Es gibt verschiedene Weisen, über Europa nachzudenken. Politische Diskussionen gehen meist davon aus, daß die erstrangige Aufgabe Europas Integration ist, und versuchen den Weg zu finden, auf dem die damit verbundenen wirtschaftlichen und administrativen Schwierigkeiten zu überwinden wären. Philosophisch-geschichtliche Überlegungen suchen nach der Eigentümlichkeit der geistigen Grundlagen Europas und sind bestrebt, die europäische geistige Tradition als möglichen Ausgangspunkt für eine Lösung der globalen Probleme heranzuziehen – früher ganz offen, in Gestalt universaler wissenschaftlicher Rationalität, heute eher indirekt, als Offenheit dem “anderen” gegenüber.
Erinnern wir uns, wie über Europa ein Denker dachte, der die Konflikte, die auf die heutige Stufe der europäischen Vereinigung führen sollten, am Horizont auftauchen sah. Im Jahr 1887 schreibt Friedrich Nietzsche:
“Wir sind keine Humanitarier; wir würden uns nie zu erlauben wagen, von unsrer ‘Liebe zur Menschheit’ zu reden – dazu ist Unsereins nicht Schauspieler genug! […] Nein, wir lieben die Menschheit nicht; andererseits sind wir aber auch lange nicht ‘deutsch’ genug […], um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden. […] Wir sind, mit einem Worte – gute Europäer […]” (FW, ?§ 377).
Was heißt es für Nietzsche, ein “guter Europäer zu sein”? In erster Linie bedeutet es, wie wir hören, das Gegenteil von Nationalismus und Rassismus. Nietzsche sieht – übrigens gerade zu einer Zeit des gesteigerten Nationalismus und wachsenden Antisemitismus -, daß Europa in Wirklichkeit zum Schauplatz einer immer schnelleren Vermischung von Nationen, Ständen und Rassen wird, daß eine übernationale, “nomadische” und anpassungsfähige Menschenart entsteht, zu deren unentbehrlichen Elementen auch das Judentum gehört. Dieses Sich-durchdringen und Vereinheitlichen, diese “atomische Revolution” birgt ein großes Potential in sich, ihr Ergebnis ist aber nach Nietzsche höchst ungewiß.
Die in dieser Tendenz liegende Gefahr hängt mit dem zusammen, was am Anfang des Nietzsche-Zitats steht und was wir geneigt sind – falls es uns nicht sogleich empört –, tolerant zu überhören. Die Schwächung der bestehenden Staaten, die Gleichheit von allen, auf allgemein menschlichen Idealen gegründet und mit dem Anspruch eines jeden auf sein privates Wohl argumentierend, die allumfassende “Liebe zur Menschheit”, dies alles ist nach Nietzsche zugleich ein Ausdruck für die wachsende Unfähigkeit zu handeln, für die drohende Lähmung des politischen Willens. Die Vereinigung Europas, für die laut Nietzsche alle großen Geister des 19. Jahrhunderts arbeiteten, wird nur dann nicht in einen Verfall münden, wenn sie zur Entstehung eines einheitlichen Willens führt, auf dessen Grund das umfassendere Gebilde auch zu handeln vermag.
Nietzsches Gedanken über die “Herrschaft” oder “Weltregierung”, die das “sublime Sklaventum” der modernen egalitären Verbrauchsgesellschaft als Mittel zu nutzen wüßte, seine Forderungen nach neuen Tugenden, die im Vermögen, zu handeln und zu entscheiden, gründen – dies alles muß vor dem Hintergrund einer Lage gesehen werden, in der der Prozeß der Vereinigung nicht imstande ist, sich selbst anders als aufgrund “allgemein menschlicher” Ideale zu verstehen, in der man vergißt, daß das Kriterium für politische Einheit eben der Wille ist, durch klare Entscheidung und Tat eine Trennungslinie durch die gegebene Situation zu ziehen.
Europa bezeichnet also für Nietzsche eine konkrete Aufgabe: die Aufhebung der Grenzen zwischen den Nationen, Ständen sowie Einzelnen ist zu akzeptieren und zu beschleunigen, aber nur unter der Bedingung, daß dieser Prozeß neue Möglichkeiten des politischen Seins nicht nur eröffnen, sondern auch verwirklichen wird. Solches Sein ist als politisches durch die beiden schon erwähnten Extreme eingegrenzt, durch die es in Nietzsches Augen aufhört, politisch zu sein: das eine ist die allumfassende, “moralische” Vereinigung, das zweite die Verschlossenheit in nationalen, rassenbedingten oder auf andere Weise nicht-politisch bestimmten Grenzen.
Das politische Sein ist situiert, auf einseitiges Entscheiden angewiesen, weil das Subjekt dieses Seins bemüht sein muß, verschiedenen, meist sich widersprechenden Ansprüchen zu genügen: zu den wichtigsten gehört die Forderung, ein höheres Ganzes zu konstituieren und an seiner Macht teilzuhaben, sowie die Forderung, seine eigene Autonomie und Eigenständigkeit zu erhalten. Die politische Integration auf allen Ebenen, von den einzelnen Bürgern an, ist eine Integration der Pluralität von Einheiten, die autonom zu sein vermögen – eben deshalb hat es Sinn, sie zu integrieren. Im Rahmen der schon etablierten Staatsgebilde ist diese widerspruchsvolle Lage formalisiert, ihre Dynamik fast nicht mehr bemerkbar, und trotzdem lebt die Gemeinschaft nur dank ihr.
