Von gut und böse redet niemand mehr, der intellektuell etwas auf sich hält. Von Werten reden heute alle. Parteien debattieren über Grundwerte, Verfassungen werden als Wertordnungen verstanden. Und ob wir in einem Zeitalter des Werteverfalls oder des Wertewandels leben, wird landauf, landab erörtert. Die Kirchen empfehlen sich der Gesellschaft weniger durch den Anspruch, den Willen Gottes kundzutun und die Auferstehung von den Toten zu bezeugen, als durch das Angebot, die Gesellschaft durch Wertevermittlung zu stabilisieren und der Jugend Wertorientierung zu geben. Die NATO soll nach Ansicht des englischen Premierministers nicht mehr Territorien, sondern Werte verteidigen. Sie soll die westliche Wertegemeinschaft schützen und neuerdings auch zu deren offensiver Ausbreitung beitragen.
Der Rede von Werten, der Berufung auf Werte haftet eine tiefe Zweideutigkeit an. Sie ist entweder trivial oder gefährlich. Oder besser: sie ist trivial und gefährlich zugleich – und gefährlich ist sie wegen ihrer Zweideutigkeit. Trivial ist sie insofern, als natürlich jeder Gesellschaft gewisse Wertschätzungen gemeinsam sind. Der Bestand an solchen Gemeinsamkeiten in dem, was wir schätzen und was wir verabscheuen, ist in den modernen, hochentwickelten Gesellschaften im Vergleich zu älteren Lebensordnungen sehr geschrumpft. Man kann, wenn man will, denselben Tatbestand auch positiv ausdrücken und sagen, die Vielfalt an Lebensformen, Überzeugungen und Wertschätzungen habe zugenommen. Wir sprechen dann von Pluralismus, ein Begriff, der eher positive Konnotationen hat. Aber auch in pluralistischen Gesellschaften gibt es einen unverzichtbaren Bestand an Gemeinsamkeiten. Dieser Bestand muss nicht unbedingt eine gemeinsame Sprache im linguistischen Sinn einschließen. Die Schweiz z.B. hat drei, inzwischen sogar vier offizielle Sprachen. Aber in einem anderen, nichtlinguistischen Sinn hat sie sehr wohl eine gemeinsame Sprache. In dem Sinne nämlich, dass die Menschen unter denselben bzw. den entsprechenden Worten ungefähr dasselbe verstehen. Dazu gehört auch, dass es ein gewisses gemeinsames Repertoire an Assoziationen gibt, das sich mit öffentlich wichtigen Begriffen verbindet. Mehr als linguistische Unterschiede erschweren zu große ideologische Differenzen diese Gemeinsamkeit und damit die Möglichkeit der Verständigung. Die Gemeinsamkeit an Assoziationen beruht auf einem gemeinsamen Fundus von Erinnerungen. In der Familie gibt es das „Weißt du noch…”, das alle in ein gemeinsames Gespräch zieht. Auch Nationen haben einen solchen Bestand. Auf ihm beruhen z.B. öffentliche Feste. Eine radikal pluralistische Gesellschaft kann kaum mehr gemeinsame Feste feiern. Das ist ein großer Verlust. Man muss sich klar machen: der Pluralismus hat seinen Preis. Und der Preis, den der totale Pluralismus verlangt, ist zu hoch. Er würde jede Hochkultur zerstören und das Zusammenleben von Menschen unmöglich machen. Es sind allerdings nun ganz bestimmte Wertschätzungen, deren Gemeinsamkeit in einer pluralistischen Gesellschaft unverzichtbar ist. Dazu gehört einerseits die Wertschätzung der Toleranz, also der Bereitschaft, Menschen auch dann zu achten und in ihre Sphäre persönlicher Freiheit nicht einzugreifen, wenn ihre Überzeugungen, Wertschätzungen und Lebensformen von den eigenen abweichen. Diese Achtung findet ihren Ausdruck im Recht, in einer freiheitlichen Rechtsordnung. Es ist das Recht, das den Einzelnen bis zu einem gewissen Grad unabhängig macht von der freiwilligen Achtung und Toleranz, ja sogar vom Gewissen seiner Mitmenschen, indem es die Respektierung dieser Freiheitssphäre erzwingt. Jede Rechtsordnung ist eine Zwangsordnung. Nur so kann sie die Freiheit eines jeden garantieren. Die Gesetze erzwingen Gehorsam auch von denen, die ihnen nicht zustimmen. Das klingt unfreundlich, aber man kann dasselbe auch freundlich ausdrücken und sagen: die Gesetze des modernen Rechtsstaats schreiben nicht vor, dass man den Wertschätzungen zustimmt, die ihnen zugrundeliegen.
