Die Moral der Amoral in der Außenpolitik

Tr@nsit Online

Wenn es um Moral geht, gelten Diplomaten normalerweise als kalt und berechnend. Machiavelli und Metternich sind Synonyme für die gewissenlose, an Unehrenhaftigkeit grenzende Verfolgung der eigenen politischen Interessen. Sir Henry Wootton, der Botschafter Königin Elizabeths für Venedig und Böhmen, sagte über seinen Berufsstand, er bestünde aus ehrenwerten Männern, die ins Ausland geschickt würden, um über ihre Länder zu lügen. Aber es gibt gute Gründe für die amoralische Tradition der Diplomatie, und paradoxerweise ruht diese Tradition auf wichtigen moralischen Werten.

Rede auf der Konferenz Morality and Politics, Wien, 7. Dezember 2002

Wenn es um Moral geht, gelten Diplomaten normalerweise als kalt und berechnend. Machiavelli und Metternich sind Synonyme für die gewissenlose, an Unehrenhaftigkeit grenzende Verfolgung der eigenen politischen Interessen. Sir Henry Wootton, der Botschafter Königin Elizabeths für Venedig und Böhmen, sagte über seinen Berufsstand, er bestünde aus ehrenwerten Männern, die ins Ausland geschickt würden, um über ihre Länder zu lügen. Aber es gibt gute Gründe für die amoralische Tradition der Diplomatie, und paradoxerweise ruht diese Tradition auf wichtigen moralischen Werten.

Viele von uns reagieren nicht deswegen negativ auf Worte wie das von der ,,Achse des Bösen”, weil die so bezeichneten Länder keine ernsthafte Herausforderung darstellen würden, sondern weil es problematisch ist, Außenpolitik mit Moral zu verbinden. ,,Das Böse” ist ein religiöser Begriff, kein außenpolitischer Grundsatz.

In der Außenpolitik geht es um Krieg und Frieden. Wenn Kriege aufgrund von moralischen oder religiösen Gründen geführt werden, gibt es keine Grundlage für Beschränkungen. Denn wenn wir etwas böse nennen, dann beschwören wir die moralische Pflicht, es zu zerstören. Ein Kompromiss, ein Modus Vivendi oder eine friedliche Koexistenz sind unmöglich. Sogar ein In-Schach-Halten ist von vornherein ausgeschlossen, denn es gibt keinen Spielraum für Verhandlung und Kompromiss. Mit dem Großen Satan kann man nicht ins Geschäft kommen.

Europa hat zweimal erbarmungslose, keiner Beschränkung unterworfene Kriege erlitten. Der Dreißigjährige Krieg, ein Religionskrieg, hat den Kontinent in Ödland verwandelt und ein Drittel der deutschen Bevölkerung getötet. Die Erinnerung an das Grauen des Krieges hat zu einer Epoche des Rationalismus und der Zurückhaltung in der internationalen Politik geführt.

Aber Erinnerungen verblassen. In den vergangenen hundert Jahren haben nationalistische Auseinandersetzungen (Gott war auf beiden Seiten) Europa fast vernichtet, und der Kalte Krieg barg die Möglichkeit der neuerlichen vollständigen Vernichtung. In dem Moment, in dem man überzeugt ist, man sei ,,lieber tot als rot”, steckt man in Schwierigkeiten. Das Leben für die Heimat, die Familie oder das Vaterland zu geben, kann noch bis zu einem gewissen Grad rational sein. Aber Märtyrertum ist etwas ganz anderes und gefährlich. Um es mit den Worten des rumänischen Philosophen E. M. Cioran zu sagen: ,,Ein Mensch, der seine Fähigkeit zur Indifferenz verliert, wird zu einem potentiellen Mörder; wenn er seine Idee erst einmal zu einem Gott gemacht hat, sind die Konsequenzen unberechenbar.”

Der amoralische Ansatz ist seit dem Dreißigjährigen Krieg Europas wichtigste diplomatische Tradition. Sein Pantheon vereint solch leidenschaftslose Vertreter des raison d’etat wie Metternich, Talleyrand, Richelieu, Bismarck und Kissinger – Menschen, die Bündnisse mit moralisch abstoßenden Partnern schließen und diese Bündnisse dann ohne Federlesens in ihr Gegenteil kehren.

