Lebendige Erinnerung an die Diktatur Was Europas Süden und Osten gemeinsam haben

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Der französische Politikwissenschaftler Maurice Duverger wurde 1951 europaweit durch das „Duverger’sche Gesetz“ bekannt, demzufolge ein System einfacher Mehrheit in Einerwahlkreisen die Herausbildung eines Zweiparteiensystems begünstigt.

Zehn Jahre später jedoch veröffentlichte der 1917 geborene Sozialdemokrat ein mit „De la dictature“ betiteltes Buch, in dem er nicht trockene sozialwissenschaftliche Wahlstatistik trieb, sondern einen emotionalen, gar dramatischen Ton anschlug: „Die Diktatur bedroht ständig unsere Generation: wir sind es schon gewohnt, dass sie uns wie ein wildes Tier beschleicht, dessen Brüllen uns in der Nacht aufschrecken lässt, das uns so nahe kommt, dass wir manchmal seinen Atem verspüren. Jeder Abschnitt unseres Lebens ist durch eine Tyrannei gekennzeichnet. Mussolini betrat das Capitol, als wir noch mit Glaskugeln spielten; Hitler kam, als wir im Jünglingsalter standen; Franco und Pétain traten auf, als wir junge Männer waren; die Volksdemokratien entstanden, als wir den Weg der Reife beschritten; dann waren die Militärs des Mittleren Ostens an der Reihe, schließlich die unseren.“ Duverger porträtiert hier die „Bestie Diktatur“ als gesamteuropäisches Phänomen – als ein Raubtier, das 1945 mitnichten zur Strecke gebracht wurde und auch seitdem sein Unwesen keinesfalls nur im sowjetischen Hegemonialbereich trieb. Neben dem transnationalen Charakter der Diktatur als Herrschaftsform macht er die generationelle Prägung der Erfahrung der Diktatur und der ständigen Bedrohung durch sie deutlich.

In Duvergers Perspektive des Jahres 1961 war die Diktaturgefahr in Europa endemisch, ubiquitär und permanent. Das nimmt sich fünfzig Jahre später, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zwar partiell anders aus, im Rückblick auf das 20. Jahrhundert – und dabei auch und gerade auf die Zeit nach 1961 – aber nicht: Portugal und Spanien waren damals ebenso Diktaturen wie die Sowjetunion, die übrigen Warschauer Pakt-Staaten sowie das Jugoslawien Josip Broz-Titos und das Albanien Enver Hoxhas; 1967 errichtete eine Militärjunta ein bis 1974 währendes diktatorisches Regime in Griechenland; von 1987 bis 2000 herrschte Slobodan Miloševi? diktatorisch über Serbien; seit 1990 steht der Ostteil Moldovas unter der Willkürherrschaft einer spätsowjetischen Funktionärs-, Manager- und Geheimdienstclique; und 1994 etablierte Aljaksandr Lukaschenka ein bis heute anhaltendes autoritär-repressives Präsidialregime in Weißrussland. Diktatur ist in Europa also kein Phänomen der Vergangenheit – und ihre gesellschaftliche Aufarbeitung schon gar nicht.

Dass von traumatischen Kollektiverfahrungen geprägte Generationen – siehe prototypisch Duverger! – ihrerseits die Erinnerungskulturen von Nationalgesellschaften prägen, zeigt der vergleichende Blick auf Europa: Im West- und Nordeuropa der Gegenwart ist die Erinnerung an diktatorische Regime und/oder an die Besatzung durch eine fremde Macht im Verblassen; nur noch wenige der heute Lebenden haben Mussolinis Faschismus, das Vichy-Regime oder die nationalsozialistische Besatzung Norwegens miterlebt. Anders Süd- und Osteuropa: Etwa die Hälfte aller Griechen, Portugiesen und Spanier kann sich an die bis in die Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts herrschenden Diktaturen lebhaft erinnern, und noch höher ist der Prozentsatz derjenigen, die in den „durchherrschten“ Gesellschaften der Sowjetunion und der übrigen RGW-Ländern sowie Albaniens und Jugoslawiens in den Jahrzehnten vor 1989/91 aufgewachsen sind. Hierin liegt also eine Gemeinsamkeit, die den südlichen Teil der „Westeuropäer“ mit den „Osteuropäern“ verbindet und welcher sie zugleich vom nördlichen – glücklicheren? – Teil der „Westeuropäer“ unterscheidet. Neben der Barriere, welche die Erinnerungskulturen Europas seit 1945 in „West“ und „Ost“ separiert, gar nach Holocaust-Erinnerung und GULag-Gedächtnis sortiert, und dem Ostmitteleuropa von den GUS-Mitgliedern Ukraine, Russland und Weißrussland trennenden Jalta-Stalingrad-Graben gibt es also noch mindestens eine weitere Trennlinie, die den Kontinent erinnerungskulturell unterteilt, und zwar in ein imaginäres Zentrum sowie in mehrere Peripherien. Und eben zwei dieser „Peripherien“, die östliche und die südliche, haben die Erinnerung an diktatorische Regime, die erst vor zwei bis dreieinhalb Jahrzehnten kollabiert sind, gemeinsam.