Das war die große Errungenschaft am Ende der konfessionellen Bürgerkriege in Europa, in denen es um die geistigen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens ging, also um die Wahrheit. Übereinstimmung in religiösen Wahrheitsfragen konnte nicht mehr Grundlage der rechtlichen Friedensordnungen sein. An die Stelle trat das Prinzip, das Thomas Hobbes lapidar so formulierte: „Non veritas sed auctoritas facit legem”. Hobbes hatte die Autorität eines absoluten Monarchen im Auge. Aber der Satz gilt genauso für demokratische Autoritäten, die von der Mehrheit gewählt wurden. Die Legitimität ihrer Entscheidungen beruht nicht auf deren Richtigkeit, sondern auf der Legitimität des Verfahrens, mittels dessen sie zustande kommen. Die Unanfechtbarkeit verfahrensmäßig zustande gekommener Letztentscheidungen ist nicht ein aus sich heraus einleuchtender Selbstzweck. Dahinter steht vielmehr ein elementares Interesse, eine Wertschätzung, nämlich das Interesse am Rechtsfrieden, der wiederum Bedingung des „Landfriedens” innerhalb eines Gemeinwesens ist. Die Alternative wäre nämlich, dass Parteien, die sich in ihren Rechten verletzt fühlen, sich das, was ihnen ihrer Ansicht nach zusteht, mit Gewalt holen, bzw. dass sie das, was ihrer Ansicht nach durch das Gemeinwohl gefordert ist, mit Gewalt gegen diejenigen durchsetzen, die eine gegenteilige Überzeugung besitzen. Dem Gewaltmonopol des neuzeitlichen Staates liegt eine überragende Wertschätzung des innerstaatlichen Friedens zugrunde. Was aber ist mit denen, die diese Wertschätzung nicht teilen? Also z.B. mit Integralisten – ich gebrauche nicht das Wort „Fundamentalisten”, das etwas ganz anderes, nämlich etwas Unschuldiges und manchmal sogar sehr Schätzenswertes meint -, was ist mit den Integralisten, die keinen Frieden akzeptieren, der nicht gegründet ist auf allgemeine Anerkennung dessen, was sie für die Wahrheit halten? Was ist mit Menschen, die den Kampf der Tyrannei vorziehen? Was ist mit Revolutionären, die, um mit Bertolt Brecht zu reden, beschlossen haben, ihr „schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod”? Was ist mit jenen Gegnern der Toleranz, die, wie seinerzeit Herbert Marcuse, die Toleranz selbst repressiv nennen? Was ist mit denen, die bestehende Ungerechtigkeiten „strukturelle Gewalt” nennen, um damit offene Gewalt zu rechtfertigen? Was ist mit denen, die die Beseitigung eben jener Bürgerfreiheit zum Programm erheben, die ihr eigenes Wirken ermöglicht?
Aufgrund der Erfahrung mit der legalen Machtergreifung der Nationalsozialisten hat die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland das Demokratieprinzip durch Grundrechte eingeschränkt, die der Mehrheitsentscheidung entzogen sind. Und es wurde gleichzeitig die Möglichkeit eingeführt, bestimmte Parteien durch Verbot aus dem Kreis der wählbaren Alternativen auszuschließen, solche Parteien nämlich, die auf die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung in ihrem zentralen rechtsstaatlichen Bestand hinarbeiten. Die Übereinstimmung der Gesetze mit der Verfassung und die Vereinbarkeit von Verfassungsänderungen mit den Grundrechten kontrolliert das Bundesverfassungsgericht. Und auch nur dieses Gericht kann über ein Parteienverbot entscheiden. Es hat seinerzeit die Kommunistische Partei Deutschlands verboten, nicht jedoch deren Nachfolgerin, die Deutsche Kommunistische Partei. Am 8. November 2000 beschloss die Bundesregierung, ein Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands zu beantragen; Bundestag und Bundesrat schlossen sich an.
Wenn ich von der Gefährlichkeit der Rede von der Wertegemeinschaft spreche, dann möchte ich den Blick lenken auf die Tendenz, die Rede von Grundrechten allmählich mehr und mehr zu ersetzen durch die Rede von Grundwerten. Mir erscheint dies in keiner Weise harmlos. Zwar ist es, wie ich zu Beginn sagte, natürlich so, dass der Kodifizierung von Rechten und Pflichten durch eine Verfassung Wertungen, Wertschätzungen zugrundeliegen. Und es ist wichtig, dass in einem Gemeinwesen solche tragenden Wertschätzungen öffentlich gestützt und weitergegeben werden. Die Situation eines Landes wie Algerien ist nicht wünschenswert. Dort wurde der Mehrheitswille durch eine Militärdiktatur an seiner Verwirklichung gehindert, weil dieser Mehrheitswille eben gerade nicht westliche Demokratie, sondern islamisches Recht will. In dieser Situation gibt es nur die Wahl zwischen zwei verschiedenen Diktaturen, einer traditionellen und demokratischen auf der einen Seite, einer emanzipatorischen Minderheitendiktatur auf der anderen. Ein auf allgemeinem Wahlrecht beruhender, durch Grundrechte eingeschränkter Parlamentarismus kann nur existieren, wenn die Mehrheit des Volkes das will. Aber eben dies kann durch die Institutionen des Rechts zwar gefördert, nicht aber garantiert werden. Wenn der Staat dies garantieren will, dann muss er selbst zu dem werden, was er gerade ausschließen soll, zu einer Gesinnungsdiktatur, oder, wie es heute euphemistisch heißt, einer „Wertegemeinschaft”.
