„Ich habe mich schon immer gefragt, warum die Menschen in allen Ländern so fröhlich sind und anscheinend nur die Ukrainer sich benehmen, als seien sie die traurigste Nation der Welt. Jetzt habe ich es verstanden: Wir waren keine Nation, wir waren einander fremd, wir waren geteilt. Das änderte sich an diesem Montag!“ – Diese Erfahrung hat fast zwei Millionen Protestierende in Kiew vereint. „Die Ukraine ist wiedergeboren!“ Die einst so traurigen Gesichter der Ukrainer strahlen vor Freude. „Die Ukraine ist endlich wiedergeboren!“
In Wirklichkeit ist der Wandel bereits viel radikaler.
Wir sind ein Volk
Mykola ist zwanzig Stunden von Lviv nach Kiew gefahren und kann die Hauptstadt nicht wiedererkennen. „Ich bin mit meiner ganzen Familie hier. Ganz Lviv ist nach Kiew gefahren. Wir haben alle Schulen geschlossen. Sogar die Kleinsten protestieren und rufen ‚Jusz-czen-ko! Jusz-czen-ko!’ So einfach ist es: Wer gesund ist, fährt nach Kiew. Die Krankenhäuser sind leer, nur ein paar Ärzte sind zurückgeblieben, da sie im Notfall gebraucht werden. Sonst fahren alle! Gut, die Zöllner sind noch an ihrem Platz, doch in Gedanken sind sie alle bei uns. Niemals zuvor habe ich eine solche Einheit der Nation gespürt.“ Die Farbe Orange sieht man überall: orange Fahnen, orange Bänder, sogar die Schaufensterpuppen in exklusiven Geschäften tragen schicke orange Kleidung. Wir stehen vor dem Parlament, und Tausende protestieren gegen die Regierung, gegen Janukowitsch und die Kommunisten, gegen die zentrale Wahlkommission; für eine freie Ukraine. „Ich habe so etwas noch nie erlebt. Diese Solidarität kann ich nicht einmal mit der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit 1991 vergleichen. Die Souveränität war ein Geschenk, heute müssen wir uns den Sieg selbst erkämpfen. Noch vor zwei Wochen behandelte uns Kiew wie Fremde, weil wir nur ukrainisch sprechen. In unserem gemeinsamen Kampf sind die Ukrainer nun Brüder geworden.“
Überall herrscht die Stimmung eines endgültigen Bruchs mit der Vergangenheit. Nach dreizehn Jahren formaler Unabhängigkeit scheint es, dass sich die Ukraine endlich von den Hinterlassenschaften des kommunistischen Systems befreien kann: von Angst, Autorität, Korruption, Kriminalität und nicht zuletzt von der russischen Herrschaft. „In jedem Staat gibt es korrupte Politiker. Das ist normal, jeder weiß es. Bei uns aber ist es zum Prinzip der Regierung geworden. Fünf Prozent der korrupten Politiker im Parlament hielten wir noch aus, fünfzig sind schon zu viel. Sie dachten, dass sich nichts ändern kann: Sie regieren und wir werden regiert. Doch nun ist die Zeit der Wahrheit gekommen.“
Bis letzte Woche war die Ukraine nur ein geographischer Begriff, der die Alltagsrealität der gegenseitigen Ignoranz, des Missverständnisses und der Feindschaft zwischen dem Osten und dem Westen des Landes überdecken wollte. Brutal gesagt, war für den Osten die westliche Ukraine ein Hort wilder Banden gefährlicher Nationalisten, für den Westen hingegen war der Osten ein Sitz russifizierter Schurken. Jetzt scheint es, dass die alten, tief verankerten Feindseligkeiten abgebaut worden sind. Sprache, Religion und Ethnizität entzweien die Menschen nicht mehr. Innerhalb einer Woche ist eine große Nation zur Welt gekommen. Das ist keine Wiedergeburt, es ist eine wahrhaftige Neugeburt.
Von Wien nach Kiew
Als ich ein E-Mail von einem unbekannten Mädchen aus Kiew bekam, in dem sie um Unterstützung der Demokratie in der Ukraine bat, entschied ich auf Anhieb, nach Kiew zu fahren und ihr zu helfen. Wir dürfen nicht nur zuschauen, denn die Demokratie kann nicht aus der Ferne verteidigt werden. Ich wusste nicht, wo ich essen und übernachten würde. Eines wusste ich jedoch: Ich musste auf jeden Fall dorthin fahren. Als ich „meiner Unbekannten“ meinen Entschluss berichtete, konnte sie die Rührung darüber nicht zurückhalten: „Das ist eine wahre Verbrüderung der Menschen“ schrieb sie.
