Einige internationale Voraussetzungen der Wiedervereinigung Deutschlands

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Am 21. November 1989 kam das Mitglied der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU, Nikolai Portugalow, nach Bonn ins Bundeskanzleramt. Er brachte dem Berater Helmut Kohls, Horst Teltschik, neben einem offiziellen Papier auch ein “Non-paper” mit.

I. Ein Besuch mit Folgen

Am 21. November 1989 kam das Mitglied der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU, Nikolai Portugalow, nach Bonn ins Bundeskanzleramt. Er brachte dem Berater Helmut Kohls, Horst Teltschik, neben einem offiziellen Papier auch ein “Non-paper” mit. Dort hieß es:

Rein theoretisch gefragt: Wenn die Bundesregierung beabsichtigen würde, die Frage der Wiedervereinigung bzw. Neuvereinigung in die praktische Politik einzuführen, dann wäre es vernünftig, öffentlich über die Vorstellung der zukünftigen Allianzzugehörigkeit beider deutschen Staaten, also NATO und Warschauer Pakt, und ebenso über die Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft nachzudenken.

Horst Teltschik war „elektrisiert“. Das waren völlig neue Signale aus Moskau: Die Wiedervereinigung wurde dort konkret diskutiert und offensichtlich erwartet! Man kann hinzufügen: Das Neue war nicht nur, dass es um die Wiedervereinigung ging, sondern bereits um Fragen der Zugehörigkeit eines vereinten Deutschland zu bestimmten Bündnissen. Fragen also, die man in Moskau noch Monate später nur versteckt handelte oder nicht stellen wollte. Teltschik informierte sofort den Bundeskanzler und legte ihm nahe, jetzt die Initiative zu ergreifen, ansonsten würden andere (also vor allem die Sowjetunion) die Führungsrolle in der Politik zur deutschen Wiedervereinigung übernehmen. Der Bundeskanzler stimmte zu, woraufhin Teltschik mit ausgewählten Personen (heimlich) die „Zehn Punkte“ schrieb, die der Kanzler korrigierte und am 28. November im Bundestag vortrug. Sogar der Bundesminister des Äußeren, Hans-Dietrich Genscher, war nicht informiert worden.

Allerdings ist es bis heute nicht ganz klar, in wessen Auftrag Portugalow handelte: Zeitweilig dachte man im Kanzleramt, dass es Gorbatschow selbst war (der Herrgott persönlich, wie es einmal bei Teltschik hieß). Portugalow nannte seinen Chef Valentin Falin, der dies jedoch bestritt und sich nur für das offizielle Papier als Autor offenbarte. Wahrscheinlicher ist, dass Portugalow dieses „Non-paper“ selbständig schrieb, vermutlich sogar in seinem Bonner-Hotel, und dass beide Seiten – das Kanzleramt wie Falin als Vorsitzender der Internationalen Abteilung – glaubten, die jeweils andere sei weiter als man selbst. Beide, Portugalow wie auch Teltschik, stimmten dieser These zu. Portugalow hat hier vermutlich ungeplant einen Moment Weltgeschichte betrieben.

Diesen Besuch Portugalows kann man als Einschnitt betrachten – zunächst einmal deshalb, weil er die „Zehn Punkte“ anstieß und mit den internationalen Reaktionen auf diese auch das Bewusstsein entwickelte, dass die Wiedervereinigung möglich ist, und dies in nicht allzu ferner Zukunft. Dieses Treffen war aber auch ein Einschnitt, weil es sowohl international als auch im Verhältnis von oppositionellen Bewegungen zu den Regierenden in Ost und West die Karten neu mischte.

1989 gärte es in ganz Ostmitteleuropa oder genauer: im gesamten sowjetischen Hegemonialbereich. Oppositionelle Gruppen und Bewegungen traten in ihrem Land gegen die diktatorischen Regierungen und deren Machtorgane auf, zumeist indirekt auch für nationale Unabhängigkeit, das heißt gegen die Zentralmacht, die Sowjetunion. Aber ausgerechnet dort gab es ebenfalls Veränderungen. Seit 1985 regierten im Kreml ein Generalsekretär und eine Mannschaft, die selbst nicht nur grundlegende Veränderungen im eigenen Land initiierten, sondern auch in den Beziehungen zu den bisherigen Satellitenstaaten.

II. Opposition

Als Michail Sergejewitsch Gorbatschow am 6. Oktober 1990 die Jubiläumsfeiern zum 40. Jahrestag der DDR besuchte, hatte es bereits Verstimmungen zwischen der SED-Führung unter Honecker und der Regierung der Sowjetunion unter Gorbatschow gegeben. Honecker hatte den Gorbatschow-Kurs kritisiert; deutlichster Ausdruck war das Verbot der Zeitschrift „Sputnik“, die von der sowjetischen Nachrichtenagentur Nawosti für das Ausland herausgegeben wurde. Im November 1988 wurde der Vertrieb der Zeitschrift in der DDR verboten. Aber es war klar: Ohne Gorbatschow konnte die SED-Führung ihr Jubiläum nicht feiern, und Michail Gorbatschows Fehlen auf einer solchen Feier wäre ein politischer Skandal gewesen. Nachdem die Delegation unter Gorbatschow in Schönefeld gelandet war und mit den schwarzen Limousinen in die Innenstadt fuhr, begegneten ihnen fast nur Menschen, die „Gorbi, Gorbi“ riefen, und sie sahen nur Menschen, die pro-Gorbatschow-Schilder hochhielten. Ein einziger Mann hielt ein anderes Schild, ein einziger. Und auf dem Schild stand „Mach weiter so, Erich.“ Gorbatschow wandte sich an seine Genossen: „Irgendetwas müssen wir nicht mitbekommen haben.

