Eine Reise nach Europa. Die ‘orangefarbene Revolution’ in Kiew – ein Tagebuch

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Selten genug war ich in der Ukraine, dieser terra incognita. Und doch zog es mich immer wieder dort hin. Das erste Mal 1989; der Zug brauchte von Berlin nach Kiew etwa 30 Stunden. Es war ein heißer Sommer. Michail Gorbatschow regierte schon das fünfte Jahr. Erst jetzt begannen die Menschen in dieser Republik allmählich, Vertrauen zu fassen in den aus Moskau vorgegebenen „neuen Kurs“. Die Kiewer Zeitungen erschütterten ihre Leser mit der Nachricht, die 6000 im Wald von Bykiwnja am Stadtrand begrabenen „Opfer des Faschismus“ seien in Wahrheit Opfer „der unsrigen“, der sowjetischen NKWD-Einheiten. Man exhumierte und gedachte der Toten voller Schmerz und Scham. Zugleich überraschte mich mein Kiewer Brieffreund Sergej Skljar mit dem Manuskript seines „Tschernobyl-Tagebuchs“. Darin hatte er festgehalten, wie die Drei-Millionen-Stadt auf die Katastrophe im nahegelegenen Atomkraftwerk reagierte, auf die in mächtigen Wellen auftretenden Gerüchte und die Desinformationspolitik der Behörden.

Immer wieder dieser Eindruck: ein unglückliches Land. Ein Volk, das mit Phlegma und Melancholie den immer neuen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu trotzen, sie schlicht zu überdauern versucht. Ein Land des Stillstands; eine Bevölkerung ohne Identität. Zur Zeit der Perestrojka war die rückwärtsgewandte KP-Führung in der Ukraine für Gorbatschow einer der schwersten Bremsklötze. Auch nachdem den Ukrainern 1991 die Unabhängigkeit in den Schoß gefallen war, änderte sich wenig. Der letzte Parteichef – Leonid Krawtschuk – wurde der erste Präsident. Drei Jahre später gewann der nächste Leonid die Wahl, Leonid Kutschma, der Manager des SS-20-Raketenwerks. Immerhin: ein demokratischer Machtwechsel. Doch es änderte sich wenig im Land. Die alten Kräfte organisierten sich in neuen Clans. Weiterhin erbrachte die Schattenwirtschaft die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung.

Um die Jahrtausendwende folgte – als Geste an den Westen, doch gegen Widerstand in der Bevölkerung – die Schließung von Tschernobyl. Der oppositionelle Journalist Gongadse wurde ermordet; das brachte den Regimegegnern Zulauf. Johannes Paul II. kam zu Besuch, von der Bevölkerung freundlich empfangen, doch von manchen orthodoxen Geistlichen misstrauisch beäugt. Und wieder und wieder das Unglück: Der versehentliche Abschuß einer Passagiermaschine über dem Schwarzen Meer. Verheerende Explosionen in den Kohlegruben. Eine Statistik, welche die Ukrainer als das ärmste Volk Europas auswies. Und die „Expo“ in Hannover, auf der nur ein Land am Eröffnungstag mit seiner Ausstellung nicht fertig war: die Ukraine, die ewig verspätete Nation.

Kiew, das Thietmar von Merseburg als eine „Stadt der 400 Kirchen“ beschrieben hatte, war in den neunziger Jahren der ewige Nachzügler. Werbung, Design, Dienstleistungen, Stadtplanung – stets erinnerte die Hauptstadt der Ukraine an das Bild, das Moskau drei Jahre zuvor geboten hatte. Moskau – der einzige in Frage kommende, der einzige realistische Maßstab. Und jetzt das! Aus dem Kosazkij-(Kosaken-)Hotel blicke ich auf den Platz der Unabhängigkeit. Ein Meer von Menschen, ein Wald von Fahnen. Bei Frost und nächtlicher Stunde. Zwei Welten! Das alte Kiew, die „Mutter der russischen Städte“, hat das junge Moskau nicht nur eingeholt, nein, gleich überholt. Nach langen Jahrhunderten tritt die Ukraine aus dem Schatten Russlands heraus.

Diesseits aller historischen Bedeutung: die Freude der Menschen. Die Worte des Regierenden Bürgermeisters von Berlin vom November 1989 hätten auch hier fallen können: „Heute sind wir das glücklichste Volk auf der Welt.“ Welch ein Glück, in diesen Wochen in Kiew zu sein.


20. November, 2 Uhr nachts. – Unser Zug überquert den Bug. Ausgerechnet jetzt ein Kälteeinbruch. Die ersten Schneefälle. „Ein aus Deutschland kommendes Unwetter“, meldet der ukrainische Rundfunk. Die Landschaft ist in Weiß gehüllt; schwarz wie ein Abgrund trennt der Grenzfluß die Europäische Union von – ja, von was eigentlich? – Wenig später rollen die schweren Waggons langsam in eine spärlich beleuchtete Halle. Arbeiter laufen herum, setzen mit Getöse Hebel in Bewegung. Unter unseren Schlafwagen werden die Fahrgestelle ausgetauscht. Eine zweistündige Prozedur. Höchste Zeit, schlafen zu gehen. Auf sowjetischen Breitspurgleisen werden wir erwachen.

