Säkular oder Postsäkular? Zur Divergenz der Perspektiven von Jürgen Habermas und Charles Taylor

Tr@nsit Online
Die Religion ist in aller Munde. Entweder wird ihre „Wiederkehr“ gefeiert oder aber die „Abkehr“ von ihr ausgerufen – wobei beide Diagnosen zwischen Jubel und Warnung, zwischen Verzweiflung und Befreiung changieren. Diese Unentschiedenheit ist nicht nur eine Frage der jeweiligen „religiösen Musikalität“, sondern ganz ebenso eine Frage des jeweiligen Verständnisses von dem, was moderne Gesellschaft im Kern auszeichnet. In herausragender Form prägen diese Fragen in der Gegenwart insbesondere die jüngeren Arbeiten von Jürgen Habermas und von Charles Taylor. Ihre Arbeiten scheinen dabei geradezu gegenläufige Diagnosen zu stellen: Während Taylor von einem „säkularen Zeitalter“ spricht, identifiziert Habermas demgegenüber eine „postsäkulare Kultur“. Der Vortrag geht den Hintergründen dieser beiden gegenläufigen Diagnosen nach und setzt sie kritisch zueinander ins Verhältnis.

 

I.

Ob westliche Gesellschaften in ihrer gegenwärtigen Kultur im Kern als säkular oder doch eher als postsäkular zu bestimmen sind, diese Frage beschäftigt nicht erst seit der Diskussion um religiös motivierten Terror die internationalen Debatten. Als prominente Bezugspunkte nehmen Jürgen Habermas und Charles Taylor hier vorderhand gegenläufige Positionen zur Frage der religiösen Signatur unserer Gegenwart ein: Habermas‘ Beobachtung einer postsäkularen Gesellschaft und Taylors These eines säkularen Zeitalters scheinen miteinander unvereinbar zu sein.

Ausgangs- und Bezugspunkt der Postsäkularitäts-Diagnose von Habermas sind seine von einem erheblichen Medienecho begleitete Rede anlässlich der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 2001 in Frankfurt unter dem Titel „Glauben und Wissen“ sowie die ebenfalls von starker medialer Aufmerksamkeit flankierte Kontroverse mit Joseph Kardinal Ratzinger im Januar 2004. Ausgangs- und Bezugspunkt der Säkularitätsthese von Taylor sind seine Gifford-Lectures in Edinburgh im Jahr 1999 sowie seine Vorlesungen am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen im Frühjahr 2000. Auf der Ebene der Schriften fehlen bisher wechselseitige Bezugnahmen zu diesem Thema zwischen beiden Autoren m.W. nahezu (vgl. aber Taylor 2009b, 2010), und vergleichbares gilt für die wissenschaftliche Diskussion. Im Rahmen der Konferenz „Rethinking Secularism“ kam es am 22. Oktober 2009 zwar zu einer von Craig Calhoun moderierten Diskussion zwischen beiden. Allerdings erweckt diese eher den Eindruck eines – wenn auch ausgesprochen sympathetischen – wechselseitigen Missverstehens.

Für die Konturierung eines (hypothetischen) Gesprächs zwischen Habermas und Taylor sind m.E. zunächst notwendig die Ebenen auseinanderzuhalten, auf denen die beiden Gesprächspartner ihre Argumentationen ansiedeln. Taylor geht es – generell formuliert – um die Analyse des menschlichen Selbst-, Sozial- und Weltverhältnisses unter der Perspektive von dessen Veränderungen in Zuge von Prozessen sozialen Wandels hin zu den Gegenwartsgesellschaften des nordwestlichen bzw. nordatlantischen Typs. Habermas dagegen geht es um die Frage der Relevanz des Ausdruckspotentials religiöser Sprache(n) im Kontext eines strukturell auf diskursive Geltungsansprüche im Sinne weltanschaulicher Neutralitätskriterien zugeschnittenen Verständigungshorizontes. Dabei modifizierte Habermas seine ursprüngliche Einschätzung eines prinzipiell defizitären Artikulationsniveaus der religiösen Sprache (zumindest hinsichtlich seiner Grundsätzlichkeit und Allgemeinheit) und erkennt inzwischen deren Artikulationspotential im Prinzip ausdrücklich an. Nicht zuletzt diese Neubewertung war es, die die Chance des Dialoges mit Kardinal Ratzinger eröffnete (Habermas/Ratzinger 2005).