In der Tat: Man kann es kaum glauben, aber sollte man in Moskau trotz der geheimdienstlichen Apparate in der DDR und in der Sowjetunion und trotz der für sie bedrohlichen Entwicklungen in Polen, Ungarn und besonders in den baltischen Staaten die Entwicklung in den Haltungen der Bevölkerung und in der Opposition dort und in der DDR nicht in ihrer tiefgreifenden Bedeutung wahrgenommen haben? Die „Ausreiser“, die Flüchtlinge aus der DDR in die westdeutschen Botschaften, hatten ein derartiges Ausmaß angenommen, dass wegen totaler Überfüllung die Missionen der Bundesrepublik in Ostberlin (8. August 1989), in Budapest (14. August), in Prag (23. August) und später in Warschau (19. September) geschlossen werden mussten. Auch in der DDR hatte es – nach der ?SSR 1968 und Polen in den 1970er und 1980er Jahren – neue Entwicklungen in der Loslösung von „der“ Partei, hier der SED gegeben. Im Laufe der 1980er Jahre hatten sich innerhalb, aber auch außerhalb der Kirche dauerhafte Kontakte, Netzwerke und Strukturen herausgebildet, die weit über die 1960er und 70er Jahre hinausgingen. Kurz vor der 40-Jahre-Jubelfeier hatte sich das Neue Forum gebildet. In seinem Gründungsaufruf vom 10. September 1989 wurde eine neue Richtung deutlich: Man wollte das Dach der Kirche und der kleinen Oppositionsgruppen verlassen, drängte in die Mitte der Gesellschaft – und dies mit einem Kampf um legale öffentliche Debatten. Hier lagen m.E. die großen Leistungen des „Neuen Forum“. Bereits nach wenigen Wochen hatten mehr als 100.000 Personen unterzeichnet, nach einigen Monaten – gegen Ende des Jahres 1989 – sollen es eine Million gewesen sein, wie Rolf Henrich, einer der Gründer, erklärt. Man habe nicht mehr zählen können, und er habe die Listen verbrannt, noch in Sorge um die Sicherheit der Unterzeichner. Bald nach dem „Neuen Forum“ gründete sich eine ganze Reihe von Gruppierungen wie der „Demokratische Aufbruch“ ebenfalls offiziell gegründet . Und: Gorbatschow selbst war zu einem Hoffnungsträger geworden, auf den man sich berufen konnte.

Diese neuen Entwicklungen waren dem Generalsekretär der KPdSU vermutlich bekannt, aber bis dahin nicht so erschienen, dass sie die DDR in ihren Grundfesten erschüttern könnten. Erich Honecker tat auf der Jubiläumsfeier am 7. Oktober 1989 auch alles, um ihm die DDR als einen Hort der politischen und ökonomischen Sicherheit zu präsentieren.

Aber auf der Abendveranstaltung des 7. Oktober mit einem Fackelzug der FDJ vor der Tribüne der Ehrengäste hörte man aus den FDJ-Kolonnen „Gorbi, Gorbi“- und „Perestroika“-Rufe. Mieczyslaw Rakowski, polnischer Partei- und Staatsführer, soll Gorbatschow sogar Rufe übersetzt haben, wie: „Gorbi, rette uns!“

Gorbatschow war, obwohl er nach Honeckers eher feindseligen Auftritten über die Tatsache hätte erfreut sein können, dass er zum Hoffnungsträger geworden war, tief beunruhigt. In seinen Memoiren stellte er zu diesen FDJ-Kolonnen fest: „Das ist doch das Aktiv der Partei. Das ist das Ende. (…) Es war fünf Minuten vor zwölf‘“.

An diesen Reaktionen kann man schließen, dass die oppositionellen Strömungen, die sogar die Parteijugend ergriff, die Mächtigen im Osten tief erschreckten und dass diese zu ahnen begannen, was ihrer Herrschaft drohen könnte. Und dies, obwohl sie nicht einmal die Demonstrationen und deren Niederknüppelung in Berlin und in anderen Städten der DDR mitbekamen.

Das Erschrecken in Moskau wurde noch größer, als ca. drei Wochen nach dem Jubiläum – Honecker war abgewählt – der frisch gekürte Egon Krenz am 31. Oktober 1989 seinen Antrittsbesuch bei Gorbatschow machte. Er hatte einen fast schonungslosen Bericht über die ökonomische und die politische Situation der DDR im Gepäck. Gorbatschows Beunruhigung wuchs, „als nach der Ablösung Honeckers ein reales Bild der Lage zum Vorschein kam; denn die Sowjetunion hatte extreme ökonomische Schwierigkeiten, und eine DDR in der Krise musste zu einem Mühlstein am Hals der sowjetischen Ökonomie und Politik werden. Gorbatschow gab Krenz mit auf den Weg zurück nach Berlin: Er möge sich zusammen mit der Sowjetunion mehr international engagieren, das wäre auch „hilfreich in euren politischen Beziehungen zur BRD“. Wenig später wurde das „Dreieck Sowjetunion, BRD und DDR“ zu einem Schlüssel der Gorbatschowschen Politik. Krenz reiste in dem Bewusstsein ab, dass von dem großen sowjetischen Bruder keine ökonomische Hilfe zu erwarten sei.