20. November, 10 Uhr. – Im Bahnhof der Kleinstadt Schepetiwka, auf halbem Wege zwischen Lemberg (Lwiw) und Kiew, winkt auf dem Bahnsteig eine ältere Frau. Sie hat den Reisenden etwas anzubieten. Ich kaufe ihre selbstgemachten heißen Piroggen und einen Becher Kefir und frage, wen sie morgen wählen wird. „Wir in der Westukraine wählen Juschtschenko! Was haben sie mit ihm gemacht! Vergiftet haben sie ihn! Und er war so ein gutaussehender Kerl!“

20. November, 21 Uhr. – Der scheidende Präsident Leonid Kutschma, für viele ein Symbol des verknöcherten Systems, wendet sich in einer Fernsehansprache an das Volk. „Eine Revolution wird es nicht geben“, sagt er und betont die letzten zwei Worte. „Es wird Wahlen geben.“

21. November, 12 Uhr. – Wahlsonntag. Am Majdan Nesaleschnosti, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew, betritt Oppositionsführer Viktor Juschtschenko, seinen Sohn Taras auf dem Arm, das „Wahllokal Nr. 1“. Vielleicht 150 Menschen klatschen ihm Beifall, skandieren seinen Namen. Noch ahnt niemand, wie dieser Platz 24 Stunden später aussehen wird. Ich betrachte das kranke Gesicht des Kandidaten, auf den seine Gegner, so vermutete man schon damals, einen Giftanschlag verübt hatten. Ich ahne und fürchte nur eines: Macht ist in diesem Land dazu da, sie auf gar keinen Fall wieder herzugeben. Kann es in diesem Land einen Regimewechsel geben? Ich habe starke Zweifel.

22. November, 3.25 Uhr nachts. – Im Stadtteil Podil unterhalb der Burg, unten am Ufer des Dnjepr, wohnte im Mittelalter das einfache Volk. Hier hat Juschtschenkos Stab im Gebäude einer Hochschule Luftballons, Butterbrote und einen riesigen Samowar vorbereitet. Parteifreunde, Journalisten, schöne junge Frauen, auf Feiern eingestellt. Schon vor zwei Stunden sollte der Kandidat auf die Bühne treten. Doch er kommt nicht. Die Stimmung wird immer nervöser. Juschtschenko betritt kurz das Gebäude und macht schon in der Eingangshalle wieder kehrt. Er fährt zum wie eine Festung abgeriegelten Sitz der staatlichen Wahlkommission, um gegen die schon aus den ersten Zahlen ersichtliche Wahlmanipulation zu protestieren. (Im Osten des Landes klettert die Wahlbeteiligung nach Schließung der Wahllokale über mehrere Stunden auf die wundersame Höhe von 98 Prozent.) Endlich kommt Juschtschenko zurück, betritt den Saal. „Fanfare!“, ruft Tetjana, seine Pressechefin. Die Fanfare ertönt, alles jubelt.

Doch es gibt keinen Grund dazu. Manche der Prognosen sehen Juschtschenko vorne, doch die offizielle Auszählung sieht das ganz anders. Es ist wie nach dem ersten Wahlgang: Der Krieg der Zahlen beginnt. Jetzt muß der Politiker Stellung beziehen. Juschtschenko ruft mit bitterem Ernst in den Saal: „Wir haben gewonnen, Punktum. Aber die Fälschungen gehen weiter! Der Staatsstreich hat begonnen! In der Wahlkommission die Wahrheit zu finden ist nicht möglich. Liebe Freunde, kommen Sie alle morgen um neun Uhr auf den Majdan! Dort müssen die Bürger ihre Wahl verteidigen!“

Montag, 22. November, 10.30 Uhr. – Die „Wahl“ ist vorbei, der „Wahlkampf“ beginnt. Die Menschen strömen. Auf dem Platz der Unabhängigkeit hat die Opposition rechtzeitig eine Bühne mit Lautsprechern und einer elektronischen Leinwand aufgebaut. Gegenüber, auf der anderen Seite des Platzes, stehen im Halbkreis Zelte. In diesen soll auf der Grundlage von Zweitprotokollen aus allen 33.000 Wahllokalen des Landes die alternative Auszählung der Stimmen stattfinden. Ein Gericht hatte diese Veranstaltungen für rechtens befunden. Damit war ein Brückenkopf der Demokratie entstanden. Auf der Bühne spricht Juschtschenko.

Unter den Menschen ein Mann von vielleicht 50 Jahren in Zivil, nennen wir ihn Taras. Seine feierlichen Worte, sein Zorn, seine Offenheit passen nicht recht zu seiner eher biederen Erscheinung. „Heute Nacht sind wir eine Nation geworden. Wir wollen normal leben, verstehen Sie? Ich bin Oberst der Miliz. Meine Familie ist heute nicht zur Arbeit gegangen, wir demonstrieren. Ich bin bereit, meinen Job aufzugeben. Mit einem Präsidenten Janukowytsch gibt es keine Zukunft.“

Montag, 17 Uhr. – Viktor Janukowytsch, der Regierungskandidat und amtierende Premierminister, spricht im Fernsehen – als Sieger. „Wohlstand und Wohlergehen der Bürger“ will er fördern. Er warnt vor „kleinen Gruppen, die zu den Barrikaden rufen“. Doch der Sinn der Ukrainer für Ruhe und Mäßigung werde obsiegen. – Schon in der Nacht hatte Russlands Präsident Putin, der zweimal als „Wahlkampfhelfer“ mit Janukowytsch aufgetreten war, seinem Favoriten zum Sieg gratuliert.