Die Diskussion darüber, ob „Europa“ eine eigene, europabezogene Identifikationsprozesse weiter befördernde Erinnerungskultur benötigt – und folgerichtig eine transeuropäische Geschichtspolitik entwickeln muss – beziehungsweise ob ein solch „europäisches Gedächtnis“ bereits im Entstehen ist, ist in vollem Gange. Einen Gliederungsvorschlag mit großer Praxisnähe hat dabei Claus Leggewie unterbreitet, indem er auf sieben „konzentrischen Kreise“ gleich angeordnete „ Anker und Fluchtpunkte einer supra- und transnationalen Erinnerung“ abhebt. Diesen schreibt er das Potential zur Stiftung einer qualitativ neuen Identität der Europäer als „größtem Noch-Nicht-Volk der Erde“ zu – in der Gestalt eines zuvor nur bei Einzelnationen feststellbaren „gemeinsamen Geschichtsbewusstseins“. Die ersten fünf seiner Kreise werden dabei von den „großen Katastrophen des langen 20. Jahrhunderts“ gebildet, nämlich vom Holocaust als memorialen Nukleus, weiter GULag, ethnische Säuberungen, Genozid an den Armeniern und Kolonialismus. Der sechste Kreis, „Europa als Einwanderungskontinent“, ist ambivalenter Natur, und nur der siebte, „Europas Erfolgsgeschichte nach 1945“, ist eindeutig positiver Art.

Leggewies „konzentrische Kreise“ basieren sämtlich auf konkreter Memorialpolitik. Denn paneuropäische Institutionen wie die Europäische Union und der Europarat, am Rande auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), haben die Erinnerungskultur als Teilgebiet europäischen Identitätsmanagements und damit als neues und viel versprechendes Politikfeld erkannt. Sie formulieren entsprechend teils informell, teils offiziell eigene Geschichtspolitiken und erproben diese tastend. Auch wenn der Konsens über eine europäische identitätspolitische Arbeitsteilung zwischen der EU einerseits, hier vor allem dem Europäischen Parlament, und dem Europarat andererseits – auch hier ist die Parlamentarische Versammlung die treibende Kraft – mittlerweile bröckelt, ist die europäische Geschichte, neben den europäischen Werten, auch gegenwärtig die Domäne der ältesten, in Straßburg ansässigen paneuropäischen Institution. Jedoch anders als auf den Gebieten des Menschenrechts- und Minderheitenschutzes ist die geschichtspolitische Bilanz des Europarats durchwachsen. Der groß angelegte, auf eine polnisch-deutsche Initiative hin in den Jahren 2004-2006 unternommene Vorstoß der Parlamentarischen Versammlung zur Gründung eines „Europäischen Zentrums der Erinnerung an die Opfer von Zwangsmigrationsbewegungen und ethnischen Säuberungen“ unter den Auspizien Straßburgs etwa scheiterte gleich zweimal an einer französisch-türkisch-russischen Ablehnungsfront. Dem stehen allerdings zwei erfolgreichere parallele Vorstöße von 2006 zur Verurteilung des Franco-Regimes (Empfehlung 1736/2006) sowie zur „Beseitigung des Erbes der früheren kommunistischen totalitären Systeme“ (Resolution 1481/2006) gegenüber, welche in ihren Formulierungen ähnlich oder gar deckungsgleich sind. Die letztgenannte Initiative stieß dabei auf Zustimmung bei Abgeordneten aus Ostmittel- und Südosteuropa, hingegen auf massive Ablehnung bei solchen aus Russland. Mit Blick auf die Parlamentarier aus dem „alten“, westlichen Europa war eine ideologische Trennlinie zwischen Rechts (Zustimmung) und Links (Ablehnung) erkennbar. Und während in Politik und Medien des östlichen Europa die Resolution ein breites Echo fand, blieb sie in der westlichen Öffentlichkeit nahezu unbeachtet.