Das Ziel der amoralischen Außenpolitik ist es, in einem anarchischen internationalen System eine Ordnung aufrecht zu erhalten, die einer Anzahl von unabhängigen Akteuren Toleranz und Pluralismus zusichert. So kann Macht in einer Welt, in der nur wir dies tun können, beschränkt werden. In einer solchen Welt muss das politische Interesse an erster Stelle stehen, denn man kann nicht über Werte verhandeln.

Natürlich sind auch hier Grenzen gesetzt. Toleranz darf nicht zu weit gehen. Völkermord kann nicht im Namen des Pluralismus verteidigt werden, und man muss auf diejenigen reagieren, die den pluralistischen Grundsatz des Systems bedrohen.

Und obwohl ein “amoralisches” internationales System notwendig sein kann, um den Pluralismus zu unterstützen, muss die Außenpolitik eines einzelnen Landes nicht auf Werte verzichten. Zudem steht ein großer Definitionsspielraum zur Verfügung, ob wir unsere Interessen großzügig oder detailgenau festlegen und ob wir sie am Verhandlungstisch oder mit Gewalt durchsetzen. Wir haben die Wahl bei der Festlegung all unserer politischen Richtlinien, und diese Wahl ist nicht losgelöst von moralischen Werten.

Meistens gibt es so etwas wie ein ,,objektives” nationales Interesse nicht. Ob es um die Abschaffung des Sklavenhandels, den Triumph des Sozialismus oder um die Verbreitung von Menschenrechten und Demokratie geht, alles kann zum nationalen Interesse deklariert werden. Polen und die Tschechoslowakei haben nicht auf unterschiedliche Weise auf die Bedrohung durch die Nazis reagiert, weil die Interessen der Länder unterschiedlich waren, sondern die Menschen.

Wie man seine Interessen definiert, ist ein Spiegel dessen, wie man sein Land definiert. Ende des zweiten Weltkriegs hatte die Sowjetunion andere Interessen als die USA. Amerika verfolgte seine Interessen mit Öffnung und multilateralen Systemen. Die UdSSR verfolgten die ihren mit Gewalt und offenbarten so die ganze Brutalität des Regimes.

Einige argumentieren, es sei nicht länger notwendig, auf eine amoralische diplomatische Sprache zu bestehen, weil die Menschenrechte mehr oder weniger universell anerkannt seien, wenn auch nicht überall beachtet. Aber des stimmt nicht uneingeschränkt. Die Globalisierung hat zu einer größeren Akzeptanz allgemeiner Regeln und gesetzlicher Normen geführt, aber das ist nicht dasselbe wie die universelle Beachtung der Menschenrechte. Viele Länder behaupten, ihr Rechtssystem beruhe auf einer göttlichen Autorität, sagen wir, dem Koran, was uns wieder auf die trostlose Perspektive ungehemmter Auseinandersetzungen über Werte zurückwirft.

Schwache und starke Staaten haben auch unterschiedliche Prioritäten. In Ländern, in welchen die Ordnung jederzeit zusammenbrechen kann, ist es vielleicht nicht besser, zehn Schuldige laufen zu lassen, als einen Unschuldigen zu bestrafen, wie es in stabilen, wohl geordneten Ländern der Fall ist. In der Praxis muss eine Ordnung erst einmal hergestellt werden, bevor sie durch die Rechtsordnung und die internationalen Menschenrechte beschränkt werden kann.

Die Terroranschläge haben die Menschen dazu veranlasst, Menschenrechte und Rechtsvorschriften erneut zu überprüfen. Vielleicht ist es angebrachter, über die Sprache nachzudenken, mit der wir terroristische Vorfälle besprechen. Manchmal ist vielleicht ein Dialog mit Terroristen nötig; vielleicht sollten wir dies nicht von vornherein ausschließen, indem wir uns zu starr an moralische Gebote heften und alle Terroristen als unbeschreibliche Verbrecher verurteilen.

Wir brauchen heute mehr denn je eine moralisch neutrale Diplomatie, denn wenn wir genau hinschauen, stellt diese die Außenpolitik auf eine Grundlage klarer moralischer Werte.


Tr@nsit online, Nr. 25/2003
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