Ehe ich einige grundsätzliche Bemerkungen zu der Gefahr mache, die von dem Selbstverständnis des künftigen Europa als Wertegemeinschaft ausgeht, möchte ich an einigen Beispielen erläutern, was ich meine. Das Dritte Reich war zweifellos eine Wertegemeinschaft, sie nannte sich „Volksgemeinschaft”. Die damals als die höchsten betrachteten Werte: Nation, Rasse, Gesundheit standen allemal über dem Recht, und der Staat war, ähnlich wie im Marxismus, nur eine Agentur dieser höchsten Werte. Darum stand die Partei, die den Werten unmittelbar verpflichtet war, im Zweifelsfall immer über dem Staat. Nun gibt es gewiss immer wieder Situationen, in denen Bürger den Gehorsam gegen ein Gesetz verweigern, weil dieses Gesetz ihren Überzeugungen von fundamentalen Rechten des Menschen widerspricht. Wo aber die Staatsgewalt sich unter Berufung auf höhere Werte für legitimiert hält, Menschen an etwas zu hindern, was zu verbieten ihr kein Gesetz erlaubt, da ist Gefahr im Verzug.
Hier also fünf Beispiele für diese Gefahr, drei aus der innerstaatlichen Praxis europäischer Länder, das vierte aus der europäischen Innenpolitik, das fünfte aus der europäischen Außenpolitik.
1. Seit einigen Jahren hat ein Begriff in die politische Sphäre Einzug gehalten, der dort von Rechts wegen nichts zu suchen hat: der Begriff der „Sekte”. „Sekte” ist ein negativ besetzter Ausdruck, mit dem traditionelle christliche Kirchen kleinere christliche Gemeinschaften bezeichnen, die sich von diesen Kirchen aus Gründen des Glaubensbekenntnisses oder der religiösen Praxis abgespalten haben. In der Sprache der staatlichen Rechtsordnung hat dieser Begriff eigentlich nichts verloren. Jeder Zusammenschluss von Bürgern aufgrund gemeinsamer Überzeugungen muss dem Staat gleich gelten, solange er nicht gegen die für alle geltenden Gesetze verstößt oder zu solchem Verstoß auffordert. Das ist aber leider nicht mehr der Fall. Sekten werden unter staatliche Beobachtung gestellt, es wird von Staats wegen vor ihnen gewarnt, und ihre Mitglieder werden von öffentlichen Ämtern möglichst ferngehalten. In dem neuen politischen Verständnis sind Sekten Gemeinschaften, die sich durch gemeinsame Überzeugungen definieren, Überzeugungen, die von denen der Mehrheit der Bürger oder der politischen Klasse abweichen. Kriterium für den Sektencharakter einer Gruppe ist ferner, dass sie für ihre Überzeugung missionarisch wirbt, und schließlich dass sie einen starken Binnenzusammenhalt besitzt, oft auch eine strenge hierarchische Struktur sowie manchmal eine charismatische Persönlichkeit an ihrer Spitze. Da all diese Kriterien vage sind und da es in liberalen Staaten bisher nicht verboten ist, solchen Gemeinschaften anzugehören, ist die Aufnahme in den Katalog der Sekten eine Ermessensfrage für die Inhaber des öffentlichen Interpretationsmonopols, und ihre Verfolgung geschieht in der Regel durch informellen Druck, vor allem durch Diskriminierung ihrer Mitglieder. Warum kann ein Staat etwas gegen Sekten haben? Nur darum, weil er anfängt, sich selbst als „Gemeinschaft”, als Wertegemeinschaft zu verstehen, als Großkirche, die Dissidentengemeinschaften ausschließt. Als einen der drei höchsten Werte, zu deren Verinnerlichung jeder Bürger verpflichtet sein soll, bezeichnete der französische Staatspräsident unlängst die Toleranz. Toleranz gegen Anderssein ist wertvoll, weil Selbstsein, Identität es wert ist, respektiert zu werden. Toleranz bedeutet Geltenlassen von Anderssein, ethnischem, kulturellem, sexuellem oder überzeugungsmäßigem Anderssein. Toleranz ist ein hoher Wert, weil er in der Würde menschlichen Selbstseins gründet. Ich kann Achtung verlangen vor meiner Überzeugung auch von dem, der sie für falsch hält, weil die Achtung nicht dem Inhalt meiner Überzeugung, sondern mir gilt, der ich mich mit ihr identifiziere. Wenn der Andere die Überzeugung für schlecht hält, wird er, wenn er mir wohl will, versuchen, sie mir auszureden. Wir werden streiten und uns gleichzeitig tolerieren. Die Verankerung der Toleranz in der Überzeugung von der Würde der Person ist eine solide Verankerung. Wo hingegen Toleranz zum höchsten Wert stilisiert wird, wo sie selbst an die Stelle der Überzeugungen tritt, die zu respektieren sind, da wird sie grundlos und hebt sich selbst auf. Die Forderung, andere Überzeugungen zu achten, wird zur Forderung, keine Überzeugungen zu haben, aufgrund