Derweil gibt sich der Stab des Regierungskandidaten geradezu bürgerbewegt: In seinem Hauptquartier in einem riesigen Kinosaal haben seine Mitarbeiter ebenfalls eine alternative Stimmenzählung organisiert – da will man der Opposition nicht nachstehen. Doch die Atmosphäre ist verräterisch: Das Pressezentrum der Opposition bot eine Wahlfete mit Rockmusik und Show-Einlagen. Dagegen verströmt dieser Kinosaal, an der Moskauer Straße gelegen, den eisigen Charme eines sowjetischen Parteitags.

Dienstag, 23. November, 12 Uhr. – Seit gestern wuchert, am Majdan beginnend, eine wilde Siedlung den Chreschtschatyk, die Flaniermeile entlang: 250 Zelte sind es bereits. Die Nachrichtenagenturen sprechen von hunderttausend Menschen auf dem Majdan; ich schätze etwas weniger. Die Berichte über solche Veranstaltungen haben ja immer ihre eigene Arithmetik. Doch die Menge ist im Wachsen begriffen. „Ich überbringe euch die Grüße der Völker Europas“, ruft der Tory Charles Stannock aus London in das Menschenmeer. „Wir bewundern euren Mut!“ Der Europa-Abgeordnete ist wohl der erste Ausländer, der auf dem Majdan spricht. „Das letzte Mal sahen wir 98 Prozent Wahlbeteiligung vor drei Jahren in Saddam Husseins Referendum.“ Jubel. Keiner der späteren Gastredner wird klarer, schärfer, mitreißender sprechen: Lech Walesa nicht, Polens Ex-Premier Buzek nicht und auch nicht die Parlamentarier von SPD, CDU und Grünen, die mehrere Tage später auf der Bühne erschienen.

Dienstag, 17 Uhr. – Sondersitzung des Parlaments. Die Kommunisten boykottieren. Vor halbleerem Saal tritt Juschtschenko ans Rednerpult und legt die Hand auf ein Exemplar der ältesten, in kyrillischen Lettern gedruckten Bibel von 1581. In diesem Moment unterbricht das staatliche Fernsehen die Übertragung. Juschtschenko verliest die Eidesformel des Präsidenten, bekreuzigt sich, küsst die Bibel.

Dienstag, 19 Uhr. – Der zweite Abend auf dem Majdan. Deutlich mehr Menschen als gestern. Auf der Bühne, das Mikrophon in der Hand, Mykola Tomenko. Vor fünf Jahren war er noch ein stiller Politologe. Vor zwanzig Jahren musste er, gerade volljährig, als Sowjetarmist in Afghanistan kämpfen. Jetzt wird er Tag für Tag auf dem Majdan sprechen, wird zum Volksredner, zum Moderator der Kundgebungen, wächst über sich selbst hinaus. „Auf diesem Platz steht ein friedliches, freies Volk! Ruhm der Ukraine!“

Dann spricht die ewig junge Abgeordnete Julia Tymoschenko, die schöne Volkstribunin, der spiritus movens der Revolution. „Verehrte Freunde“ – das ist die Anrede auf dem Majdan -, „Verehrte Freunde, bildet jetzt einen Korridor, damit der Präsident der Ukraine, Viktor Juschtschenko, hindurchgehen kann zum Präsidialamt. Wir gehen in der ersten Reihe, und Ihr alle geht mit, und dort bleiben wir so lange, bis der scheidende Präsident freiwillig herauskommt, und wenn nicht, helfen wir ihm höflich dabei.“ Und dann fragt die schöne Julia keck, wie eine junge Lehrerin ihre halbwüchsigen Schüler fragt: „Sagt mir, wo ist das Präsidialamt?“ Die Menge lacht. Sie hebt die Hände und zeigt hinter sich.

Dort, zwei Straßen weiter, sind vor einigen Stunden Sondereinheiten der Miliz in Stellung gegangen. Julias Sätze können alles bedeuten – Blutvergießen oder den Sieg. Die Menge folgt ihren Weisungen, zieht die Instytutska-Straße hinauf, dann rechts in die Bankowa. Julia steckt eine Nelke an den Schild eines Milizionärs, klettert über die Absperrung, diskutiert mit den Offizieren. Das Anklopfen am Präsidialamt bleibt erfolglos. Aber von nun an ist der Präsidentenpalast von zwei Seiten belagert, in doppelter Umklammerung: den inneren Ring bilden die Milizionäre, den äußeren die Demonstranten, die nun auch hier ihre Zelte aufschlagen.

Dienstag, 22 Uhr. – Was sich jetzt auf den Straßen abspielt, bekomme ich nicht mehr mit. Ich bin auf dem Weg zu einem Mann, von dem ich mir Aufklärung erhoffe über die Entwicklung: Jewhen Martschuk. 1991 war er KGB-General und der letzte Minister für Verteidigung und Staatssicherheit der Ukrainischen Sowjetrepublik. Seitdem war er Regierungschef, Geheimdienstchef, zuletzt Verteidigungsminister. Kurz vor der Wahl wurde der 63 Jahre alte Politiker entlassen, offenbar weil er darauf beharrte, dass die Armee den Soldaten keine „Wahlempfehlungen“ geben solle. Vorige Woche berichtete eine ihm nahestehende Zeitung sogar, nach ihm werde gefahndet.

