur die Anerkennung der Tatsache, dass jeder Europäer, ob in Europa heimisch oder dorthin zugewandert, das Recht hat, an der fortlaufenden Aufgabe der Bestimmung, Erneuerung und Tradierung dieses Erbes mitzuwirken. Je stärker ein säkularistisches Selbstverständnis dieses religiöse Erbe aus dem kollektiven Bewusstsein zu tilgen versucht, um so stärker kehrt es, wie der Fall des laizistischen Etatismus Frankreichs in ironischer Zuspitzung deutlich macht, unbewusst und zwanghaft in den säkularen Formen des öffentlichen Lebens wieder.

Die vier in diesem Beitrag erörterten Probleme, die Integration des katholischen Polen in das nachchristliche Europa, die Integration der Türkei in die Europäische Union, die Eingliederung nichteuropäischer Einwanderer in ihre europäischen Gastländer bzw. in die Europäische Union sowie die Ausarbeitung einer neuen europäischen Verfassung, die ein Ausdruck der von den Menschen in Europa geteilten Werte wäre und die ihnen gleichzeitig erlaubte, sich als europäischer Demos neu zu konstituieren – diese vier Probleme sind an sich schon schwierig genug. Eine unreflektierte säkulare Identität, ein dogmatisches säkularistisches Selbstverständnis kompliziert die genannten Probleme nur noch weiter, indem sie unlösbare Religionsfragen aus ihnen machen.

Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz


Dieser Artikel ist im Zusammenhang einer unabhängigen Reflexionsgruppe entstanden, die vom Präsidenten der Europäischen Kommission, Romano Prodi, initiiert wurde und im Rahmen eines Forschungsschwerpunkts des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, Wien, die langfristigen geistigen und kulturellen Perspektiven des erweiterten Europa untersucht.


Anmerkung

Vgl. David Martin, A General Theory of Secularization, London 1978, und Andrew Greeley, Religion in Modern Europe at the End of the Second Millennium, London 2003.

Grace Davie, Religion in Britain Since 1945: Believing without Belonging, Oxford 1994, und Religion in Modern Europe: A Memory Mutates, Oxford 2000.

Danièle Hervieu-Léger, »Religion und sozialer Zusammenhalt in Europa«, in: Transit 26 (2003).

José Casanova, »Das katholische Polen im säkularisierten Europa«, in: Transit 25 (2003).

Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996; dt. Der Kampf der Kulturen, München/Wien 1996, S. 139.

Karen Isaksen Leonard, Muslims in the United States. The State of Research, New York 2003.

José Casanova, »Beyond European and American Exceptionalism: Towards a Global Perspective«, in: G. Davie, P. Heelas und L. Woodhead (Hg.), Predicting Religion, Aldershot 2003.

Will Herberg, Protestant-Catholic-Jew, Chicago 1953, S. 27 f.

Tatsächlich zählt zu den fragwürdigsten Aspekten der These Huntingtons seine nativistische, immigrationsfeindliche und gegen den Multikulturalismus gerichtete Argumentation, die darauf zeilt, die angebliche westliche kulturelle Reinheit der USA vor der Bastardisierung zu bewahren.

Elaine Sciolino, »Debate Begins in France on Religion in the Schools«, The New York Times vom 5. März 2004.

Dieter Grimm hat diesen Punkt überzeugend herausgearbeitet in seiner programmatischen Rede über »Integration by Constitution – Juridical and Symbolic Perspectives of the European Constitution«, gehalten am 5. März 2004 auf einer von der New School University zum Thema »Toward the Union of Europe – Cultural and Legal Ramifications« veranstalteten Tagung.

Bronislaw Geremek, »Welche Werte für das neue Europa?«, in: Transit 26 (2003).

Ungeachtet seiner postsäkularen Offenheit gegenüber dem religiösen »Anderen« sowie seines Appells an die Vertreter des Säkularismus, sich »einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen (zu bewahren)«, geht auch Jürgen Habermas in Glauben und Wissen (Frankfurt a. M. 2001, S. 21-29) immer noch davon aus, dass es religiös Gebundene in der säkularen Sphäre der Öffentlichkeit naturgemäß schwerer haben als die anderen. »Bisher mutet ja der liberale Staat nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche und private Anteile aufzuspalten. Sie sind es, die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden.« Nur auf Basis einer teleologischen Geschichtsphilosophie kann Habermas geltend machen, die postsäkulare Gesellschaft setze »die Arbeit, die die Religion am Mythos vollbracht hat, an der Religion selbst fort« und diese Arbeit der »Übersetzung« oder rationalen Begründung des Heiligen sei gleichbedeutend mit einer »Säkularisierung, die nicht vernichtet«, oder Aufklärung.

Vgl. Danièle Hervieu-Léger, »Religion und sozialer Zusammenhalt in Europa«, sowie David Martin, »Integration und Fragmentierung. Religionsmuster in Europa«, beide in: Transit 26 (2003).


José Casanova lehrt Soziologie an der New School University, New York.

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Transit – Europäische Revue, Nr. 27/2004