Außerdem hatte Krenz den Generalsekretär gefragt, ob die Sowjetunion noch zu ihrer „Vaterschaft“ der DDR stehe, schließlich sei diese ein Kind der Sowjetunion, und „anständige Leute stehen zu ihren Kindern, auf jeden Fall erlauben sie ihnen, den Vatersnamen zu tragen. (Lebhaft)“ So heißt es im sowjetischen Protokoll, demzufolge Gorbatschow geantwortet haben soll: „Wie kannst du überhaupt eine solche Frage stellen. Also ich kenne keinen vernünftigen Politiker, der die deutsche Einheit will, einschließlich Bundeskanzler Kohl.…-Du musst wissen, alle ernsthaften Politiker wie Thatcher und Mitterrand, Andreotti und Jaruzelski, sogar die Amerikaner, obwohl in deren Position neue Nuancen sichtbar werden – alle wollen nicht die Wiedervereinigung.“

Krenz liefert im Interview noch eine andere Version. Gorbatschow soll auf die Frage nach der sowjetischen Vaterschaft geschwiegen, sich leise mit seinem Dolmetscher unterhalten und dabei ein russisches Sprichwort zitiert habe: „Und ist der Faden noch so lang, er wird einmal ein Ende haben. Da ahnte auch Krenz, was auf ihn zukommen würde.

Die Existenz beider deutscher Staaten, so erklärte Gorbatschow im Gespräch mit Krenz und in den folgenden Monaten immer wieder, sei Ergebnis und Bedingung „unserer erfolgreichen Politik“. Die Wiedervereinigung stehe nicht auf der Tagesordnung.

Am 3. Oktober 1989, also kurz nach dem Besuch von Krenz, tagte das Politbüro des ZK der KPdSU. Gorbatschow erklärte dort: „Die DDR lebt zu einem Drittel über ihre Verhältnisse.“ Geheimdienstchef Krjutschkow kündigte an, dass am kommenden Tag, am 4. November 1989, eine Million Demonstranten in Berlin auf die Straße gehen würden. Und Schewardnadse bemerkte: „‚Die Mauer‘ sollten sie (die Deutschen) besser selbst beseitigen.“ Gorbatschow meinte hellsichtig: „Sie werden mitsamt Eingeweiden ausverkauft. (…) Und wenn sie auf den Weltmarkt treten, wird der Lebensstandard sofort sinken.

All dies zeigt, wie sehr sich die sowjetische Führung durch die Opposition unter Druck gesetzt sah. Und nicht nur die sowjetische Regierung, alle anderen an diesem Prozess beteiligten Regierungen ebenfalls.

Die oppositionellen Strömungen waren – und dies ist meine erste grobe These – bis einschließlich November 1989 die Hauptakteure der sich überstürzenden Ereignisse.

III. Die internationale Politik bis Dezember 1989

Aber die Protagonisten der internationalen Politik, die bis zum Herbst 1989 als die Getriebenen erschienen, waren ebenfalls aktiv.

George Bush sen., der amerikanische Präsident, der damals relativ jung im Amt war, forderte bereits im März 1989 eine neue Politik der NATO und ihrer Mitgliedstaaten in Reaktion auf die wirkungsvolle Parole Gorbatschows vom „europäischen Haus“. Der damalige Sicherheitschef, General Scowcroft, und sein Helfer Philip Zelikow waren an der Ausarbeitung dieser neuen Politik wesentlich beteiligt. In dem so genannten „Scowcroft-Memorandum“, an dem auch Philip Zelikow mit geschrieben hatte, hieß es:

Heute sollte die oberste Priorität der amerikanischen Europapolitik das Schicksal der Bundesrepublik Deutschland sein. … Selbst wenn wir bei der Überwindung der Teilung Europas durch mehr Offenheit und Pluralismus Fortschritte machen, ist keine Vision des künftigen Europas denkbar, die nicht auch eine Stellungnahme zur ›deutschen Frage‹ enthält.

Sinn dieser auch unter amerikanischen Strategen umstrittenen Erklärung war, so Zelikow und Condoleezza Rice später, die deutsche Frage wieder auf die Tagesordnung auch gegen Gorbatschow zu setzen.

Kurz nach den Feiern zum 40. Jubiläum der NATO in Brüssel, besuchte er George Bush die Bundesrepublik Deutschland und hielt eine Rede in der Rheingoldhalle in Mainz:

Für die Gründerväter des Bündnisses war diese Hoffnung ein ferner Traum. Jetzt ist diese Hoffnung die neue Aufgabe der NATO. (…) Der Kalte Krieg begann mit der Teilung Europas. Er kann nur beendet werden, wenn die Teilung Europas aufgehoben ist. (…) Es könne kein europäisches Haus (à la Gorbatschow) geben, wenn sich nicht alle seine Bewohner von Raum zu Raum frei bewegen können. (…) Wir streben die Selbstbestimmung für ganz Deutschland und alle Länder Osteuropas an. (…) Berlin muss die nächste Station sein.

Scowcroft zufolge sei diese Rede eigentlich noch deutlicher gewesen, man habe aber Bundeskanzler Kohl nicht desavouieren wollen.