Nun sitzen wir hinter dicken Mauern, durch die kein Schlachtenlärm dringt, in völliger Abgeschiedenheit beisammen. Doch wir sind nur wenige Straßen vom Präsidentenpalast entfernt. In stündlichen Abständen ruft ein mit Videokamera ausgerüsteter Beobachter an, den Martschuk an die Brennpunkte des Geschehens entsandt hat. Er berichtet per Handy live von den Demonstrationen. Ich entfalte meinen Stadtplan, wir beugen uns darüber und markieren mit dem Kugelschreiber die Stellungen. – Was mache ich hier, von dicken Mauern geschützt? Zusammen mit dem ehemaligen Minister für Staatssicherheit verfolge ich mit Röntgenaugen die Zuckungen des Volkskörpers…

Doch das mulmige Gefühl verfliegt, als Martschuk seine zu diesem Zeitpunkt höchst überraschende Prognose stellt: „Ich denke, die Opposition wird siegen.“ Woher kann er das wissen, schon am zweiten Tag der Proteste? Um so mehr, als er sich selbst Sorgen macht, der Ausnahmezustand könne verhängt werden? Martschuk zählt auf, welche Einheiten der Armee und der Miliz sich wie verhalten würden, wenn… Für die Truppen des Innenministeriums könne er seine Hand nicht ins Feuer legen. Dann spricht er von seinem Nachfolger, Verteidigungsminister Kusmuk. („Er wird wahrscheinlich keinen Befehl geben, die Streitkräfte offen einzusetzen. Allenfalls den Befehl, die Gebäude des Präsidenten und der Regierung zu verteidigen, falls sie gestürmt werden sollten.“) Und Putin, dem er mehrfach begegnet ist, Putin sei von seinen Beratern und Partnern beim Umgang mit der Ukraine schlicht „in die Irre geführt“ worden.

Martschuk sieht schon jetzt eine klare Überlegenheit der Demonstranten – was immer das heißt. „Nach meinen Informationen sind eine Million Oppositionsanhänger in Kiew auf den Straßen, darunter viele Zugereiste.“ Das ganze Land ist in Aufruhr, doch das Entscheidende spielt sich auf einem, höchstens zwei Quadratkilometern ab, zwischen dem Chreschtschatyk und dem Majdan unten in der Senke und den Gebäuden von Präsident, Regierung und Parlament auf der Anhöhe, oberhalb der Bankowa-Straße. „Es läuft wie bei den Klassikern“, schmunzelt Martschuk: „Die Revolution wird in der Hauptstadt gemacht.“ Noch glaube ich nicht recht daran.

Mittwoch, 24. November, 2 Uhr nachts. – Es schneit unaufhaltsam. Aber vor dem Präsidialamt in der Bankowa-Straße herrscht eine geradezu feierliche Stimmung. Hunderte junger Menschen halten die Stellung, Auge in Auge mit den Männern der Sondermiliz „Bars“ (Panther). Eine Wand von Schilden, darüber die Helme mit gesenktem Visier. Blutjunge Burschen in schwarzen, offenbar noch nie benutzten Kampfanzügen. Und vor ihnen – ihre Altersgenossen, Studentinnen, Studenten. Es ist knapp unter Null, Butterbrote werden verteilt und heiße Getränke. Dann singen die Studentinnen wunderschöne ukrainische Volkslieder. Manche schunkeln. Und die Menge skandiert in freundlichem Ton: „Lächeln, lächeln, lächeln!“

Mittwoch, 21 Uhr. – Stets von derselben Fanfare angekündigt, hat Juschtschenko gesprochen. Im Schneetreiben auf dem Majdan. Auf dem Großbildschirm erscheint sein narbiges Gesicht verfinstert, heiser klingt er auch noch. Danach wird er durch die Menge zu seinem schwarzen Dienst-Mercedes geleitet. Der Wagen fährt los, die steile Straße zum Michaelskloster hinauf. Gleich dahinter ein Kleinbus voller aufgeregt gestikulierender Leibwächter. Dahinter das Taxi, das ich am Straßenrand aufgegabelt habe. Zwei Straßenecken weiter verschwindet der Oppositionsführer im Hinterhaus eines Altbaus. Große Fenster, eine hell ausgeleuchtete Wohnung. Seine Bewacher im Hof lassen niemanden vor. Aber sie sind gesprächig, zu Scherzen aufgelegt. „Warum ich diesen Knopf im Ohr habe? Ich höre Musik von ‚Rammstein’…“

(Am Tag darauf erzählt mir ein führender Oppositionspolitiker, Juschtschenko habe im Hinterhaus in einer konspirativen Wohnung den Chef des Geheimdienstes SBU getroffen. SBU-Chef Smeschko – 30 Jahre Armeelaufbahn, 1996 Harvard-Stipendiat – sei gerade von einer Begegnung mit den obersten Machthabern gekommen und habe davon berichtet. Präsident Kutschma und Janukowytsch hätten völlig den Sinn für die Realitäten verloren. Kutschma habe geglaubt, die Opposition bestehe aus einer Handvoll angetrunkener Demonstranten. – Interessant: die Schlapphüte nehmen, wie so oft, als erste Kontakt zur Gegenseite auf. Und doch war es Smeschkos Stellvertreter Sazjuk, in dessen Haus der Oppositionsführer wahrscheinlich vergiftet wurde.)