deren man gegenteilige für falsch hält und die man nicht als Hypothese zur Disposition zu stellen bereit ist. Überzeugungen also, die man auch anderen nahezubringen versucht und aufgrund deren man anderen die ihrigen auszureden versucht. Überzeugungen zu haben, ist dann bereits Intoleranz. Die Toleranzforderung verwandelt sich in eine intolerante Dogmatisierung des Relativismus als der herrschenden Weltanschauung, die den Menschen schrankenlos disponibel macht für jede Art von kollektiver Zumutung. Das Schlagwort, das man für Überzeugungen bereithält, lautet: „Fundamentalismus”. John Rawls, der des Fundamentalismus sicher unverdächtig ist, hat unlängst betont, dass ein Satz wie „Außerhalb der Kirche ist kein Heil” überhaupt nicht im Gegensatz stehen muss zu einer liberalen Gesellschaft, solange nämlich nicht versucht wird, Menschen mit Hilfe des staatlichen Arms zu ihrem Heil zu zwingen. Die christlichen Kirchen sind schlecht beraten, wenn sie ihre Sektenkritik mit der staatlichen verbinden und sich nicht schützend vor diese Gruppen stellen, auch wenn sie deren Überzeugungen für falsch halten. Wenn sie selbst weiter wie bisher schrumpfen, ist es ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis sie selbst öffentlich als Sekten wahrgenommen werden. Dass die gegenwärtige Katholische Kirche eine Großsekte sei, kann man bereits bei Hans Küng lesen, und wenn man die eben genannten Kriterien zugrunde legt, ist das nicht einmal falsch. Man schilt sie ja seit je intolerant, weil sie sich selbst durch bestimmte Glaubensüberzeugungen definiert. Sie kann und will seit langem für die Durchsetzung dieser Überzeugungen nicht mehr den staatlichen Arm bemühen. Aber nun beginnt der staatliche Arm von sich aus, sich eine Zivilreligion zuzulegen. Die europäischen Rechtsordnungen gründeten zwar selbst in bestimmten Überzeugungen, vor allem in der von der Würde der Person, und eben deshalb verzichteten sie darauf, Überzeugungen oder deren Verwerfung zur Pflicht zu machen. Die mühsam erworbene Errungenschaft des liberalen Rechtsstaats wird wieder preisgegeben, wenn der Staat sich als Wertegemeinschaft versteht, auch wenn es eine „liberale” Wertegemeinschaft ist, die Liberalismus als Weltanschauung statt als Rechtsordnung versteht. Die Sektenverfolgung ist ein ziemlich sicherer Indikator für die hier drohende Gefahr, die Gefahr eines liberalen Totalitarismus.
2. Ein weiterer Indikator ist, wenn staatliche Institutionen aufgeboten werden, um bestimmte verfassungskonforme politische Positionen öffentlich zu ächten. Dies geschah am 9. November 2000 in Deutschland. Schon Anfang der siebziger Jahre gab es Versuche, linke, sozialistische Positionen dadurch zu diskriminieren, dass man sie für die gewaltsamen Formen ihrer Durchsetzung verantwortlich machte und in Verbindung mit dem damaligen Terrorismus brachte. Diese Versuche blieben vereinzelt und erfolglos, obgleich angesehene Publizisten damals tatsächlich nicht selten ungesetzliche Gewalt zu rechtfertigen suchten. Heute kann von etwas Ähnlichem nicht die Rede sein. Dennoch versucht man in Deutschland – sehr im Unterschied z.B. zur Schweiz – eine öffentliche Diskussion um die Frage der Zuwanderung von Ausländern dadurch zu verhindern, dass restriktive Positionen oder gar ein ethnisch-kulturelles Selbstverständnis der Nation als unanständig tabuisiert und mit den Gewalttätigkeiten gegen Ausländer in Beziehung gebracht werden. Das Selbstverständnis eines Staates soll nicht dem Risiko eines demokratischen Diskurses ausgeliefert werden. Dass so etwas in der politischen Auseinandersetzung geschieht, muss man hinnehmen. Gefahr ist nicht in Verzug, wenn Demonstrationen „gegen rechts” stattfinden. Gefahr ist in Verzug, wenn der Staat bis hin zum deutschen Bundespräsidenten diese Kundgebungen organisiert oder ihnen höhere Weihen gibt. Außerdem ist es ein Offenbarungseid staatlicher Ohnmacht. Das Mittel des Staates gegen Gesetzlosigkeit und Gewalt – von Inländern gegen Ausländer und von Ausländern gegen Inländer – ist die Polizei; darüber hinaus besteht es in der staatsbürgerliche Erziehung, die den Respekt vor rechten und linken Positionen vermittelt sowie die Ablehnung von Gewalt, wie immer diese sich rechtfertigen mag. Der Staat als „Bündnis gegen Rechts”- das ist die Wertegemeinschaft anstelle des Staates, und hier müssen die Alarmglocken läuten.