Die Bundesrepublik sollte nun wegen der notwendigen Wiedervereinigungspolitik „partner in leadership“ werden – eine Rolle, die bis dato Großbritannien eingenommen hatte. Horst Teltschik, verantwortlicher Leiter für die Außen- und Sicherheitspolitik im Kanzleramt, sieht die Rolle der Amerikaner zwar nicht als den eigentlichen Inaugurator der neuen Politik der Einheit in Europa, aber bestätigte, dass man damals auf die Signale in Richtung „partner in leadership“ deutlicher hätte reagieren müssen. Zentral in dieser Politik war die Rolle der NATO. Condoleezza Rice sagte:

Es ist richtig, dass die USA tatsächlich nur eine Sorge hatten, diejenige nämlich, dass die Wiedervereinigung Deutschlands die NATO zerstören könnte . Denn die NATO war die treibende Kraft für den Frieden in Deutschland, der Anker Amerikas in Europa.

Diese Politik hielten die USA zusammen mit der Bundesrepublik Deutschland während des ganzen Prozesses durch. In diese Politik trafen sich amerikanische und (west)deutsche Interessen; sie bestimmte die weitere Diplomatie: vor allem mit den „10 Punkten“ Helmut Kohls vom 28. November 1989 und mit den nur einen Tag später vorgelegten „4 Prinzipien“ Bushs, die der Präsident eine Woche später, nämlich am 4. Dezember 1989, auf dem NATO Gipfel in Brüssel wiederholte: Erstens Selbstbestimmung, zweitens Bekenntnis zur NATO, drittens „friedliche und schrittweise Wiedervereinigung“, viertens Bestätigung „der bestehenden Grenzen in Europa.“

Seit November 1989 – und dies ist meine zweite grobe These – übernahmen die Kanzleien und Außenministerien der USA und der Bundesrepublik das Heft in die Hand, nur noch in Teilen gestützt von den meisten Opposition in der DDR. Diese waren anfänglich – wenn auch uneinheitlich – nicht die Unterstützer der Wiedervereinigung, geschweige denn unter dem Dach der NATO.

Diese amerikanisch-deutsche Politik wurde für die USA wohl die erfolgreichste seit dem Marshall-Plan von 1947.

IV. Militärische Nichteinmischung

Unter dem Generalsekretär Michail Sergejewitsch Gorbatschow waren bereits seit dem Mai 1988 bis zum Februar 1989 die sowjetischen Truppen aus dem Krieg in Afghanistan zurückgeführt worden; danach wurde im Wesentlichen eine Politik der militärischen Nichteinmischung in die Angelegenheit auch der sowjetischen Satellitenstaaten betrieben. Am 7. und 8. Juli 1989 wurde nach einer längeren Vorgeschichte offiziell in Bukarest eine Doktrin zu Grabe getragen , die es offiziell niemals gegeben hat: Die Breschnew-Doktrin. Darunter wurde die Option auf Einmischung und militärische Intervention in andere Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts verstanden, wie sie in der Tschechoslowakei 1968 praktiziert worden war. Diese militärische Nichteinmischung sollte für die Wiedervereinigung von nicht zu überschätzender Bedeutung werden. Gorbatschows Politik setzte außerdem auf Abrüstung und Ausgleich mit dem Westen, da die Rüstungskosten die Sowjetunion erstickte und der „militärisch-industrielle Komplex die Politik in der Sowjetunion dominierte. Gorbatschows „Perestroika und „Glasnost“ bekommen erst auf dem Hintergrund dieser Frontstellung ihre tiefere innenpolitische Bedeutung – die Theorie selbst und ihre Erläuterungen wirken für sich von heute her gesehen eher wenig revolutionär.

Erstaunlich ist vor allem, dass Gorbatschows Generäle in der DDR während des ganzen Jahres 1989 nicht eingriffen, obwohl es laut Heinz Keßler, dem DDR-Verteidigungsminister, „nicht einen einzigen sowjetischen General“ in der DDR gab, der die Politik Gorbatschows unterstützt hätte.

Und Keßlers Stellvertreter, Armeegeneral Fritz Streletz, berichtet sogar, dass General Snetkow, der Oberkommandierende der sowjetischen Truppen, ihm folgendes „Angebot“ gemacht hätte:

Genosse Streletz, ich unterstreiche noch mal, wenn die Nationale Volksarmee Hilfe, Unterstützung benötigt, die Gruppe ist bereit, ihren Waffenbrüdern der NVA jegliche Hilfe zuteil werden zu lassen.

Dennoch: Die sowjetischen Truppen blieben in den Kasernen.

V. Gorbatschows schwankende Reaktionen

Ende November/Anfang Dezember 1989 lagen also die klaren Strategien aus Washington und Bonn auf den Tisch: Wiedervereinigung ja, aber unter dem Dach der NATO. Unklar blieb allerdings die Zeitfrage: In welchem Zeitraum erwartete man die Wiedervereinigung? Damals gingen auch die Regierungschefs Helmut Kohl und George Bush davon aus, dass die Vereinigung ein langer Prozess werden würde, Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauernd. Aber die Ereignisse entwickelten eine eigene Dynamik, die auf schnellere Lösungen drängte.

Wie reagierte die Regierung unter Gorbatschow in Moskau auf die US-amerikanische und die deutsche Strategie?

Zunächst einmal waren Gorbatschow und sein Außenminister Schewarnadse empört, Genscher bekam bei seinem Besuch Anfang Dezember 1989 in Moskau diese Empörung zu spüren: Kohl wolle die schwierige Lage der Sowjetunion und Osteuropas ausnutzen. Die Deutschen sollten sich daran erinnern, wohin in der Vergangenheit schon einmal eine Politik ohne Sinn und Verstand geführt habe. Und Schewardnadse fügte hinzu – alles nach dem sowjetischen Protokoll: “Nicht einmal Hitler hätte sich so etwas erlaubt.