Mittwoch, 23 Uhr. – Am Europa-Platz steht ein strahlend weißer Rundbau, das „Ukrainische Haus“, einstmals Lenin-Museum. Jetzt Nachtlager für zugereiste Demonstranten. An der Stirnwand ein provisorischer Altar. Hier die Registrierung, dort die Ausgabe heißen Tees. Überall Menschen. Auf sechs Meter langen, nur einen halben Zentimeter dicken Iso-Matten liegen sie wie die Heringe. Das wird eine harte Nacht. Spärliche, postsowjetische Beleuchtung. Chaos. Studenten aus Galizien, gestern angereist, totmüde und ratlos, wie es weitergehen soll. „Vielleicht reisen wir morgen wieder ab.“

Der heisere Juschtschenko im Schneetreiben, die ratlosen Studenten im Halbdunkel – das stimmt pessimistisch. Derweil immer neue Meldungen von Bussen, Zügen, sogar Sonderflugzeugen, mit denen Anhänger des Regierungskandidaten aus dem Osten nach Kiew gebracht werden. Doch die Blumenkinder auf dem Majdan feiern weiter ihren Karneval. Sie berauschen sich an einem Sieg, den sie noch gar nicht errungen haben. Sie schlitteln johlend über das Eis auf dem Bürgersteig. „Jusch-tschen-ko! Jusch-tschen-ko!“ Hin und wieder ein Autokorso mit orangefarbenen Fahnen und Schleifen: „Tüt-tüt-tüüüt! Tüt-tüt-tüüüt!“

Ich kehre in mein Hotel zurück und spüre: Das alles beginnt mich zu nerven. Wie lange soll dieser Karneval ohne Ergebnis noch dauern? Vor drei Jahren, nach dem bis heute nicht aufgeklärten Mord an dem Journalisten Gongadse, hatten schon einmal Zelte auf dem Chreschtschatyk gestanden. Viel weniger als jetzt, nur auf dem Bürgersteig, nicht auf der Fahrbahn, aber immerhin. Viele Wochen lang. Die Oppositionellen demonstrierten und demonstrierten, ihre Stimmen wurden immer heiserer – dann wurden Zusammenstöße provoziert, die Miliz griff ein, das Zeltstädtchen wurde über Nacht abgeräumt – das war’s. Die Macht ist dazu da, sie auf gar keinen Fall wieder herzugeben. So wird es enden. Ich lege mich aufs Bett. Durch das Fenster dringt das ewige „Tüt-tüt-tüüüt“. Unruhiger Schlaf.

Donnerstag, 25. November, 11 Uhr. – Juschtschenko spricht. Er fordert seine Anhänger auf, den frierenden Demonstranten der Gegenseite mit Verständnis, heißem Tee und Butterbroten zu begegnen.

Donnerstag, 13 Uhr. – Darja, Sekretärin in einer mittelgroßen Firma, sendet mir eine Sms: „Was auf dem Majdan geschieht, ist ein Albtraum!“ Sie traut sich nicht einmal in die Nähe. Verwandte von ihr arbeiten im Innenministerium. Sie hat Angst.

Donnerstag, 18 Uhr. – Ich sitze neben Andrij Wowtschak, einem jungen Philologen aus Lemberg. Wir gucken die Nachrichten im Staatsfernsehen. Plötzlich eine Live-Schaltung zu einer jungen Reporterin am zentral gelegenen Europa-Platz, die selbst nicht weiß, wie ihr geschieht: Vor ihren Augen verbrüdern sich Demonstranten der verfeindeten Lager, trinken zusammen Tee. Andrij und ich sehen uns an: Das ist der Sieg! Die größte Sorge, die Angst vor Zusammenstößen, welche ein Eingreifen der Sicherheitskräfte nach sich ziehen würden, ist ausgestanden.

Donnerstag, 23 Uhr. – Die Atmosphäre auf dem Majdan wird immer ausgelassener, die Menschen hinter der Bühne immer zuversichtlicher. Immer häufiger sprechen Miliz- und Armeeoffiziere und ranghohe Angehörige des Sicherheitsdienstes zu der Menge. Hunderttausend Kehlen danken ihnen: „Die Armee ist mit dem Volk!“ „Ruhm dem Sicherheitsdienst!“ Der Fliegeroberst Pjotr („ich – Luftwaffe“, sagt er scherzend auf deutsch), ist heute erstmals in seiner blauen Uniform hier. Gestern, vorgestern war er hier noch in Zivil. „Aber unser Volk ist aufgewacht.“ Mit seiner Schwiegermutter, mit der er sich über politischen Fragen zerstritten hatte, hat er sich diese Woche ausgesöhnt. Dann erzählt er, wie er im Auftrag der Oppositionskräfte versucht, die Hinweise zu überprüfen, wonach russische Einheiten ins Land gekommen seien, um gegen Demonstranten vorzugehen. „So eine Entsendung von Truppen würde natürlich streng geheim gemacht. Aber alles, was geheim ist, wird bald offenbar werden.“