Man muss freilich nicht nach Kiew fahren, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. Die Revolution ist bis in die fernsten Ecken vorgedrungen, buchstäblich bis zu den Grenzen. Ukrainische Zöllner genossen international ein wenig schmeichelhaftes Ansehen. Sie waren meisterhaft im Erfinden von jeweils passenden Paragraphen für geizige Touristen, die mit der Teilung ihres Eigentums zu lange zögerten. Sie lächelten nie, auch nicht, wenn sie viel Schmiergeld bekamen. Und jetzt diese völlig unerwartete Verwandlung: An der Grenze begegnen sie dir mit einem strahlenden Lächeln. Die Zöllner empfangen dich mit offenen Armen und erwarten nicht, dass du ihnen etwas zusteckst. Geld zählt jetzt nicht. Was zählt, ist Freiheit und die neugeborene Hoffnung auf ein würdiges Leben. Angesichts dieser großen Werte gerät alles Andere in den Hintergrund.
Schon an der Grenze wusste ich, dass die Fahrt nach Kiew nicht einfach wird. Es war klar, dass die Regierung Tausende Protestierende in Lviv sowie in anderen Städten des Westens aufzuhalten versuchte. Die ersten Busse, die aus Lviv nach Kiew fuhren, erlitten unterwegs alle Reifenpannen, weil von ’unbekannten’ Tätern Nägel auf den Straßen verstreut worden waren. Ferner gab es trotz großer Nachfrage keine zusätzlichen Verkehrsverbindungen und schon seit langem waren alle Zugfahrkarten nach Kiew ausverkauft. In dieser Situation konnte man nur direkt im Zug um eine Mitfahrgelegenheit bitten. Zum Glück erwies sich schnell, dass auch die Bahnbeamten auf der richtigen Seite standen. Sie konnten immer einen freien Sitzplatz finden, um zumindest auf diese Art und Weise die „orange Revolution“ zu unterstützen.
Die Selbstorganisation der Gesellschaft
In Kiew kann man ein erstaunliches Spektakel politischen Handelns beobachten, ein wahres Fest der Freiheit. Überall. In den U-Bahnen, wo die Fahrer, anstatt Stationen anzukünden, Slogans der Opposition zitieren: „Razem nas bohato, nas nie podolajet!” („Zusammen sind wir viele, ihr könnt uns nicht stoppen!“). Alle lachen und die ganze U-Bahn bebt vom Stimmengemenge tausender Menschen. An den Mauern der Gefängnisse findet man immer öfter Sprüche wie: „Janukowitsch, besuche deine besten Freunde!“; „Daher kommen unsere Präsidenten“. Auf den blauen mobilen Toi-Toi-WCs in Kiew steht geschrieben, dass sie die Hauptquartiere von Janukowitsch seien. Die Transparente verkünden: „Putin! Nimm deine russische Hunde aus der Ukraine!“. Menschenmassen sammeln sich und rufen vereint: „Bandu het!“ („Bande raus!“), „Hanjba“ („Schande!“).
Seit 1989 gab es kein wichtigeres und folgenreicheres Ereignis auf unserem Kontinent. „Am ersten Montag nach den ’verlorenen’ Wahlen bin ich hierher gekommen. Ich wusste weder ob ich dort allein sein werde, noch was passieren wird. Um zehn Uhr morgens waren wir ein paar tausend Leute, eine Stunde später hunderttausend, jetzt sind wir rund zwei Millionen. Das war wie eine Welle, wie ein Fluss, der nicht zu stoppen ist.“
Inmitten des politischen Konflikts bleibt die Stadt ein vorbildliches Beispiel der Ordnung. Einzelne Personen, die blaue Bändchen tragen, können freilich ungehindert durch die „orangen“ Massen gehen. Die Anhänger von Janukowitsch und Juschtschenko reden nicht nur friedlich miteinander, sondern auch sehr freundlich. Da viele keinen Platz zum Schlafen und nichts zum Essen hatten, bot ihnen die Opposition dies an.