Danach betonte Gorbatschow die Notwendigkeit beider deutscher Staaten für den Frieden in Europa und die DDR als Garant dieses Friedens, ebenso die Notwendigkeit beider Bündnisse Warschauer Vertrag wie auch die NATO: So den ganzen Dezember 1989 über bis Ende Januar 1989, sei es gegenüber Bush, sei es gegenüber den Warschauer Vertragsstaaten, so am 4. Dezember 1989 auf der Sitzung des Politisch Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes in Moskau.

Sogar während Mitterrands Besuches bei Gorbatschow in Kiew am 7. Dezember 1989 wurde diese Strategie vertreten, obwohl der französische Präsident eine eigene andere Strategie andeutete. Mitterrand sagte dort:

Die deutsche Frage dürfte nicht den europäischen Prozess bestimmen, sondern umgekehrt. Und: An erster Stelle – ich wiederhole es – muss die europäische Integration stehen, die osteuropäische Entwicklung, der gesamteuropäische Prozess und die Schaffung einer europäischen Friedensordnung (!). Wenn die USA daran teilnehmen werden, dann gibt uns das zusätzliche Garantien.

Dies ist eine der wenigen Stellen, die Mitterrands frühe Hoffnung auf ein neues europäisches Sicherheitssystem zeigen. Gorbatschow reagierte nicht, Mitterrand war enttäuscht.

Die sowjetische Führung betonte weiterhin die Existenz der DDR als Friedensgarant in Europa sowie während des ganzen Dezember bis Ende Januar 1990, war dann für ein neutrales Deutschland ebenso wie Aleksandr Jakowlew. Ende Januar 1990 wurde gegenüber dem neuen DDR-Regierungschef Hans Modrow diese Neutralitätsstrategie vertreten, also wenige Tage nachdem die sowjetische Führung beschlossen hatte, der deutschen Einheit im Grundsatz zuzustimmen.

Der amerikanische Außenminister Baker versuchte bei seinem Besuch Anfang Februar 1990 Gorbatschow in Moskau zu überzeugen, dass auch die Sowjetunion nach den Erfahrungen mit Deutschland in zwei Weltkriegen unmöglich daran interessiert sein könnte, ein vereinigtes Deutschland in die Neutralität zu entlassen. Er gab sogar eine Garantieerklärung ab, dass die NATO sich „nicht einen Zoll“ nach Osten ausdehnen werde. Diese Garantieerklärung hatte nur einen Tag Bestand, dann wurde sie vom US-Präsidenten zurück genommen – was aber die sowjetische Führung nicht wusste, aber noch 10 Jahre später von sowjetischen Protagonisten als gebrochene Garantieerklärung tituliert wurde. Baker hingegen erwähnt sie nicht in seinen Memoiren.

Im Februar 1990 sprach sich Gorbatschow dann für die Mitgliedschaft beider Deutschlands in beiden Blockallianzen NATO und Warschauer Vertrag, trat anschließend – eher sondierend ab März 1990 – für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa bei Auflösung der NATO und des Warschauer Vertrages ein. Nach Mitterrands Besuch in Kiew Ende am 6. Dezember 1989 tauchte diese Überlegung erstmalig auf sowjetischer Seite, wenn ich richtig informiert bin, in einem Bericht Teltschiks über sein Gespräch mit Nikolai Portugalow am 28. März 1990 auf, nachdem zuvor schon Horst Teltschik diese Position in der sowjetischen Führung vermutet hatte. Auch während des ersten Besuches des frisch gewählten DDR-Ministerpräsidenten de Maizière am 28. April 1990 bei Gorbatschow wurde diese Strategie erörtert, ebenso bei dem Besuch Horst Teltschiks mit deutschen Bankiers in Moskau Mitte Mai 1990 oder bei dem Gespräch Gorbatschows mit Mitterrand am 25. Mai 1989.

Diese neue europäische Sicherheitsarchitektur sollte den Warschauer Pakt und die NATO auflösen zugunsten eines neuen europäischen Sicherheitssystems unter Einschluss der USA und der Sowjetunion.

Nach all diesen strategischen Erörterungen ist es umso erstaunlicher, dass Gorbatschow dann am Schluss seiner Gespräche in Washington Ende Mai und Anfang Juni die Wiedervereinigung bei freier Wahl des Bündnisses unterzeichnete, was nach der Wiedervereinigung hieß: unter dem Dach der NATO. Entsprechend wurde in den 2+4-Verhandlungen, die am 11. Februar 1990 inauguriert wurden, agiert.

Zu dieser Unterzeichnung habe ich eigentlich Fragen oder eine unbefriedigende These: War Gorbatschow noch in dem Glauben verhaftet, dass die freie Wahl des Bündnisses heißen könnte: entweder NATO oder ein neues Sicherheitsbündnis in Europa – von dem aber in Washington keine Rede war? Denn die DDR und den Warschauer Pakt halten zu können und damit auch die Wahl des Warschauer Vertrages wäre eine absolut unrealistische Annahme gewesen. Wahrscheinlich ist eher – und dies ist die unbefriedigende These –, dass Gorbatschow bemerken musste, dass die Strategie eines europäischen Sicherheitssystems zu spät in die Verhandlungen geworfen wurde und die Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der NATO in der Tat die vermutlich einzige Möglichkeit der Kontrolle dieses neuen Deutschlands geworden war. Aber die Frage bleibt, warum die sowjetische Führung so spät ein neues europäisches Bündnissystem in ihre strategischen Überlegungen aufnahm.