Dieser Unterschied im Ansatz der Analysen von Habermas und Taylor zeitigt dabei Konsequenzen insbesondere für den Blick beider Autoren auf die spezifische Figuration, die sie mit dem Titel der „Modernität“ versehen: Habermas‘ diesbzgl. Grundmelodie findet sich exemplarisch in seiner Frankfurter Adorno-Preis-Rede im September 1980 über das unvollendete Projekt der Moderne intoniert (1980), die er im Kern als in ihren Elementaria zu bewahrende Erfolgsgeschichte würdigt. Taylor dagegen analysiert das Unbehagen an der Moderne (1995), die er als ein fehlgeleitetes Projekt, im Kern als eine Verlustgeschichte analysiert, insofern in deren Verlauf „heilsame und notwendige Wahrheiten über die conditio humana in Vergessenheit geraten“ seien (2009b: 682). Ist für Habermas die Entfaltung des gesellschaftlichen Strukturtyps der (westlichen) „Modernität“ also ein Synonym für Fortschritt und Befreiung, so ist dieser in Taylors Augen Dokument der ‚Selbstenthauptung‘ einer möglichen gehaltvolleren, umfassenderen Modernität, die die Reichhaltigkeit der im historischen Prozess entdeckten Lebensmöglichkeiten für die je aktuelle Lebenspraxis bereithalten sollte bzw. können sollte. Taylor wehrt sich also gegen die selbstgefällige Verschüttung von Vollzugsmöglichkeiten menschlichen Selbst-, Sozial- und Weltverhältnisses im Kontext der abendländischen Modernitätsvariante, während Habermas das aufklärerische Versprechen „für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse“ nutzen und damit diese Modernitätsvariante bei allen identifizierbaren Vereinseitigungen als Versprechen bewahren will (1980: 453, 464).

II.

Taylors umfassende Strukturphänomenologie der Genese von Modernität zielt im Kern auf die Freilegung von drei Aspekten, und zwar sowohl (1) auf die Nicht-Selbstverständlichkeit als auch (2) auf die Dialektik sowie darüber hinaus (3) auf die Kritik an der vermeintlichen Erfolgsgeschichte dieses Entstehungsprozesses abendländischer Modernität. Säkularisierung ist Taylor zufolge per definitionem weder als ein notwendiger noch auch als ein automatischer, quasi selbstverständlicher Weg zur Aufklärung und zu einer vernunftgeleiteten Lebensform führender Weg zu beschreiben. Sie kann und hat ganz ebenso zu totalitären Vereinseitigungen im Namen der Religionsfreiheit bzw. der Religionslosigkeit geführt. Säkularisierungsprozesse bringen Taylors Auffassung zufolge sodann gerade eine neue Karriere religiöser Orientierungen hervor – und zwar sowohl historisch wie in der Gegenwart. Sie kann damit in seinen Augen eben gerade nicht in toto als in Opposition zu religiösen Lebenshaltungen stehend begriffen werden. Die Säkularisierung der abendländischen Zivilisation vollzieht sich für Taylor als Effekt der in diesem Kulturkreis forcierten Aufhebung bzw. Nivellierung der Differenz von Alltag und Charisma, d.h. von religiös anspruchslosen Laien und religiös avancierten Virtuosen – mit dem Effekt einer Aufwertung des einfachen Gläubigen. Die neue ‚Unmittelbarkeit‘ zu Gott, die im Zuge dieser Aufwertung persönlicher Glaubensbeziehungen entdeckt wird, entwertet damit objektiv die Dimension institutioneller Vermittlung. Zumindest transformiert sie die Bedeutung von Vermittlungsagenturen vom – wie man sagen kann – Türöffner zum Begleiter. Sind es für Taylor damit vor allem und im Kern gerade innerreligiöse Veränderungen (u.a. die Neujustierung des individuellen Gottesbezuges), die den dann paradoxen Effekt einer Säkularisierung zeitigen, so forciert er mit dieser Sichtweise, die auf eine gesellschaftsbereichsspezifische Eigenlogik abstellt, eine differenzierungsanalytische Optik auf die Entwicklung der abendländischen Moderne.

Säkularisierung ist Taylors Auffassung zufolge deshalb auch nicht einfach als eine Geschichte des befreienden Niedergangs glaubensmäßiger, metaphysischer und spiritueller Überzeugungen zu verstehen. Eine Einschätzung, die unmittelbar aus den soeben angeführten Entwicklungstrends folgt. Unklar bleibt für eine solche Betrachtungsweise nämlich der normative Grund, von dem her eine entsprechende Befreiungsdiagnose gestellt werden könnte. Hier identifiziert Taylor – insbesondere in seinen Argumentationen gegen Rawls und Habermas – ein in seiner Perspektivenverengung sprichwörtliches aufklärungstypisches Vorurteil.