3. Das dritte Beispiel hängt eng mit dem zweiten zusammen. Der Staat kann sich unter der Hand seiner Neutralitätspflicht entledigen, indem er staatliche Institutionen privatisiert, in denen er gleichwohl als Mehrheitsgesellschafter das Sagen behält, und er kann dann diese Position zur Diskriminierung missliebiger Organe gebrauchen. Wir haben das neulich in Deutschland erlebt, als die deutsche Postbank der Wochenzeitung Junge Freiheit die Konten kündigte, weil die Zeitung vom Verfassungsschutz beobachtet werde. Dazu muss man sagen: Es handelt sich um eine intellektuelle rechtskonservative Zeitung ohne extremistische Züge, ohne Neigung, die nationalsozialistische Herrschaft schönzureden oder zu verharmlosen, und ohne Demagogie, die das Maß des in seriösen Zeitungen Üblichen überschreitet. Interviewpartner waren die zweite Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Deutschland, sozialdemokratische, christdemokratische, liberale und grüne Politiker, auch einmal ein Politiker der rechtsradikalen Szene; ich selbst übrigens auch einmal. Der Versuch, die Zeitung wegen mangelnder politcal correctness zu erdrosseln, ist übrigens am Bürgerengagement gescheitert: Vom ehemaligen Generalbundesanwalt über den Herausgeber des Focus bis zu politisch wachsamen Bürger der meisten politischen Richtungen kam ein so massiver öffentlicher Protest, dass der Boykott wieder aufgehoben wurde. Aber schon der Versuch ist es, der zur Wachsamkeit Anlass gibt.
4. Die Quarantäne, die über Österreich verhängt wurde, ist ein weiteres Indiz. Asylantenheime brannten in Deutschland, Immigranten wurden gejagt in Spanien, Neonazis demonstrierten in Schweden, die britische Regierung unterdrückte jahrelang die Erforschung des Zusammenhangs zwischen Rinderseuche und Gehirnerkrankungen des Menschen und schleuste infiziertes Fleisch auf den Kontinent, die Niederlande rehabilitieren Schritt für Schritt – nicht verbal, aber faktisch – die nationalsozialistische Euthanasiepraxis, und in Israel ist eine Partei an der Regierung beteiligt, die den „freiwilligen Transfer der Araber aus Judäa und Samaria” beschleunigen will durch Schließung der dortigen Hochschulen, Einstellung der Industrieförderung und Aussperrung von arabischen Arbeitsuchenden in Israel. Nichts dieser Art geschah in Österreich. Und von dem Minderheitenstatus der Slowenen in Kärnten können die Minderheiten in Frankreich nur träumen. Aber darauf kam es gar nicht an. Es ging überhaupt nicht um Rechte und deren Verletzung, sondern um Werte und deren verbale Artikulation. Es ging um political correctness. Es ging darum, dass eine ordnungsgemäße Regierungsbildung in Wien nicht wegen einiger unverantwortlicher verbaler Entgleisungen eines beteiligten Parteipolitikers unterblieb. Zwar trug in diesem Fall nach einem Gutachten dreier „Weiser” das Recht glücklicherweise den Sieg über die Wertegemeinschaft davon, was übrigens die deutsche Bundesregierung nicht daran hinderte, mit der Ächtung des Nachbarn noch eine Weile fortzufahren. So etwas wie gemeinsame Wertschätzungen ins Spiel zu bringen, ist so lange in Ordnung, wie es sich um Fragen der Zuwanderung in einen Staat handelt. Da es keinen Rechtsanspruch darauf gibt, ist kein Staat gegenüber den Bewerbern für seine Auswahlkriterien rechenschaftspflichtig. Jede „Ausgrenzung”, sei es aus Gründen der Religion, des Berufs, der Nationalität oder des Vermögens, ist hier prinzipiell erlaubt. Es gibt kein Menschenrecht auf Bürgerrecht in jedem Land. Wohl aber ist es nach europäischer Rechtsauffassung unzulässig, Bürgerrechte aus einem dieser Gründe zu entziehen oder einzuschränken. Die allgemeine Hinnahme der Diskriminierung der Juden 1933 in Deutschland war – darauf hat Ernst-Wolfgang Böckenförde hingewiesen – Bürgerverrat: Es handelte sich bei denen, deren wirtschaftliche und berufliche Betätigung damals eingeschränkt wurde, um deutsche Staatsbürger. Eben dieses innerstaatliche Diskriminierungsverbot aber wird seit einiger Zeit im Namen unserer „Wertegemeinschaft” immer wieder ausgehebelt oder unterlaufen.