VI. Einige europäische Reaktionen auf die Zehn Punkte

Die britische Regierung unter Margaret Thatcher reagierte mit starker Abwehr auf die Möglichkeit der Wiedervereinigung mit dem Argument, Gorbatschows Position werde gefährdet. Die Position des französischen Präsidenten Mitterrand war eine andere: Er befürchtete, wie erwähnt, dass die Wiedervereinigung Deutschlands den Prozess der europäischen Einheit stören werde, wünschte deshalb als Minimum den Euro, dem Kohl auch zustimmte, obwohl der den Euro als ökonomisch negativ für Deutschland einschätzte.

Auf der ersten Sitzung der „Open Sky Konferenz“ am 11. Februar 1990 in Ottawa wurde von Baker und Genscher die Aushandelung der internationalen Bedingungen der Wiedervereinigung in den 2+4-Verhandlungen vorgestellt. Über den Ausschluss der anderen Europäer aus diesen Verhandlungen empörten sich besonders der italienische und der niederländische Außenminister: Es sei nicht allein eine Sache der vier Siegermächte (Frankreichs eingeschlossen) und der beiden deutschen Staaten, sondern Sache aller Europäer. Darauf antwortete Genscher für seine Verhältnisse erstaunlich strikt, eher überheblich: „You are out oft the game!“ Merkwürdig genug: Dieses Machtwort hatte Wirkung, die 2+4-Verhandlungen klärten die internationalen Rahmenbedingungen der deutschen Einheit mehr oder minder ohne die anderen europäischen Regierungen; ihre Ergebnisse wurden am 12. September unterzeichnet.

Die NATO dehnte sich bis heute bis an die Grenze Weißrusslands und Russlands aus, was diese als Bedrohung empfanden. Warum kam es zu dieser raschen Ausdehnung der NATO? Eine vordergründige Antwort wäre, weil diese Erweiterung im Interesse der früheren westlichen Gegner im Kalten Krieg lag. Das stimmt jedoch auf den zweiten Blick nicht, weil die Einbindung des nachsowjetischen Russlands und nicht dessen Bedrohung auch im Interesse zumindest der europäischen Westmächte liegt. Eine weitere Antwort wäre, dass durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und durch die Wiedervereinigung Deutschlands fast sämtliche Staaten Ostmitteleuropas in frühere Muster fielen und Absicherungen gegen die Sowjetunion und auch gegen Deutschland wollten. Und dafür kam nur die NATO oder eine erweiterte KSZE/OSZE imstande. Die NATO bestand jedoch mit durchaus erfolgreicher Politik und war weiterhin der wesentliche Anker der USA in Europa. Überdies dürfte für manche mitteleuropäische Regierungen die USA ein wesentlicher Garant ihrer Sicherheit auch gegen andere westeuropäische Staaten sein. Mitterrand befürchtete oder nahm an, dass nach der Wiedervereinigung viele der Probleme aufbrechen würden, die das Europa vor dem Ersten Weltkrieg erschütterten. In gewisser Weise scheint er damit Recht zu haben…

Ein Wort zu Litauen und die anderen baltischen Staaten, deren Rolle zumeist unterschätzt wird. Die litauische Unabhängigkeitserklärung vom 11. März rief erschreckte Reaktionen in Moskau, aber auch bei den Westmächten hervor. Man fürchtete um Gorbatschows Position.

Die französische Regierung unter Mitterrand sowie die Bundesregierung unter Kohl brachten die litauische Regierung dazu, am 29. Juni ihre Unabhängigkeitserklärung zeitweilig außer Kraft zu setzen, worauf Gorbatschow das Embargo gegen Litauen vom 17. April 1990 aufhob. Hier stellten sich also westeuropäische Regierungen gegen eine baltische, obwohl diese kaum andere Ziele verfolgte als die BRD in der DDR. Aber die baltischen Staaten waren eben damals Republiken der Sowjetunion, und die Gorbatschow-Regierung und ihre Militärs fühlen sich durch deren Unabhängigkeitspolitik stärker bedroht als durch die DDR-Entwicklung; denn nun ging es um den verfassungsmäßigen Bestand der Sowjetunion. In meiner Durchsicht der Politbüro-Protokolle war die „baltische“ oder die „litauische Frage“ häufiger auf der Tagesordnung als die DDR oder die Wiedervereinigungsfrage. Kohl und Mitterrand fürchteten ihrerseits um Gorbatschows Position in der Sowjetunion und um die Entwicklung in der DDR, wenn die baltischen Länder „zu früh“ ihre Unabhängigkeit durchsetzen würden.

Und ein weiteres Wort zur Oder-Neiße-Frage: Bundeskanzler Kohl wehrte sich vehement gegen die Festschreibung der Oder-Neiße-Linie als Grenze, bevor ein gesamtdeutsches Parlament diesen Akt vollziehen würde. Im sowjetischen Protokoll seines Treffens mit Gorbatschow am 10. Februar 1990 wird in einer langen Passage deutlich, wie stark seine Vorbehalte gegen eine frühere Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze sind. Im westdeutschen Protokoll von Horst Teltschik steht nur ein Satz: „Der Bundeskanzler erläuterte seine Position zur Oder-Neiße-Grenze.“ Auch später formuliert er diese Vorbehalte. Die polnische Regierung war besorgt, die Regierung de Maizière und Meckel lassen eine eigene Erklärung der Volkskammer dazu verabschieden. Die amerikanische Regierung hielt Kohls Haltung für eine „mittlere PR-Katastrophe“ (Condoleezza Rice).