Insgesamt spitzt Taylor seine Dekonstruktion in feiner Ironie auf die These vom „Mythos der Aufklärung“ zu (2009b: 681). Diesem Mythos zufolge habe der erkenntnistheoretische Gewinn der Aufklärung aus dem Dunkel des Offenbarungsglaubens in das helle Licht reinen Vernunftwissens geführt.

Taylors Argumente richten sich gegen das, was man einen ‚anti-religiösen Affekt‘ bei Habermas (wie auch bei Rawls) nennen könnte, demzufolge „das religiös geprägte Denken … irgendwie weniger rational als rein ‚säkulare‘ Überlegungen“ sei (2009b: 680, 2010: 23f.). Gegenläufig gerade auch zu Habermas möchte Taylor nicht die potentiellen negativen Folgen vermeintlich vor-diskursiver Behandlungen öffentlicher Belange erörtern, sondern eher umgekehrt die potentiellen negativen Folgen der (in seinen Augen unbegründeten) Privilegierung einer rein diskursiv-rationalen Erörterungstypik ins Zentrum seiner Überlegungen rücken. D.h. es geht Taylor um den „erkenntnistheoretischen Grund“, der zur Privilegierung einer bestimmten Interpretation von Weltverhältnissen geführt hat bzw. um die Fragwürdigkeit des damit propagierten „Erkenntnisgewinn[s]“ mit seinem objektiven Standardisierungszwang (2009b: 681ff.). Entsprechend zielt Taylors Kritik auf „die erkenntnistheoretische Komponente der misstrauischen Haltung gegenüber der Religion“, derzufolge es sich bei dieser um eine notwendig „einseitige Anschauung“ handeln würde – mitsamt des weiteren Vorurteils, „nur die Religion bringe Gewalt hervor“ (2009b: 694f.). Dieses Verdammungsdiktum gegenüber der Religion hat Taylor jüngst auf die einprägsame Formel gebracht: „Entweder also gelangt die religiöse Vernunft zu den gleichen Einsichten wie die säkulare Vernunft, aber dann ist sie überflüssig; oder sie gelangt zu gegenteiligen Einsichten, und dann ist sie gefährlich und trennend. Deshalb ist sie auszuschalten“ (2010: 21). Potentielle Irrelevanz oder aber potentielle Verbannungsbedürftigkeit: so lautet in Taylors Augen die u.a. von Seiten der Kantianer wie Habermas gern gestellte Diagnose der Überflüssigkeit von Religion hinsichtlich der Verhandlung öffentlicher bzw. politischer Belange.

Entsprechend dieser Kritik an einem (kantianisch) vereinseitigten Verständnis der europäischen Aufklärung hält Taylor dafür, den wie auch immer im Einzelnen genauer zu fassenden (abendländischen) Säkularisierungsprozess weder einseitig als Verfalls- noch auch einseitig als Fortschrittsgeschichte zu konzipieren. Vielmehr geht es ihm darum, diesen im Kern als Prozess einer elementaren Strukturverschiebung menschlichen In-der-Welt-Seins, also der grundlegenden Neujustierung menschlichen Selbst-, Sozial- und Weltverhältnisses zu deuten.

Das formuliert Taylor letztlich nicht in dieser Zuspitzung, aber seine Argumentationen machen diese Deutung m.E. in jeder Hinsicht plausibel. Denn insofern Taylor Säkularität nicht als Frage des Verhältnisses von Gesellschaft und Staat angesichts „säkularisierter öffentlicher Räume“ erörtern möchte („Säkularität 1“) und auch nicht als Phänomen des „Niedergang[s] des Glaubens und der praktizierten Religion“ in der Moderne („Säkularität 2“), sondern als Frage nach den „Bedingungen des Glaubens“, insofern verfolgt Taylor die These, dass es unter dem Etikett ‚Säkularität‘ um „eine neue Gestalt der zum Glauben veranlassenden und durch Glauben bestimmten Erfahrung“ geht („Säkularität 3“) (2009a: 45f.). Zentrales Merkmal dieser „Säkularität 3“ ist danach eine neue Stellung zum „Sinnbegriff“, „eine distanzierte, disziplinierte Einstellung zum Ich und zur Gesellschaft“ sowie zur Welt insgesamt (2009a: 61-71, 236f.). Taylor zufolge handelt es sich „um eine in existentieller Hinsicht völlig andere Situation“ (2009a: 72), die das konturiert, was er die Figur des „‚abgepufferten‘ Selbst nennt (2009a: 73, 236f.) und die den „atomistischen Ideologien“ Bahn bricht (2009a: 246).