Mischa hat seit vier Tagen kaum geschlafen, so sehr setzt er sich für den Kampf um die Demokratie ein. Er versucht, mir dieses Wunder zu erklären: „Das Wichtigste ist, dass wir nichts trinken. Wir wollen die Revolution nicht mit Alkohol unterstützen, sondern mit unseren Herzen. Wenn aber Juschtschenko gewinnt, werde ich den ganzen Monat lang ohne Pause trinken!“, lacht er. „Wir müssen sehr achtsam sein und uns vor Provokationen schützen. Wir werden keine Rowdys tolerieren.“
Inzwischen sind unerwartet zwei betrunkene Anhänger Juschtschenkos aufgetaucht, die über den Zaun gefallen sein müssen. Wir beobachten sie mit Erstaunen. „Sie kommen aus Donetsk.” – stellt Mischa fest, „sie sind zwar auf unsere Seite gekommen, doch die Macht der Gewohnheit bleibt.“ Als man die ukrainische Hymne spielt, erheben sie sich aber und legen ihre Hand aufs Herz.
Im Ukrainischen Haus, dem Hauptquartier der Opposition, geben Hunderte freies Essen, Süßigkeiten, Getränke, Kleidung und warme Schuhe aus. Es gibt sogar einen Stand, wo man Batterien von Handys und Kameras aufladen kann. Ein anderer Stand organisiert den Transport von Kiew zu allen Orten in der Ukraine. Jeder, der einen freien Platz in seinem Auto hat, meldet sich dort. An einem anderen Schalter kann man sogar Geld für die nötigen Ausgaben wie Essen oder die Heimreise bekommen. „Woher wissen Sie, dass die Leute dieses Geld nicht vergeuden?“ „Wir wissen es nicht. Wir können ihnen nur vertrauen“.
Der endgültige Sieg
Die Mehrheit unseres Volkes betrachtet die Möglichkeit, dass Janikowitsch der Nachfolger von Kutschma wird, als Wahnsinn und politischen Selbstmord. Wie kann man überhaupt nur daran denken, dass wir einen Menschen wählen, der wegen Diebstahls von Pelzmützen im Gefängnis war? Wie kann man glauben, dass das ukrainische Volk die kriminellen Beziehungen zwischen Janukowitsch und Achmetow, dem reichsten und wohl nicht rechtschaffensten Mann der Ukraine, übersieht? Wie kann man hoffen, dass die vollkommene Abhängigkeit von russischer Unterstützung in einem freiem Land ein Vorteil sei? Genau diese unvorstellbare Arroganz hat sich als Fluch der Regierung und als Segen der Opposition erwiesen. Eine allgemeine Empörung hat die Menschen dazu gebracht, dass sie sich trotz allen bisherigen unterschiedlichsten politischen, sprachlichen und religiösen Unterschieden zum ersten Mal im Namen der Demokratie, der Souveränität und des Rechts vereint haben. Es war die Dummheit der despotischen Macht, welche die Nation geschaffen hat.
Abgesehen davon, welche Entscheidungen ukrainische Politiker treffen und welche Meinungen internationale Experten und Vermittler äußern, alle wissen, dass nichts so bleiben kann, wie es vorher war. Alle sind sich sicher, dass die orange Revolution schon gewonnen hat. Wann die Machthaber endlich zustimmen, ist nur eine Frage der Zeit. Es gibt kein Zurück mehr. Drohungen mit der Teilung des Landes oder in Richtung Kiew rollender Panzer werden als die letzten Atemzüge des alten Regimes betrachtet.
Am Abend eines zweiten langen Tages spielen und singen die Demonstranten alte Volkslieder im Ukrainischen Haus. Ich kann nur zuhören. „Warum singst du nicht mit?“, fragt mich eine hübsche junge Frau, die neben mir steht. „Ich kenne die Lieder nicht. Ich komme aus Polen.“ „Aus Polen?“, erstaunt sieht sie mich an. „Aus Polen!“, wiederholt sie plötzlich freudestrahlend und umarmt mich. „Gerade in einer solchen Zeit brauchen wir euch sehr. Hast du einen Platz zum Schlafen? Du könntest in unserem Studentenwohnheim übernachten“. Vielleicht hätte ich die Einladung angenommen. Mir wurden jedoch bereits während der Fahrt nach Kiew zehn verschiedene Schlafmöglichkeiten angeboten. „Schade! Du musst ganz Europa berichten, dass wir hier für eine faire Demokratie gekämpft haben, und dass mein Land nun endlich frei ist.
“My country is free!”
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Michal Luczewski, Doktorand der Soziologie an der Universität Warschau, war 2004 Jozef Tischner Junior Visiting Fellow am IWM.