Er führt mich zu einem General und einem Abgeordneten. Wenig später fahren wir los, verteilt auf einen Geländewagen und eine Limousine. Einerseits Zuversicht: „Das ist der Anfang des Sieges“, glaubt der General. Andererseits die befürchtete Einmischung von außen: „Die Lage ist sehr, sehr ernst“, sagt Petro. Seit Montag gibt es Gerüchte, wonach russische Einheiten im Lande sind. Nicht in Divisionsstärke, nein – es geht wohl vor allem um die Verteidigung wichtiger Gebäude gegen Demonstranten, sollten die ukrainischen Sicherheitskräfte den Befehl verweigern. Auf der Krim, also im Lande selbst, ist die russische Schwarzmeerflotte stationiert – ein Verband mit allen nötigen Einheiten. Im Kiewer Präsidentenpalast, sagten ukrainische Miliz-Offiziere den Oppositionsführern, seien hinter ihren eigenen Linien russische Sondereinheiten in Stellung. Ein besonders starker Verdacht richtet sich auf die Luftwaffenhochschule mit Kasernen in Wasylkiw, den Dnjepr abwärts, kaum 15 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Dort fahren wir hin.

Wir sind nicht die ersten. Vor dem Kasernentor steht frierend, aber entschlossen ein Häufchen Demonstranten, Bewohner von Wasylkiw. Zwei Busse sind quergestellt, blockieren die verschneite Einfahrt. Der Vollmond beleuchtet die Szene. Doch der Wachsoldat macht uns das Tor nicht auf. Es wird verhandelt, es wird salutiert, es wird telefoniert, am Ende kommt der Kommandant der Hochschule persönlich heraus. Schließlich dürfen wir hinein. Der General, ein Schrank von Mann, geht voran.

Aber was kann man in einer Kaserne mit mehreren Wohnblöcken voller schlafender Soldaten schon besichtigen? Würden sie sagen, woher sie kommen, würde das sie womöglich „den Kopf kosten“, sagt der General beiläufig zu uns. Ja, sagt der Kommandant, „zu Besuch“ einquartiert sind hier Angehörige der „Bars“, einer Sondereinheit von der Krim. Angeblich sind sie wegen einer Schießübung hier.

Russen seien hier nicht, beteuert er. Ehrenwort eines Offiziers. Mit dieser Nachricht müssen wir die Kaserne wieder verlassen. Die Demonstranten fragen erregt: „Wer ist nun dort drin?“ Der General hüllt sich in Schweigen. Keine Beweise.

Freitag, 26. November, 1 Uhr nachts. – Ein bekannter Kiewer Bankier erzählt von seinem Freund, einem hohen Militär, dem russische Kameraden in Moskau im freundschaftlichen Gespräch vor zwei Wochen genau schilderten, was in der Ukraine passieren werde: „Erst wird der Regierungskandidat mit etwa drei Prozent Vorsprung die Wahl gewinnen. Dann wird Putin anrufen und gratulieren. Und für Schwierigkeiten stehen im Hintergrund russische Sondereinheiten bereit.“ Wenig später verbreitete ein Freund des Bankiers aus dem Kiewer Präsidialamt dieselbe Version. Dann kam die Wahlnacht. Die ersten zwei Punkte sind eingetreten.

Freitag, 18 Uhr. – Javier Solana aus Brüssel, die Präsidenten Valdas Adamkus aus Litauen und Aleksander Kwasniewski aus Polen, ferner Duma-Präsident Boris Gryslow aus Rußland beginnen an einem „runden Tisch“ im barocken Marienpalais Verhandlungen mit den verfeindeten Parteien. Janukowytsch, der Regierungskandidat, habe immer noch „auf einem sehr hohen Roß gesessen”, wird ein Diplomat später berichten. Spät am Abend verkündet man eine Art Einigung. Vor allem: keine Gewalt. Doch die anderen Punkte – so schnell man sie verkündet hat, so schnell gerät man sich darüber wieder in die Haare. Immerhin: der Wahlfälscher, sein Opfer und der scheidende Präsident an einem Tisch. Insgesamt drei Begegnungen dieser Art wird es geben. Von den Gästen spielt Kwasniewski offenbar die wichtigste Rolle. Jahrelang hat er, aller Kritik zum Trotz, eine rechte Männerfreundschaft mit Kutschma gepflegt, aber auch Kontakte zur Opposition. Jetzt zahlt sie sich offenbar aus.

Samstag, 27. November, 20.15 Uhr. – Das Parlament hat die Wahl für ungültig erklärt; die Opposition, die mit etwas Glück hin und wieder eine Abstimmung gewinnen kann, feiert einen Etappensieg. Die Volksfeststimmung auf dem Majdan erreicht an diesem Samstagabend ihren Höhepunkt. Zu den Klängen der Bandura, des unförmigen ukrainischen Saiteninstruments, singt ein Kosakenchor. Ein Baß der Kiewer Oper heizt der Menge mit Arien ein. Abseits der Bühne auf der Straße ein Vier-Mann-Orchester mit Volksliedern aus den Karpaten. Und Julia Tymoschenko spricht. „Ich habe einen Traum: Es wird eine Zeit kommen, da das Volk seine Politiker liebt und die Politiker das Volk.“ Und alle Menschen werden Brüder. „Nach uns wird kein Volk der Welt mehr erniedrigt werden!“ Wir sind in der romantischen Phase der Revolution. – Hinter mir stehen auf der Mauer, die den U-Bahn-Schacht einfriedet, drei Abiturientinnen. Ehe ich es mich versehe, ziehen mich drei Mädchenarme nach oben auf die Mauer. „Germanija s nami?“ fragen sie und strahlen mich an, „Ist Deutschland mit uns?“ „Germanija s vami!“ antworte ich. Da schenkt die sechzehnjährige Aljona mir ihr orangefarbenes Fähnchen. „Ich war mit dem Schüleraustausch in München. Grüße Deutschland von mir!“