5. Das fünfte Beispiel ist der Kosovo-Krieg. Es lässt ahnen, was auf uns zukommt. Dieser Krieg wurde bekanntlich geführt im Namen „unserer Werte”. Nun dient ein Interventionskrieg zur Verhinderung der Vertreibung eines ganzen Volkes aus seiner Heimat zweifellos einer „gerechten Sache”. (Man wundert sich allerdings, dass der deutsche Außenminister erst anlässlich dieses Falles die Entdeckung machte, dass es Angriffskriege zugunsten einer gerechten Sache gibt.) Mit dem geltenden Völkerrecht war die Führung eines solchen Krieges allerdings unvereinbar, worauf u.a. Henry Kissinger und Helmut Schmidt hingewiesen haben. Das Völkerrecht erkennt nur noch den Verteidigungskrieg gegen Angriffe auf das eigene Territorium oder das Territorium verbündeter Staaten an. Was deshalb Anlass zu Bedenken gibt, ist, dass der neue Sachverhalt nicht etwa zu einer Revision der völkerrechtlichen Ächtung des Angriffskriegs führt – durch präzise Definition anerkannter Rechtfertigungsgründe für einen solchen – sowie zur Kündigung der entgegenlautenden bisherigen Verträge. Die „Werte”, um die es ging, ermächtigten vielmehr diejenigen, die in ihrem Namen handelten, die geltenden Rechtsnormen einfach zu ignorieren. Auch hier wieder: wer im Namen der Wertegemeinschaft handelt, steht über dem Recht. Man nannte das einmal Totalitarismus.
Ich möchte im Folgenden einige Bemerkungen machen über die Gründe dieser Entwicklung. Einer dieser Gründe, und wahrscheinlich der entscheidende, liegt in dem sich ausbreitenden Werterelativismus und Skeptizismus. Das klingt paradox, weil es sich doch dem Anschein nach um eine Form des Wertabsolutismus handelt, also der Verabsolutierung der eigenen Wertschätzungen. Ich muss deshalb erklären, was ich meine. Es war vor allem Nietzsche, der den Begriff des Wertes in den philosophischen Diskurs eingeführt hat, und zwar in kritischer, entlarvender Absicht. Entlarven wollte er die europäische, in ihrem Grund platonisch-christliche Moral als einen Versuch der von Natur weniger Begünstigten, der Schwächeren, zu kurz Gekommenen, auf einem Umweg doch an die Macht zu gelangen, nämlich durch die Abwertung eben jener Qualitäten, an denen es ihnen selbst fehlt. Nietzsche sprach in diesem Zusammenhang von Ressentimentmoral. Hinter allen moralischen Normen stehen elementare Wertungen. Worum es den Wertenden selbst letzten Endes geht, ist Macht. Sie ist sozusagen der höchste Wert. Und jede Menschenart prämiert diejenigen Eigenschaften und Tätigkeiten, die ihr zur Macht zu verhelfen versprechen. Max Scheler, dieser geniale Außenseiter der phänomenologischen Schule hat Nietzsches Idee einer Ressentimentmoral, einer Umwertung der Werte durch den Willen der Schwachen zur Macht, aufgegriffen, ihn aber phänomenologisch vertieft. Die christliche Liebeslehre ist für ihn Ausdruck äußerster Kraft und Souveränität, während auf die neuzeitliche bürgerliche Moral Nietzsches Charakterisierung der Ressentimentmoral zutrifft. Was Scheler aber vor allem gezeigt hat, ist, dass so etwas wie Werte aus menschlichen Wertschätzungen so wenig ableitbar sind wie Zahlen aus dem Rechnen. Zahlen liegen dem Rechnen zugrunde, nicht umgekehrt. Werte den Wertschätzungen, und nicht umgekehrt. Das kann man sich am besten deutlich machen am Beispiel des Wertes des Nützlichen. Das Nützliche ist ein Wert, der relativ ist in Bezug auf alles Lebendige. Es gibt das, was dem Lebendigen zuträglich ist, wodurch es gefördert und erhalten wird, und es gibt das Schädliche als dessen Gegenteil. Nun liegt auf der Hand, dass es keinesfalls Sache irgendwelcher subjektiver Wertungen ist, was einem Menschen nützt und was ihm schadet. Das Nützliche entspringt nicht irgendeiner Wertung, sondern die Wertung bzw. Wertschätzung bezieht sich auf das Nützliche und muss ihm bei Strafe des Untergangs entsprechen. Wer etwas Schädliches für nützlich hält oder wer glaubt, den Wert des Nützlichen überhaupt leugnen zu können, der wird die Wertstruktur schmerzlich zu fühlen bekommen. Wer aber das Nützliche höher schätzt als den Wert der Schönheit, des Mutes oder der aufopfernden Liebe einer Mutter, der ist aus irgendeinem Grund blind gegen bestimmte objektive Qualitäten. Er kennt sie einfach nicht. So wenig wie jemand die Zahl 230 kennt, wenn er behauptet, diese Zahl sei kleiner als die Zahl 124.
