Die Beiträge in diesem Heft diskutieren soziale Sicherheit und soziale Modelle im Hinblick auf ihre verschiedene Formen, Strukturen und Ziele. Es geht vor allem um die Frage, wie unsere Gesellschaft, wie unsere Länder – die Europäische Union auf der einen Seite und die Vereinigten Staaten auf der anderen – diese Ziele zu verwirklichen suchen.
In der ganzen westlichen Welt, zumindest in Amerika und in Europa, gibt es einen Grundkonsens. Demnach ist es nicht nur Sache des Staates, vielmehr eine Aufgabe der Gemeinschaft – wie immer sie diese Aufgabe löst – dafür zu sorgen, dass niemand in seiner Not alleine gelassen wird, ohne jede Hilfe, ohne medizinische Versorgung, dass niemand hungern oder ohne Dach über dem Kopf leben muss. Dies gilt gerade für Gesellschaften, die sich so hoch entwickelt haben wie die unseren in der westlichen Welt.
Auch wenn zwischen unseren Ländern große Unterschiede zu finden sind: aus der Sicht des Restes der Welt, der immerhin fünf Sechstel der Menschheit ausmacht, wird das, was sich in Europa und Amerika entwickelt hat, als Reichtum wahrgenommen. Die Menschen, die in Deutschland eine Grundsicherung erhalten, weil sie arbeitslos sind, haben ein Einkommen, das mehr als der Hälfte der Menschheit nicht zur Verfügung steht. Ich führe diesen Aspekt deshalb ein, weil diese Dimension – d.h. das Verhältnis der westlichen Welt zum Rest der Welt – häufig zu wenig beachtet wird.
Die Aufgabe, dass niemand ohne Hilfe bleiben soll, wird auf unterschiedliche Weise umgesetzt. In Europa, insbesondere in Kontinentaleuropa, finden sich erste Weichenstellungen bereits im 19. Jahrhundert – und damit sehr viel früher als in den USA, wo sich erst in den 1930er Jahren ein entsprechendes Bewusstsein für staatlich organisierte Sozialsysteme entwickelte. Damals wurden in Europa eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die Konsequenzen bis in die Gegenwart haben, insbesondere die Entscheidung, den wesentlichen Teil der Kosten sozialer Systeme über die Löhne zu finanzieren. Dies wird heute zunehmend in Frage gestellt, und zwar deshalb, weil mit dem Anstieg der Kosten der sozialen Systeme auf der einen Seite und dem Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsstunden, die die Bevölkerung pro Jahr leistet, eine immer größere Kluft zwischen Ausgaben und Einahmen entsteht. Die Ansprüche des Systems wachsen, und die Basis schrumpft.
Aus diesem Grund hat sich die Wirklichkeit heute schon weit von dem ursprünglichen Prinzip entfernt. Die Bundesrepublik Deutschland beispielsweise setzt mehr als die Hälfte des Bundesetats für die Finanzierung sozialer Transfers ein. Das ist eine sehr problematische Entwicklung. Denn der finanzielle Raum, in dem die Bundesrepublik Deutschland „von Staats wegen“ innovativ sein kann, verringert sich damit.
Beim Vergleich bestehender sozialer Systeme sind wir immer auf die bisherigen Erfahrungen mit diesen angewiesen. In unsere Erfahrungen sind jedoch drei Veränderungen nicht eingegangen, welche die Zukunft dominieren werden:
Zum einen ist dies die dramatische Veränderung der Bevölkerungsstruktur, in Europa und auf der Welt. Während die Bevölkerung in Europa (wegen geringerer Geburtenquoten und einer Verlängerung der Lebenserwartung um sieben Wochen pro Jahr) altert und langsam zurückgeht, wird die Weltbevölkerung innerhalb der nächsten 45 Jahre um weitere rund zwei bis 2,5 Milliarden explodieren. Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Räumen, die im vorliegenden Heft untersucht werden – Europa und Amerika –, und der gesamten Weltbevölkerung verändert sich damit zu Lasten der westlichen Welt. Unsere Minderheitsposition wird immer deutlicher und damit auch wirksamer.
Auf der anderen Seite haben wir uns daran gewöhnt, etwa 70% der Weltressourcen für unsere Lebensweise in Anspruch zu nehmen. Dieser Anspruch wird sich in Zukunft nicht aufrecht halten lassen. Damit stellt sich eine neue soziale Frage – nicht nur innerhalb der westlichen Welt, sondern global. Es wird nicht nur eine Globalisierung der Märkte geben, sondern zunehmend eine globale soziale Frage. Sie lässt sich, wenn auch nicht den Dimensionen nach, durchaus mit der großen sozialen Frage des 19. Jahrhunderts in Europa vergleichen – ausgelöst durch die schnelle und umfassende Industrialisierung und die damit verbundene Umwälzung der bisherigen Ordnungen; dies führte zu großen sozialen Spannungen und Konflikten.