Solche Lebensfähigkeit ist durch keine technischen Maßnahmen zu bewerkstelligen, es gibt für sie keine “ideale” Verfassung, sie bleibt von der Fähigkeit des politischen, d. h. in gegebener Situation einseitig ausgerichteten Handelns abhängig, und diese Handlungsfähigkeit – im Namen des höheren Ganzen wie auch gegen es – bleibt das einzige “Kriterium” für eine politische Existenz. In diesem Sinn war z. B. die Teilung der Tschechoslowakei in dem Augenblick, wo diese nicht mehr als ein Ganzes zu handeln willens war, paradoxerweise ein Beitrag zur politischen Existenz Europas und indirekt auch zu dessen Integration.
Der unklare Status der europäischen Integration und ihr vorwiegend technokratisches Gepräge hängen zweifelsfrei damit zusammen, daß sich Europa – im ganzen gesehen sicher zum Glück – zuerst in bezug auf die Vereinigten Staaten und dann erst in sich selbst integriert hat. Dadurch wurde die Integrationsaufgabe einerseits bedeutend erleichtert, andererseits aber undeutlich gemacht, da ein großer Teil der Entscheidungen, die im eigentlichen Sinn integrierend oder desintegrierend wirken, auf Amerika übertragen wird. Europa integriert sich also gewissermaßen auf einem “Umweg”, und aus diesem Grund ist es recht diffizil zu beurteilen, inwiefern Europa tatsächlich integriert ist.
Für Nietzsche verkörpert Europa das Problem einer politischen Existenz, die weder durch einen Nationalismus oder anderen Partikularismus verblendet ist noch in die Universalität eines allumfassenden “Humanismus” sich flüchtet. Nietzsche wittert das Aufkommen von großen Krisen und Katastrophen und weiß, daß sie sich meist nicht ohne weiteres verhindern lassen (sie sind nicht selten gerade das Ergebnis unserer “vorbeugenden” Maßnahmen), daß man in ihnen aber im unterschiedlichen Maß bestehen oder – nicht bestehen kann. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu sehen, daß auch auf uns Katastrophen zukommen, die wir uns heute nicht vorzustellen vermögen, sei es in geopolitischer oder ökologischer Hinsicht. Es gelingt uns nicht, sie vorauszusehen (sie werden nie eine bloße Verlängerung von gesehenen und erwarteten Tendenzen sein), aber wir können uns auf sie vorbereiten: durch das Lösen der Probleme, die wir haben – und zwar nicht nur auf der staatlichen und politischen Ebene. Es ist nämlich außerordentlich schwierig, deutlich und richtig zu erkennen, welche Probleme wir haben, und in gewissem Sinn geht dies nicht anders als eben durch ein Handeln, das in unserer eigenen Situation eine neue, umwertende Perspektive eröffnet.
Ein eindrucksvolles Beispiel für das Gegenteil – wenn man von der Politik spricht – ist das Veranstalten von Weltforen über “die Probleme, die wir nicht haben”, wo es in der Natur der Sache liegt, daß kaum viel mehr als nur Floskeln über Moral und Verantwortung zu hören sind. Die vagen Reden über Verantwortung sind ein Symptom für deren Fehlen, wenn wir unter Verantwortung die Fähigkeit verstehen, auf die Situation, in der wir uns befinden, zu antworten. Selbstverständlich haben wir auch an einer Situation im weitesten Sinn des Wortes teil, die global, ja “kosmisch” ist; daraus folgt aber keineswegs, daß wir global handeln können. Die Situation, in der wir uns befinden, wird eben dadurch bestimmt, daß wir imstande sind, in ihr wirksam zu handeln – im Bewußtsein der dazu gehörenden Risiken und in der Bereitschaft, den Preis zu bezahlen, den die zu verwirklichende Veränderung fordern wird. Nur durch ein solches Handeln ist eine Gesamtsituation politisch zu beeinflussen.
Deshalb mag es bewundernswert und politisch annehmbar sein, wenn ein moralisch motivierter Arzt oder Ökologe sich dorthin begeben, wo die größte Not herrscht, und zugleich dumm und unakzeptabel, wenn man von einem Politiker fordern würde, er solle “moralisch” entscheiden, daß z. B. statt der Transplantationen von Knochenmark in Amerika jetzt die Desinfizierung des Wassers in Afrika zu fördern sei. Man kann sich wohl auch die Lage vorstellen, in der eine solche Entscheidung politisch möglich, ja angebracht sein mag. Aber gerade um eine solche Lage im rechten Augenblick zu erkennen, müssen wir die endliche Natur politischen Handelns praktisch “verstehen” und dürfen sie nicht durch einen “allgemein menschlichen”, abstrakt moralischen Standpunkt verdecken.
In einer lebendigen Gemeinschaft ist das, was gewöhnlich “moralischer” Gesichtspunkt genannt wird, einer der legitimen Bestandteile der Entscheidungslage, weil ein wahrhaft politisches Urteil oder eine politische Tat nie auf unmittelbare Zweckmäßigkeit reduzierbar sind. Dieser Gesichtspunkt führt uns aber nicht über unsere Situation “hinaus”, er trägt vielmehr dazu bei, ihr gerechter zu werden.
In einer Zeit, in der alles in der Welt immer mehr miteinander verflochten und verbunden wird und das Fernsehen alles auf einmal zeigt, unterliegen wir noch leichter der Illusion, daß wir auch alles auf einmal entscheiden können. Deshalb ist Nietzsches nachdrücklicher Hinweis auf die Situiertheit des politischen Seins, schon zu seiner Zeit durchaus berechtigt, heute aktueller denn je zuvor.
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Pavel Kouba ist Professor für Philosophie an der Karlsuniversität Prag und Leiter des Zentrums für Phänomenologische Forschung an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. 2003 ist er Robert Bosch Visiting Fellow des IWM.
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