Die doppelte systematische Pointe dieser Argumentation liegt auf der Hand: erstens wird Modernität als historisches Produkt und damit als variabel einsehbar, und zweitens folgt daraus die lediglich sozio-historische Apriorität der unter dieser erkenntnistheoretischen Konstellation präferierten Weltsicht und eben keine transzendentale. Beide Einsichten eröffnen damit den Horizont geschichtlichen Denkens jenseits evolutionärer Zwangsläufigkeiten.

III.

Demgegenüber begreift Habermas den Prozess sozialen Wandels hin zum Strukturtyp moderner Gesellschaften nicht nur generell als Prozess gesellschaftlicher und kultureller Rationalisierung, sondern konnotiert seine Beschreibung dieses Prozesses grundsätzlich positiv, insofern er darin sowohl die Befreiung der autonomen Vernunft als auch ihre differenzierte gesellschaftliche Institutionalisierung identifiziert. Problematisch wird es Habermas zufolge erst dann, wenn diese Rationalisierungsprozesse sich vereinseitigen, also monomanisch einen Rationalitätstyp, d.h. den zweckrationalen bzw. nutzenkalkulatorischen dominant setzen. Dafür steht bei Habermas das Stichwort einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“, also einer systematischen Unterwanderung und Auflösung der sozio-kulturellen und sozio-moralischen Grundlagen menschlicher Gemeinschaftsbildung und Solidarität durch die alles überlagernden ‚Rationalitäten‘ kapitalistisch globalisierter Märkte, bürokratisch-zentralisierter Administrationen und systematischer Verrechtlichungen aller Lebensbereiche in fortgeschritten modernen Gesellschaften (1981). Religiöse Weltorientierungen kann man hier als implizit eingeschlossen betrachten.

Diese Kritik setzt für Taylor jedoch zu spät an. Entsprechend sind für ihn – wie dargelegt – nicht erst bestimmte Zuspitzungen und Zuschnitte des „okzidentalen Rationalisierungsprozesses“ ein Problem, sondern dieser Prozess selbst wird von ihm weder als notwendig bzw. selbstverständlich noch als positiv konnotierter Prozess der Aufklärung, also als ‚vernünftiger‘ Prozess begriffen.

Für Habermas hingegen stellt sich die Analyse unserer Gesellschaften als im Kern säkular als conditio sine qua non ihrer Etablierung als demokratischer politischer Gesellschaften unter dem Signum der Gleichheit von im Medium des Rechts vereinigten Bürgerinnen und Bürgern dar. Die Stoßrichtung seiner Argumentation richtet sich demzufolge auf „eine weltanschaulich neutralisierte und in diesem Sinne säkulare Ebene der Verständigung“, deren es in seinen Augen „für das Gelingen einer interkulturellen Verständigung über Grundsätze der politischen Gerechtigkeit für eine multikulturelle Weltgesellschaft“ bedarf (2009: 398). Die Frage nach der Signatur von Postsäkularität erfährt hier also – im klaren Unterschied zu Taylor – eine metatheoretische, letztlich diskursanalytische Wendung. Für Habermas bleibt der von Taylor als verkürzend kritisierte Blick auf die Aufklärung und den Zusammenhang von (westlicher) Modernität und Säkularität geltungstheoretisch
ebenso grundlegend wie unhintergehbar: Im Sinne dieses „Sog[es] einer reflexiven Selbstdistanzierung“ (2009: 399) haben sich Habermas‘ Auffassung zufolge „alle Religionsgemeinschaften auf die richtige [sic!] reflexive Verarbeitung von Grundtatsachen der Moderne einzulassen“ (2009: 402, kursiv im Orig.).

„Postsäkular“ wird bei Habermas damit zur Chiffre für einen Typus von Reflexivität, d.h. für einen „Bewusstseinswandel“ der a) von einer ‚bis auf Weiteres‘ bleibenden Bedeutung von Religion ausgeht, der b) den Beitrag von Religionen als ergänzenden sensiblen „Interpretationsgemeinschaften“ in pluralistischen Gesellschaften respektiert und der c) im Kontext der laufenden Umwandlung gerade auch europäischer Gesellschaften zu Einwanderungsgesellschaften die Eingewöhnungsschwierigkeiten für durch eher traditionelle Religiosität geprägte Migranten in säkularen Gesellschaften berücksichtigt (2009: 392f.). Etwas zugespitzt formuliert: Empirische Evidenzen lassen Habermas für eine gewisse Übergangszeit noch für ein Schutzprogramm von religiösen Weltverständnissen plädieren. Und so ist es nur konsequent, wenn diese Diskussion im Kern auf die Frage einer „Ethik des Umgangs zwischen religiösen und säkularen Bürgern in der politischen Öffentlichkeit“ für ihn hinausläuft (2007: 407). Der Bedarf für Religion bzw. genauer für religiöse Sprache ist also einer bis auf Weiteres: sie wird benötigt bis die säkulare Sprache einer diskursivierten Vernunft ihr Ausdruckspotential vollumfänglich entfaltet hat, so dass sie sämtliche Lebensvollzüge und Weltverhältnisse vollgültig und transkulturell verständlich zu explizieren vermag. Aus exakt diesem Grund scheint mir für den Dialog zwischen Habermas und Ratzinger von einem grundlegenden Missverständnis zu sprechen zu sein (vgl. Endreß 2011).