Die zweite Veränderung betrifft unsere Vorstellungen von Wirtschaftswachstum. Wenn es um die Überwindung der Arbeitslosigkeit und die Sicherung der Sozialsysteme geht, vertrauen wir allgemein auf die wohltätigen und soziale Konflikte verhindernden Wirkungen des Wirtschaftswachstums. Tatsächlich wird angemessenes und nachhaltiges Wachstums von den Industriegesellschaften als Grundlage der Bewältigung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben angesehen. Ich habe allerdings große Zweifel, ob wir klug beraten sind, wenn wir die Stabilität unserer sozialen Systeme auf der Annahme aufbauen, dass wir ein dauerhaftes, d.h. ein beständiges Wachstum des Bruttoinlandprodukts in Europa haben werden. Denn es sprechen nach meiner Überzeugung wesentliche Gründe dagegen.
Wir messen unser Wachstum in von Hundert des jeweils erreichten BIP und folglich mit relativen Maßstäben. Der Prozess, den wir damit beschreiben, ist vergleichbar dem Verlauf der Vermehrung eines Vermögen nach der Zinseszinsrechnung: Je höher unser Lebensstandard, umso größer muss der absolute Zuwachs des BIP ausfallen, umso schneller müssen wir also wachsen, um einen konstanten Zuwachs gemessen in von Hundert des BIP zu erreichen. Mit anderen Worten: Wir gehen von einem exponentiellen Wachstum aus. Sie brauchen sich nur einmal das Vergnügen zu machen, mit der Zinseszinsrechnung auszurechnen, wie hoch das Bruttoinlandprodukt in 30 Jahren wäre, wenn wir es mit 3% wachsen lassen – oder auch mit 2%, was allgemein für notwendig gehalten wird. Die Annahme, Europa oder die USA könnten ein derartiges Wachstum über längere Zeit aufrecht erhalten, ist vor dem Hintergrund der Verknappung der Weltressourcen, des Eintretens von Indien und China als Nachfrager nach Metallen, nach Kohle, nach Energie, nach Gas und Öl zumindest außerordentlich mutig. Ich habe diesen Mut nicht.
Die dritte Veränderung ist jene unglaubliche technische Explosion, die wir derzeit erleben. In Deutschland lag die durchschnittliche Arbeitszeit in den 1950er Jahren bei 3.000 Stunden; jetzt beträgt sie 1.400 – und sie wird sich weiter reduzieren. Wir lernen mit großer Geschwindigkeit, Kapital und Wissen zu verbinden. Damit erschließen wir uns neben der menschlichen Arbeit eine weitere, immer bedeutsamere Quelle der Wertschöpfung. Das wiederum bedeutet zwei Dinge: Erstens, die Ausbildungs- und Qualitätsansprüche an die in der Wertschöpfung engagierte Bevölkerung steigen. Und damit steigt auch die Zahl derer, die diesen Ansprüchen nicht genügen. Aus ihnen rekrutiert sich ein wesentlicher Teil der Arbeitslosen und die überwiegende Mehrheit der Langzeitarbeitslosen. Denn jene Menschen, die über eine ausreichende Qualifikation verfügen, sind überwiegend nur kurzfristig arbeitslos. Diesen Aspekt können wir wirklich ausklammern.
Die Arbeitslosigkeit in Deutschland in diesem Bereich – also Menschen betreffend, die eine ausreichende Qualifikation haben – macht von den gut 10% Gesamtarbeitslosigkeit etwa 4% aus. Es handelt sich um die – normale – Arbeitslosigkeit in einer schnell sich verändernden Wirtschaft. Der größere Anteil entfällt auf die Arbeitslosigkeit der so genannten Langzeitarbeitslosen. Das entspricht etwa einem Fünftel der insgesamt rund 34 Millionen sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer in Deutschland. Dieses Fünftel findet kaum Arbeit im klassischen Arbeitsmarkt einer hoch entwickelten Wirtschaft. Die Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich, vor allem für einfache Dienstleistungen, sind entweder durch Eigenarbeit ersetzt worden oder in die Schattenwirtschaft abgewandert.
Solange wir aber die gegenwärtige Finanzierung der Arbeits- und der Sozialkosten über die Arbeitseinkommen beibehalten, werden wir diese Menschen nicht wieder in Arbeit bringen. Das bedeutet, dass wir die Finanzierungsstruktur der Sozialsysteme verändern müssen. Dies wiederum ist ein ungewöhnlich schwieriger Prozess. Setzt man nicht auf quantitatives Wachstum, weil man überzeugt ist, dass sich die sozialen Probleme auch ohne dauerhaftes und – im Blick auf die Ansprüche – angemessenes Wachstum lösen lassen, muss man sich allerdings darüber im Klaren sein, was in Europa wachsen muss: Wachsen muss in erster Linie die Intelligenz der Gesellschaft, die Intelligenz, mit der wir unser Land organisieren, seine Aufgaben bewältigen und neue angehen. Wachsen muss unsere Fähigkeit, mit den gleichen Rohstoffen und Ressourcen immer mehr zu leisten – oder das, was wir heute haben, mit immer weniger Ressourcen, mit einer immer geringeren Inanspruchnahme unserer und der Welt-Ressourcen zu sichern. Vor allem deshalb müssen die Ausbildung und Bildung der Menschen, Lehre und Forschung an den Hochschulen und die ständige Weiterbildung der Bevölkerung im Zentrum aller unserer Bemühungen stehen. Nur dann lassen sich die Aufgaben bewältigen, vor die uns das 21. Jahrhundert in Europa wie in den USA stellt.
Transit – Europäische Revue, Nr. 32/2007
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