Nahe liegender Weise bieten ihre unvergleichlich größeren Ressourcen der EU weitaus günstigere Möglichkeiten zur Entfaltung einer europaweit wirkungsvollen Geschichtspolitik als dem Europarat. Diesen Vorteil haben Parlament und Kommission 2008/09 ausgespielt, als sie die Gründung eines „Hauses der Europäischen Geschichte“ als Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum beschlossen, eine Konzeption dazu in Auftrag gaben, einen Aufbaustab beriefen sowie in Brüssel eine Immobilien erwarben. In den „Inhaltlichen Grundlinien der Dauerausstellung“ dieser Museumsneugründung ist dabei explizit von den „demokratischen Transformationsprozessen“ im „Süden Europas“ in der „Mitte der 1970er Jahre“ die Rede, wie zugleich ein Bezug zum Regimewandel im östlichen Europa von 1989 hergestellt wird: „In Griechenland bricht 1974 das Obristen-Regime zusammen, im gleichen Jahr endet auch die portugiesische Diktatur. Ebenso wie in Spanien ein Jahr später werden die Diktaturen durch parlamentarische Demokratien abgelöst. Die ‚Nelkenrevolution’ in Portugal 1974 beendet zudem die Kriege in Afrika. Nach dem Tod des Diktators Franco am 20. November 1975 ist der friedliche Übergang von der Diktatur zur Demokratie ein vielfach beachtetes Phänomen und strahlt auf die Ereignisse in den Ostblockstaaten Ende der 1980er Jahre aus.“

Dass mittlerweile die EU in Gestalt des Europäischen Parlaments geschichtspolitisch aktiver auftritt als die durch Mitglieder wie Russland oder die Türkei gebremste Parlamentarische Versammlung des Europarats, demonstriert überdies die Initiative zur Proklamierung des 23. Augusts 1939 – des Tages der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts in Moskau – zum Europäischen Gedenktag an die Opfer der stalinistischen und nazistischen Verbrechen, „um das Gedenken an die Opfer von Massendeportation und -vernichtung aufrecht zu erhalten und somit Demokratie zu stärken sowie Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent zu fördern“. Diese ging Initiative 2008 vom Europäischen Parlament aus; die Parlamentarische Versammlung des Europarats zog 2009 lediglich nach. Mit anderen Worten: Brüssel und Straßburg haben im Kontext der Debatte über Identität, Öffentlichkeit und Demokratisierungsgrad „Europas“ mittlerweile den Hebel der Geschichtspolitik identifiziert und sind dabei ihn anzusetzen – wenngleich mitunter noch unbeholfen.