(Zwei Wochen später werden ranghohe Angehörige von Regierungs- und Oppositionslager berichten, dass gerade an diesem Wochenende – offenbar in der Nacht zum Sonntag – bereits die ersten Befehle für einen Truppeneinsatz erteilt wurden. Vor allem Janukowytsch und Kutschmas Administrationschef Medwedtschuk sollen dafür plädiert haben. 13.000 Mann der „Inneren Truppen“ des Innenministeriums standen bereit. Scharfe Munition wurde ausgegeben. Doch selbst Innenminister Bilokon soll in seiner engsten Umgebung auf Widerspruch gestoßen sein. „Gegen zwei Uhr nachts hatten wir die Situation unter Kontrolle“, erinnerte sich später ein Oppositionspolitiker.)

Sonntag, 28. November, 15 Uhr. – Längst ist das Dorf auf dem Chreschtschatyk auf mindestens 500 Zelte angewachsen, darunter einige Zehn-Mann-Zelte. Zwei Männer reichen Schlafsäcke über die Absperrung. Ein paar Meter weiter liegt ein Berg von mehreren Kubikmetern Kleidung, gespendet von der Kiewer Bevölkerung. Daneben eine Lieferung grobschlächtiger Filzstiefel. Das Proviantzelt ist gut gefüllt mit Einmachgläsern. Ein Mädchen verteilt Pralinen. Kristina, in ihrem bürgerlichen Beruf Sekretärin, registriert die Demonstranten, die um einen Platz im Zelt bitten. „Von Montag bis Donnerstag haben wir 10.000 Menschen registriert, aber die meisten sind wieder raus, haben in der Stadt Privatquartiere gefunden.“ Eine halbe Million Quartierangebote habe man im Laufe der Woche von den Kiewern bekommen, sagt ein Abgeordneter der Opposition. Vielleicht übertreibt er. Doch die Tendenz stimmt: Es gibt mehr Angebote, als Demonstranten vermittelt werden können. Die russischsprachigen Kiewer haben den großenteils ukrainischsprachigen Gästen Tür und Tor geöffnet. Viele schlafen auch in großen Gebäuden im Zentrum: im Rathaus, im „Haus des Schriftstellers“, im schmucken klassizistischen Kulturpalast oberhalb des Majdan. In dessen Kellern hatte einst der NKWD seinen Opfern den Genickschuß versetzt, ehe sie auf Lastwagen hinausgefahren wurden in den Wald von Bykiwnja.

Montag, 29. November, 11 Uhr. – Die zweite Revolutionswoche bricht an. Das Oberste Gericht nimmt, von Demonstranten beider Seiten belagert, mehrtägige Verhandlungen über das Wahlergebnis auf. Heute sehe ich auf dem Majdan in der Menge zum ersten Mal Schwarz-Rot-Gold. Die Fahnen anderer Herren Länder waren schon vorige Woche aufgetaucht. Gleich zu Anfang mehrere georgische (dort hat man gerade eine friedliche Revolution hinter sich) und weißrussische (dort hat man sie noch vor sich). Dann kamen schnell viele polnische Fahnen hinzu, getragen vor allem von angereisten polnischen Studenten. Auch die USA, Kanada, Israel, Rußland (mit orangefarbener Schleife), die EU und selbst Südafrika sind schon seit Tagen vertreten. Lenin hatte Recht: Wenn die Deutschen Revolution machen und einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen sie erst mal eine Bahnsteigkarte.

Montag, 17.40 Uhr. – Juschtschenko gibt einer Gruppe deutscher Journalisten ein Interview. Wir sitzen in dem gut renovierten, gehöftartigen Gebäude von 1816, in dem er und seine engsten Mitstreiter ihre Büros haben. Aus den Dachfenstern blickt man auf eine bewaldete Anhöhe und auf das Kopfsteinpflaster der Andreasgasse, den Touristenpfad, der sich vom Stadtteil Podil steil hinaufwindet zur üppig-barocken Andreaskirche. Westlicher Standard und moderne Bürotechnik in fast schon ländlicher Idylle. Das Hauptquartier der Revolutionäre – mit seiner ruhigen, nüchternen Arbeitsatmosphäre erinnert es an eine deutsche Zahnarztpraxis oder Anwaltskanzlei.

Montag, 21 Uhr. – Auf dem Majdan ist neben der Siegesstimmung auch die wachsende Ungeduld vieler Demonstranten mit Händen zu greifen. Jeden Abend eine ähnliche Beschwörungsformel: „Kommt morgen wieder hier auf den Platz. Der morgige Tag ist für unsere Revolution entscheidend!“ Wird es der Opposition gelingen, den „Druck der Straße“ und die Blockade der Regierungsgebäude aufrechtzuerhalten und zugleich einen schnellen, friedlichen Marsch durch Institutionen und Instanzen vorzulegen? Erstmals seit dem zweiten Wahlgang warnt heute die deutsche Botschaft in Kiew per E-Mail: „Die Gefahr einer gewaltsamen Konfrontation im ganzen Land wächst.“ Bitte Demonstrationen meiden, Auswei spapiere stets mitführen.