Man kann darüber streiten, ob es zweckmäßig war, für das, was die klassische Philosophie das Gute nannte, den Begriff des Wertes einzuführen, weil dieser Begriff gewisse subjektivistische Assoziationen bei sich führt. Die klassische philosophische Tradition kannte das Axiom ens et bonum convertuntur, d. h. die Begriffe des Seins und des Guten haben die gleiche Extension. Die neuzeitliche Naturwissenschaft hat Sein nur noch als pures Vorhandensein verstanden. David Hume hatte daraus gefolgert, dass aus Seinsurteilen nie so etwas wie Sollensurteile ableitbar seien. Das stimmt natürlich nicht. Jemand, der zu mir sagt: „Gib mir etwas zu essen!” und auf meine Frage „Warum?” antwortet: „Ich habe Hunger und kein Geld, mir etwas zu kaufen”, hat einen guten Grund genannt, und es wäre zynisch, unter Berufung auf Hume zu antworten: „Dass du Hunger und kein Geld hast, habe ich verstanden. Aber wieso folgt aus dieser Tatsachenfeststellung, dass ich dir etwas zu essen oder Geld geben sollte?” Der Wertbegriff kompensiert sozusagen die Wertentleerung des Seinsbegriffs, indem das wieder hinzugefügt wird, was zuvor weggenommen wurde. Man kann hier aber auch positiv von einem Ausdifferenzierungsprozess sprechen, in dem Strukturen des Guten entdeckt werden, die zuvor verborgen waren.
Herrschend ist aber heute nicht die Einsicht in die objektive Struktur und Rangordnung des Wertvollen, sondern ein kulturrelativistischer Wertsubjektivismus. Es handelt sich hier um eine eigentümliche Dialektik: Absolute Wahrheiten, unbedingte Einsichten gelten in unserer Zivilisation als intolerant und als Gefährdung unserer Wertordnung. Aber für diese Wertordnung wird nun gerade absolute Geltung verlangt. Diese Geltung aber ist rein voluntaristisch. Wir machen universelle Menschenrechte geltend und haben gleichzeitig das schlechte Gewissen, eurozentrisch zu sein, wenn wir dies tun. Tatsächlich ist der Wertskeptizismus das eigentlich Eurozentrische. Es gibt ihn in keiner anderen Zivilisation. Der Begriff der Wertegemeinschaft ist nun, so behaupte ich, Ausdruck dieses Relativismus. Der deutsche Bundespräsident war vor einiger Zeit in China und mahnte dort als eine Art Pflichtübung die Menschenrechte an, indem er sich gleichzeitig quasi entschuldigte: das Bestehen auf den Menschenrechten gehöre nun einmal zu unserem Werteverständnis. Die Chinesen nahmen das mit höflicher Distanz zur Kenntnis, indem sie diese Selbstrelativierung aufgriffen und erklärten: „Ja, so ist es. Sie bringen die Werte Ihrer Kultur zum Ausdruck, aber wir haben eben eine andere Kultur”. Damit ist das Gespräch beendet, wenn es sich um ein fernes und mächtiges Land handelt. Wenn das Land näher liegt und schwächer ist, kann man es mores lehren. Aber dieses mores lehren heißt nun nicht, unterdrückten Menschen zu Hilfe kommen, sondern es heißt: unsere Werte durchsetzen. Der Begriff der Wertegemeinschaft ist ein wertrelativistischer Begriff, und er ist deshalb so gefährlich. Er läuft darauf hinaus, dass das Gute entweder relativ ist oder aber, dass wir die Gemeinschaft der Guten sind. Das dahinter stehende Wertverständnis ist voluntaristisch. Wir schätzen diese und jene Verhaltensweisen, und nur wer sie auch schätzt, gehört zu uns. Und wer sie nicht schätzt, der wird etwas erleben. Keine Gesellschaft bringt den ganzen Reichtum und die objektive Rangordnung der Werte adäquat zum Ausdruck. Max Scheler war selbst nicht nur Phänomenologe, sondern auch Soziologe und er schrieb einmal, dass der Utilitarismus die eingestandene subjektive Wertrangordnung der bürgerlichen Gesellschaft ist, tatsächlich aber allen gesellschaftlichen Moralen zugrunde liegt, obwohl jeder einsehen kann, dass Personenwerte wie der des Heiligen den Nützlichkeitswerten übergeordnet sind. Man kann das Heilige überhaupt leugnen, aber niemand wird es als etwas dem Nützlichen Untergeordnetes ansehen. Der Begriff der Wertegemeinschaft aber schließt die Gesellschaft gegen jede Möglichkeit ab, an so etwas wie einer objektiven Wertordnung Maß zu nehmen. Sie ist sich selbst das höchste Maß. Ihre Wertschätzungen verstehen sich als Grund jeden Wertes. Werte werden gesetzt . Aber jeder, der Werte setzt, muss dafür einen Grund haben. Und dieser Grund ist