Ist nun aber bei aller Vergleichbarkeit, ja Ähnlichkeit der Struktur und Funktionsweise der Diktaturen in Süd- und Osteuropa auch die Erinnerung in den postdiktatorischen Gesellschaften der Gegenwart an eben diese Diktaturen ähnlich? Wohl kaum, denn „Geschichte“, „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ stehen kommunizierenden Röhren gleich in direkter Verbindung mit dem semantischen Feld der „Nation“. Und so unterschiedlich die Nationen Europas sowie entsprechend inkompatibel auch ihre historischen Meistererzählungen sind, so verschieden sind zugleich die Formen und Muster ihrer Diktaturerinnerungen – und damit der Strategien der Diktaturbewältigung. Eines aber haben die in Frage stehenden Gesellschaften gemeinsam: Ihr demokratisches Design ist ganz maßgeblich von der Erfahrung der Diktatur und ihrer Überwindung geprägt. Dies gilt auch und gerade für die jeweilige Geschichtskultur, sei diese nun durch kritische Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit oder durch deren gezielte Ausblendung aus dem nationalen Narrativ geprägt. Verglichen mit dem kollektiven Gedächtnis von Gesellschaften, die keine Diktaturerfahrung gemacht haben, wirkt die Geschichtskultur postdiktatorischer Gesellschaften aufgrund ihrer „Geschichtsversessenheit“ – siehe Deutschland – beziehungsweise dem entgegen gesetzten Modus der „Geschichtsvergessenheit“ gebrochen. Der gesellschaftliche Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, so scheint es, kennt kein Mittelmaß, also die von Timothy Garton Ashs eingeforderte „Mesomnesie“, sondern nur die Extreme von Amnesie und Pathomnesie. Dabei schließen diese sich mitnichten aus, sondern folgen vielmehr in der Regel aufeinander, wie etwa die Wirkung der Öffnung der Francoschen Massengräber in Spanien oder der Vergegenwärtigung des Pogroms von Jedwabne in Polen, beides ins Jahr 2000 fallend, belegen. In beiden Fällen brachen Schweigekonsense beziehungsweise Verdrängungsabreden eruptionsartig auf und initiierten umgehend schmerzhafte gesamtgesellschaftliche Selbstvergewisserungsdiskurse.

Dass die Überwindung der Folgen von Diktaturen ein zentrales Kennzeichen des vergangenen 20. Jahrhunderts ist sowie überdies eine wichtige Aufgabe für das 21. bleibt, ist unbestritten. Die Hoffnung einer hauptamtlichen deutschen Diktaturfolgenbewältigerin jedoch, „dass es eines Tages in Europa Standards dafür geben wird, wie man mit überwundenen Diktaturen umgeht“, erscheint gleich in doppelter Hinsicht problematisch: Zum einen muss offen bleiben, ob sich diese Hoffnung je erfüllen wird, und zum anderen ist fraglich, ob im kulturell stark diversifizierten Europa solche „Standards“ überhaupt funktionieren würden – von der unterschwelligen „europäischen“ mission civilisatrice der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) einmal ganz abgesehen. Mit Blick auf das östliche Europa hat zwar auch Garton Ash dem bundesdeutschen Modell der Vergangenheitsbewältigung attestiert, es habe „eine neue Norm der Vollständigkeit gesetzt“, dieses aber zugleich als „DIN-Standards“ beziehungsweise „,Deutsche Industrienormen‘ im Bereich der Geschichtsschreibung“ ironisiert.

Ernst gemeint hingegen war der Appell der ehemaligen Präsidentin des Europäischen Parlaments und Auschwitz-Überlebenden Simone Veil in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Januar 2004, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, zur Bekämpfung von postkommunistischer Holocaust-Verdrängung und von Antisemitismus „in einigen osteuropäischen Ländern“: „Zu einer Zeit, wo Europa sich nach Osten öffnet, sind diese Entgleisungen in höchstem Maße alarmierend, denn diese angeblichen geschichtlichen Kontroversen berühren die Identität des zukünftigen Europa im Kern. Deutschland, das beide Formen des Totalitarismus erlebt hat und nun wiedervereinigt ist, kann den neuen Mitgliedstaaten sicherlich eine große Hilfe dabei sein, sich des Problems dieser Ungleichgewichtigkeit der Erinnerung gelassen anzunehmen.“ The Germans to the front! also – diesmal jedoch nicht wie 1900 im chinesischen Boxeraufstand in Uniform, sondern in geschichtspädagogischem Zivil? Anders als bei der Diktaturfolgenbeseitigung gibt es mit Blick auf die Antisemitismusbekämpfung aus höchst nahe liegenden Gründen kein Anzeichen dafür, dass die auswärtige Geschichtspolitik des postdiktatorischen Deutschland andere Gesellschaften an ihrem eigenen „Wesen genesen“ lassen will. Funktionieren würde dergleichen ohnehin nicht, denn jede Diktatur und jedes Kollaborationsregime ist entscheidend von nationaler Spezifik geprägt, und entsprechend ist die Erinnerung daran primär eine nationale. Folglich muss auch der Versuch der Aufarbeitung – politisch, historisch, justiziell u. a. – in jedem nationalen Fall mühsam maßgeschneidert werden. Die Vorgehensweise der Nachbarn oder des Rests der Welt kann dabei als Inspiration dienen, nicht aber als Blaupause, schon gar nicht als Importartikel.