VII. „Was wäre, wenn …“

Trotz der vielen Darstellungen zur Wiedervereinigung, bleiben einige Fragen ungeklärt. Eine erste liegt nach meinen Arbeiten nahe: Warum hat Gorbatschow so spät die Strategie einer möglichen neuen europäischen Sicherheitsstruktur ohne NATO und Warschauer Pakt, aber unter Einschluss der Sowjetunion und der USA in seinen Führungsgremien diskutieren lassen? Warum hat er nur eine Woche nach seiner Diskussion mit Mitterrand über dieses Thema dann doch in Washington die freie Bündniswahl des vereinten Deutschland unterschrieben? Und das hieß: die Wiedervereinigung unter dem Dach der NATO.

Fragen, die mit „Was wäre, wenn …“ beginnen, sind in der historischen Zunft geradezu tabu, werden aber dennoch in wechselnden Zusammenhängen mindestens implizit gestellt. Da es hier auch um Alternativen gehen soll, sei mir die folgende Frage erlaubt: Was wäre geschehen, wenn die Gorbatschow-Führung auf die klare Strategie der US- und der bundesdeutschen Regierung „Wiedervereinigung ja, aber unter dem Dach der NATO“ anders als mit den genannten Schwankungen beantwortet hätte. Nicht mit Neutralität des vereinten Deutschland, sondern mit „Wiedervereinigung ja, aber unter dem Dach eines neuen europäischen Sicherheitssystems bei Auflösung der NATO und des Warschauer Paktes“? Sagen wir, er hätte dies im Dezember oder Januar 1990 getan und nicht im März oder April 1990, als der Warschauer Pakt schon nicht mehr existierte und die DDR auf dem Wege zur Einheit war, er also nichts zu verhandeln hatte. Es hätte die gesamten internationalen Verhandlungen in neue Zieldebatten gebracht und neue Konstellationen geschaffen.

In diesem Zusammenhang verlangt die Frage Klärung: Hat die Oder/Neiße-Frage oder das Junktim der litauischen Unabhängigkeit durch Kohl und Mitterrand das Misstrauen in die westlichen Nachbarn erhöht? Und war dies ein Grund für die die positive Haltung gegenüber den USA (sogar später im Irak-Krieg) in diesen ostmitteleuropäischen Regierungen?

Für die US-amerikanische und die (west)deutschen Regierungen war die Wiedervereinigung ein außergewöhnlicher politischer Erfolg. Auf dem Hintergrund der bisher gestellten Fragen und mit Blick auf Osteuropa, besonders die Sowjetunion und die sog. Balkanstaaten kann man sich nicht ganz so sicher sein über das Ausmaß des Erfolges dieser Politik für ganz Europa.

Letztlich: Auch wenn der Niedergang der Sowjetunion für die meisten Bevölkerungen Ostmitteleuropas die Demokratie als Staatsform brachte – und dies in den meisten Fällen ohne Krieg – kann man erstaunt sein, wie viele sich nach den „alten Zeiten“ patriarchalisch-diktatorischer Zuwendung sehnten und entsprechende Parteien wählten. Für mich ist dies eine der Grundfragen, die das 20. Jahrhundert in besonderer Weise hinterlässt: warum diese „Ungleichzeitigkeit“ von Systembruch und politischer Neuorientierung so oft zu der Bewahrung des Alten geführt hat, auch wenn es eine Diktatur war.

Der Philosoph Ernst Bloch hatte schon Ende der 20er Jahre seine These von der „Ungleichzeitigkeit entwickelt, und zwar der „Ungleichzeitigkeit“ von Systemwechseln auf der einen und Mentalitätsänderungen auf der anderen Seite. Im Normalfall – sieht man von den Gegnern des jeweiligen Systems ab – gehen die Systembrüche voran, die lebensgeschichtlichen Brüche und die Mühen der Orientierungssuche folgen nach. Bloch hatte seine Theorie zur Anfangszeit des Nationalsozialismus entwickelt, und sie wurde eine wichtige Kategorie zur Erklärung des Nationalsozialismus und auch der Nachkriegszeit in Deutschland. Bloch meinte in dieser komplexen Theorie, vergröbert dargestellt, dass in der Gegenwart „unerledigte Vergangenheit“ und darin eingekapselte „Schlupf- und Wetterwinkel irrationaler Art“ wirkten, quasi unpassend zu den Neuerungen der Jetzt-Zeit. Er spricht von „unerledigter Vergangenheit“ und „gestauter Wut“, weil er besonders erstere nicht nur als einfache Rückständigkeit, sondern auch als noch nicht gewordene, aber erhoffte Zukunft begreift. Die „gestaute Wut“ konnten wir in unterschiedlicher Schärfe in der deutschen Nachkriegszeit, wie auch überall in Ostmittel- und Osteuropa im früheren sowjetischen Hegemonialbereich erleben, aber nicht nur gegen das alte System, sondern auch gegen das unvertraute und unvollkommene Neue. Denn der Systembruch bedeutete nicht nur Befreiung, sondern auch die Verhinderung einer subjektiv geplanten, aber noch nicht gewordenen Zukunft. Das war und ist durchaus ambivalent und konnte von Beginn an auch das Neue in Frage stellen …


Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den ich 15.6.2009 in Wien im Institut für die Wissenschaft vom Menschen hielt. Der Charakter eines freien mündlichen Vortrags ist zwar verändert worden, konnte aber nicht ganz bereinigt werden. Er fußt auf meinem Buch Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel, Berlin (und Bonn bei der Bundeszentrale für politische Bildung) 2002/2003 und basiert auch auf einem Vortrag auf der Veranstaltung der BStU am 30. Mai 2009 in Berlin. Angesichts der Kürze des Vortrags können natürlich nur einige Fragen und Thesen zu diesem umfangreichen Thema vorgestellt werden.

Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit, München 1998, Dok. Nr, 232, S. 616 ff. (DzD).

Teltschik im Interview am 27.9.2000.

Vgl. zu allen Angaben mein Buch Die Vereinigung Deutschlands. Ein weltpolitisches Machtspiel, Berlin (und Bonn bei der Bundeszentrale für politische Bildung) 2002. Dieser Beitrag hier stützt sich auf die Akten des Gorbatschow-Archivs, des Bundesministers des Auswärtigen, des Kanzleramts der deutschen Bundesregierung und auf die Akten der DDR-Führung; außerdem auf Befragungen beteiligter Protagonisten und zumindest von deutschen Oppositionellen.

Vgl. zu dieser Episode Plato, a.a.O., S. 52 ff.

Dort war am 23. August die „Menschenkette für Freiheit und Unabhängigkeit“ bereits geschlossen worden.

Michail S. Gorbatschow, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 934 f.

In einem Brief vom 6. März 2001 an mich.

Das Erschrecken Gorbatschows wird auch deutlich im deutschen Protokoll des Gesprächs zwischen Krenz und ihm: „Steht es wirklich so schlimm?“ oder „So prekär habe ich mir die Lage nicht vorgestellt“. Heißt es dort. (SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.039/319, Bl. 128-169, hier Bl. 142.).

Nach dem sowjetischen Protokolls: Gorbatschow-Stiftung, 89NOV01 – auch das „lebhaft“ ist dort dokumentiert.

Zitiert nach den Mitschriften der Politbüro-Sitzung vom 3.11.1989 vom 3.11.1989, Bl. 589 ff.

Philip Zelikow und Condoleezza Rice: Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997, S. 58. Die amerikanische Ausgabe war bereits zwei Jahre früher erschienen.

Scowcroft sagte: „Im Wesentlichen, denke ich, war es Gorbatschow, der wundervolle Worte dazu gesagt hat. Aber zu dem Zeitpunkt, Anfang 1989, waren diesen Worten noch keine Taten gefolgt. In Mittel- und Osteuropa galten noch die Regeln des Kalten Krieges. Was wir also sehen wollten, waren Taten, die diese Strukturen zerschlugen. Und das entscheidende Ziel war natürlich die Wiedervereinigung Deutschlands und Berlins, denn dies würde ein klares Zeichen setzen, dass der Kalte Krieg beendet sei.“ (Interview mit mir am 14.9.1999.

Bushs Rede in der Rheingold-Halle nach Zelikow/Rice 1997, S. 62.

Im Gespräch mit mir am 14.9.1999.

Diese Formulierung verursachte bei Premierministerin Margaret Thatcher „ungewollte Unruhe. (…) Thatcher verstand das so, als ob wir die besondere Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien in Frage stellen wollten. Sie hätte sich aber keine Sorgen zu machen brauchen.“ Scowcroft in : George Bush und Brent Scowcroft, Eine neue Welt. Amerikanische Außenpolitik in Zeiten des Umbruchs, Berlin 1999, S. 61

Plato, a.a.O., S. 21.

Diesen Begriff wurde in der engsten Umgebung von Vertrauten und Beratern benutzt, so von Georgi Schachnasarow: Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gorbatschows Berater, Bonn 1996, oder auch von Alexander Jakowlew, ebenfalls ein Berater Gorbatschows, (Plato, a.a.O., S. 206).

Heinz Keßler im Gespräch mit Hans-Christoph Blumenberg 1999 (Plato, a.a.O., S. 70).

Interview Hans-Christoph Blumenberg mit Fritz Streletz 1999 (Plato, a.a.O., S. 70).

Gorbatschow-Stiftung, 89DEC05. Diesen Satz zitiert Hans-Dietrich Genscher nicht in seinen Memoiren, ebenso wenig wie andere zugespitzte Äußerungen. Dass er dies damals nicht tat, um Situation zu entschärfen, ist verständlich. Warum er dies noch Jahre nach der Wiedervereinigung nicht wiedergibt, ist kaum nachvollziehbar – möglicherweise aus persönlicher Rücksichtnahme gegenüber Schewardnadse und Gorbatschow.

Gorbatschow-Stiftung, 89DEC06.

Plato, a.a.O., S. 138.

Gorbatschow-Stiftung, 90Feb9b. Vgl. auch Plato, a.a.O., S. 240 ff.

Gespräch des Ministerialdirigenten Teltschik mit dem Berater der Abteilung für internationale Beziehungen des Zentralkomitees der KPdSU, Portugalow, Bonn, 28.März 1990, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit, München 1998, Dok. Nr, 232, S. 981 ff.

Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1934.

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