Dienstag, 30. November, 19 Uhr. – Kundgebung der Regierungsanhänger in Donezk im Osten des Landes. Das Fernsehen zeigt kommentarlos einen längeren Ausschnitt. Im Persermantel tritt Ljudmila Janukowytsch auf, die Frau des Präsidentschaftskandidaten. Sie warnt vor den Demonstranten in Kiew mit ihren orangefarbenen Symbolen: “Dort ist alles amerikanisch. Die essen dort Apfelsinen, und ich sage Ihnen, das sind nicht einfach Apfelsinen.” Die verbotenen Früchte der Revolution seien gespritzt, und wer davon esse, komme mit Meningitis ins Krankenhaus. „Gespritzte Apfelsinen“ – schon bald ein geflügeltes Wort.

Mittwoch, 1. Dezember, 15 Uhr. – Das Parlament tagt, eingebettet in ein Meer von Menschen. Demonstranten der Opposition durchbrechen die Absperrung, es kommt zu einem schlimmen Handgemenge im Eingangsbereich, Julia Tymoschenko, die im Gebäude ist, gerät um ein Haar in körperliche Bedrängnis. Doch das wichtigste findet im Saale statt: Die Mehrheit spricht der Regierung im zweiten Anlauf das Misstrauen aus. Jubel vor dem Gebäude. Ein Schlag gegen den Premier und Präsidentschaftskandidaten Janukowytsch. Doch der bleibt im Amt. Erst Tage später lässt er sich von Präsident Kutschma „beurlauben“. Seit einer Woche ist er ohnehin ausgesperrt aus seinem Amtssitz. Demonstranten aus Galizien haben ihre Busse vor den Eingang gestellt, Stoßstange an Stoßstange. Kutschma sitzt derweil in seiner Residenz außerhalb der Stadt, empfängt dort die Minister.

Freitag, 3. Dezember, 17 Uhr. –

Nach mehrtägiger Verhandlung vor laufenden Kameras, nach der Enthüllung pikanter Details über das Vorgehen der Wahlfälscher fällt das Oberste Gericht sein Urteil: Der zweite Wahlgang ist ungültig, der Wählerwille nicht mehr zu ermitteln. Der Wahlgang wird mit denselben Kandidaten unter Ausschaltung der gröbsten Manipulationsmöglichkeiten am 26. Dezember wiederholt.

Das löst den Gordischen Knoten. Der Fernsehkurs in Sachen Rechtsstaatlichkeit kommt zu seinem Ende. Feuerwerkskörper zerplatzen am Himmel über dem Majdan. „Der Mythos, die kriminellen Machthaber seien unbesiegbar, ist zerstört“, frohlockt der Vertreter der Opposition im Gericht.

Samstag, 4. Dezember, 11 Uhr. – Die Party geht langsam zu Ende. Der Taxifahrer, der mich zum Flughafen bringt, blickt voller Nostalgie auf diese zwei Wochen zurück. „Man musste nur über den Majdan gehen, das gab einen solchen Energieschub! Und in der ganzen Stadt haben die Autofahrer sich gegenseitig vorgelassen, das hat es noch nie gegeben. Jetzt verläuft sich die Menge. Es wird mir schwer ums Herz.“


Drei Sätze waren es, die ich in diesen zwei Wochen am häufigsten zu hören bekam. Zunächst jener Ausdruck der Empörung darüber, dass das Regierungslager einen Clanfavoriten wie Janukowytsch ins Rennen schicken konnte, der in seiner Jugend wegen Gewaltdelikten im Gefängnis saß: „Sagen Sie mal, wo gibt es das sonst auf der Welt, dass ein zweifach Vorbestrafter Präsident werden will??“ Dann die mit leuchtenden Augen vorgetragene Antwort vieler Demonstranten auf meine Frage, wer sie denn organisiert und den Bus aufgetrieben habe, mit dem sie die Tagesreise nach Kiew bewältigten: „Wir selber!“ Man muß das schläfrige Land von einst gesehen haben, um zu ermessen, was diese neue, aufgeweckte Antwort bedeutet.

Schließlich ein Satz, der in unzähligen Variationen ausdrückte, was offenbar Hunderttausende empfanden, jeder für sich, oft schon am ersten Tag der Revolution: „Jetzt sind wir eine Nation geworden.“ Oder: „Aus der Bevölkerung ist ein Volk geworden.“ Oder: „Wir sind keine Viehherde mehr.“ – Der aktive Teil der Bevölkerung ist zu einer zivilen Gesellschaft geworden. Die Ukraine, in Moskau lange Zeit „Malorossija“, Kleinrußland, genannt, immerhin ein Land mit einem Drittel der Bevölkerungszahl seines Nachbarn, tritt aus dem Schatten des „großen“ Rußland heraus. Die zweitgrößte Nation des früheren Ostblocks klopft an die Pforte Europas. Eine tektonische Verschiebung, deren Folgen kaum abzusehen sind.

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Gerhard Gnauck lebt als Korrespondent der WELT in Warschau; 2003 war er Milena Jesenská Visiting Fellow des IWM