Dass die gesellschaftliche Bewältigung diktatorischer Vergangenheit auch im integrierten EU-Europa der 27 ein dorniger und langwieriger, von Sackgassen und Rückschlägen, Scheinheiligkeit und Rachefuror geprägter Weg sein kann, belegen aktuelle nationale Fälle wie Spanien oder Polen. Vor über fünfzig Jahren hat der Göttinger Historiker Hermann Heimpel die Dialektik von Nationalstaaten und Integrationskonzepten in Europa in eine komplizierte, aber eben deshalb adäquate Formel gefasst: „Die Idee der Nation ist eine europäische Idee, mit Europa ist seine nationale Zertrennung, aber mit den Nationen ist Europa gegeben.“ Für die postdiktatorischen unter den nationalen Geschichtskulturen Europas gilt dies in potenziertem Maße.

„Die Diktatur bedroht“ zwar nicht mehr, um noch einmal mit Maurice Duverger zu sprechen, „ständig unsere Generation“, aber sie beschäftigt die europäischen Gesellschaften weiterhin, und dies umso mehr, je intensiver nationale Öffentlichkeiten in Europa über bislang unaufgearbeitete diktatorische Vergangenheiten zu diskutieren beginnen und je stärker sich europäische Institutionen zu europaweiter Geschichtspolitik berufen fühlen. Doch es gibt noch einen weiteren Grund, den die aus Rumänien gebürtige und dort aufgewachsene Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in ihrer Tischrede nach dem Nobelpreis-Konzert am 8. Dezember 2009 eindringlich benannt hat – in mittelbarer Anknüpfung an die Duverger’sche Warnung vor dem „wilden Tier“ der Diktatur von 1961: „Bis heute gibt es Diktaturen aller Couleur. Manche dauern schon ewig und erschrecken uns gerade wieder aufs Neue, wie der Iran. Andere wie Russland und China ziehen sich zivile Mäntelchen an, liberalisieren ihre Wirtschaft – die Menschenrechte sind jedoch noch längst nicht vom Stalinismus oder Maoismus losgelöst. Und es gibt die Halbdemokratien Osteuropas, die das zivile Mäntelchen seit 1989 ständig an- und ausziehen, so dass es schon fast zerrissen ist.“ Mit Blick auf das ihr bekannte Rumänien, auf Weißrussland und Russland, möglicherweise auch auf Bulgarien und die Ukraine, hat die einer nachhaltig diktaturtraumatisierten Generation angehörende Schriftstellerin wohl Recht, bezüglich Polens oder Lettlands aber sicher nicht, und schon gar nicht, was den Süden Europas betrifft. Die flächendeckende und systematische Aufarbeitung der zahlreichen und nicht selten sukzessiven Diktaturen des 20. Jahrhunderts im Süden und Osten steht erst am Anfang – mit erkennbaren Folgen für die politischen und historischen Kulturen dieser Gesellschaften. Wie in der Wissenschaft kann dabei auch in staatlicher Geschichtspolitik und zivilgesellschaftlicher Erinnerungskultur der vergleichende Blick auf die europäischen (und außereuropäischen) Nachbarn inspirierend sein.

Der vorliegende Artikel basiert auf dem Papier „Diktaturerinnerung und Geschichtskultur im östlichen und südlichen Europa. Ein Vergleich der Vergleiche“, Working Paper Series, Global and European Studies Institute at the University of Leipzig, No. 3


Stefan Troebst ist Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas
an der Universität Leipzig und stellv. Direktor des Geisteswissenschaftlichen
Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), wo er das Gebiet “Kulturstudien
Ostmitteleuropas” leitet. Zuletzt erschienen Postdiktatorische Geschichtskulturen
im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven
(Hg.),
Göttingen: Wallstein Verlag 2010, sowie das Lexikon der Vertreibungen.
Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20.
Jahrhunderts
, hg. von Detlef Brandes, Holm Sundhaussen und Stefan Troebst,
bearbeitet von Kristina Kaiserová, Krzysztof Ruchniewicz und Dmytro
Myeshkov, Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag 2010.

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