für ihn logischerweise nicht wiederum gesetzt sondern vorgegeben. Er ist der eigentliche Wert, auf den es ankommt. Er liegt dem fundamentalen Interesse zugrunde, das wiederum der Wertsetzung zugrunde liegt. So soll z.B. in Hans Küngs „Projekt Weltethos”, das Ethos dem Wert des Friedens dienen und dieser dem Wert des Überlebens der Menschheit. Das Ethos wird im Interesse eines bestimmten höchsten Wertes instrumentalisiert. In den fünfziger Jahren gab es einen anderen bekannten Theologen, der aufgrund einer anderen Wertrangordnung die Bewahrung der Freiheit als höchsten Wert ansetzte, dem auch das Überleben der Menschheit unter Umständen geopfert werden durfte. Hier kommt nun allerdings der von Nietzsche enthüllte Wille zur Macht ins Spiel. Wenn Werte gesetzt werden, dann haben diejenigen die Macht, die die Werte setzen, und der Kampf um Werte ist nichts als ein verschleierter Kampf um Macht. In einer Wertegemeinschaft muss man deshalb nach den verborgenen Interessen fragen. Wer zieht hier Vorteile aus einer bestimmten Wertordnung? Wenn Werte nicht objektiv, sondern unsereWerte sind, wer ist hier „wir”? Und wer dominiert in einer Gesellschaft, wenn diese oder jene Werte obenan stehen? Wer ist Interpret und Sachwalter der obersten Werte? Der Gestus des Entlarvens wird unvermeidlich.
Die Rechtsordnung moderner Staaten beruht auf Werteeinsicht, z.B. auf der Einsicht in den konstitutiven Wert des inneren Friedens und der Toleranz. Diese Werte sind abgeleitete Werte, abgeleitet aus dem Wesen der Person und der mit dem Personsein gegebenen fundamentalen Rechte. Diese Rechte, die Menschenrechte, müssen keineswegs überall die gleiche Ausprägung haben wie in Europa. Das Recht auf Partizipation in irgendeinem Gemeinwesen schließt nicht das Recht auf Partizipation in jedem Gemeinwesen ein, und es muss auch nicht überall in der Welt die Form von parlamentarischen Wahlen haben. Das Menschenrecht auf freie Rede schließt nicht das Recht auf die Verfügung über Massenmedien ein. Die Pressefreiheit ist nicht eine notwendige Folge der Meinungsfreiheit, also nicht primär ein Individualrecht, sondern eine für das Funktionieren der Demokratie notwendige Einrichtung. Sie ist kein aus dem Wesen der Person folgendes Grundrecht, sondern eine Forderung des Gemeinwohls und durch diese entsprechend begrenzt. Aus der Einsicht in ein objektive, mit der Natur des Menschen gegebenen Wertordnung folgt deshalb nicht bereits eine bestimmte Verfassung, wie die Naturrechtler der Aufklärung glaubten. Das aristotelische Naturrecht trägt der kulturellen Verschiedenheit ganz anders Rechnung. Es beruht auf der Einsicht, dass die Natur des Menschen sehr verschiedene kulturelle und geschichtliche Ausprägungen erlaubt, allerdings nicht beliebige. Es gibt, gemessen an dem Maßstab menschlicher Selbstverwirklichung, bessere und schlechtere Ordnungen, und es gibt eine untere Grenze dessen, was überhaupt den Namen einer Rechtsordnung verdient und damit Anspruch auf Loyalität erheben kann. Die Wertebasis einer modernen Rechtsordnung aber verlangt, dass die Rechte der Bürger, des Zusammenschlusses von Bürgern, nicht davon abhängen, ob diese Bürger diese Wertebasis teilen, vorausgesetzt, sie gehorchen den Gesetzen. Auch wenn dieser Gehorsam nur der ist, der auch einer fremden Besatzungsmacht entgegengebracht wird, um das Weiterleben zu ermöglichen. Das nämlich erklärte der frühere österreichische Unterrichtsminister Piffl-Percevic mit Bezug auf eine staatliche Ordnung, die den Schutz des menschlichen Lebens von seinem Beginn an nicht mehr zu ihren Aufgaben zählt. Man muss auch ihr gehorchen, aber nicht weil man dieser Wertegemeinschaft angehört, sondern weil man den Wert des inneren Friedens kennt, pax illis et nobis communis, wie Augustinus schrieb. Das künftige Europa wird nur dann eine Rechtsgemeinschaft sein können, in der alle Bürger der Länder europäischer Tradition ein gemeinsames Dach finden, wenn es Gemeinschaften mit gemeinsamen Wertschätzungen ermöglicht und schützt, selbst aber darauf verzichtet, eine Wertegemeinschaft zu sein.
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Transit – Europäische Revue, Nr. 21/2001
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