Die Reflexion auf das Verhältnis von (westlicher) Modernität und Säkularität ist bei Habermas insofern als interne Kritik konzipiert – im Unterschied zu Taylors externer Kritik. Unter dem Label der Postsäkularität geht es Habermas „um den Unterschied zwischen einem säkularen und einem säkularistischen Verständnis autonomer Vernunft“ und gegen letzteres plädiert er zunächst für die Fortsetzung eines „komplementären Lernprozess[es]“ von Religion und Vernunft (2009: 402f.), da sich der „prognostische Gehalt der Säkularisierungsthese“ einer zügig fortschreitenden Entzauberung so nicht bestätigt habe (2009: 394). Das kann man als Plädoyer für eine Form reflexiver Säkularität verstehen.

So sind sich Habermas und Taylor lediglich vordergründig einig, wenn Taylor formuliert: „Wenn sich die Palette der Religionen oder der philosophischen Grundeinstellungen erweitert, wie etwa heute in Europa oder Amerika durch den Zuzug starker muslimischer Gemeinschaften, dann entsteht Anpassungsbedarf“ (2010: 7, 17). Denn die – im Kern dann m.E. letztlich fundamentale – Differenz liegt in der Ausdeutung des in dieser Formulierung verwendeten Begriffs des Anpassungsbedarfs: für Taylor scheint er auf eine Aufforderung zu erweiterter religiöser Sensibilität hinauszulaufen, für Habermas dagegen Anlass zur Forcierung einer Übersetzung in säkular-diskursive Sprachspiele zu sein. Der Annahme nicht substituierbarer Relevanz religiösen Weltzugangs bei Taylor steht somit bei Habermas eine Relevanzannahme „bis-auf-Weiteres“ gegenüber.

IV.

Taylors Kritik am Säkularisierungstheorem setzt im Unterschied zu Habermas nicht intern an, sondern er entfaltet seine Kritik als externe Kritik. Taylor legt ein Plädoyer für umfassende Menschlichkeit vor; er votiert „gegen [die] Verstümmelung“ menschlicher Resonanzfähigkeit unter der Herrschaft des „ausgrenzenden Humanismus“ (2009a: 43, 1061, 1063). Eines Humanismus, der den modernen Menschen der Fähigkeit zur Transzendenz zu berauben scheint. Plastisch kleidet Taylor diese Diagnose in die Unterscheidung des neuzeitlich-modernen „‚abgepufferten‘ Selbst“ der entzauberten Welt von einem früheren, einstmaligen „‚porösen‘ Selbst“ der verzauberten Welt (2009a: 72-79, 234-245). Während für das poröse Selbst der frühen Zeiten „die Quellen seiner eindringlichsten und wichtigsten Gefühle außerhalb des ‚Geistes‘ liegen“, so gilt für das abgepufferte Selbst moderner Zeiten, dass es ein „begrenztes“ Selbst in dem Sinne ist, dass es der ängstigenden Einwirkung von Geistern, Dämonen und kosmischen Kräften entzogen und sich selbst die Quelle seiner eindringlichsten und wichtigsten Gefühle geworden ist.

Wie lassen sich solche phänomenologisch sensiblen, sozialtheoretisch-anthropologischen Überlegungen mit den politisch-diskursanalytisch zugeschnittenen Argumentationen von Habermas vermitteln bzw. – vorsichtiger formuliert – aufeinander beziehen? Nahezu konsequent bzw. unweigerlich scheint aus der Konzentration auf die Bedeutung des Menschen in der Schöpfung (aus der „anthropozentrischen Verschiebung“, 2009a: 380-384) und die Herausstellung seiner Differenz zum Tier, die im Vernunftvermögen gesehen wird, die Feier der Vernunft als des Organs zu folgen, mit dem allein sich die göttliche Ordnung durchdringen und erkennen lasse und somit eine privilegierte, wenn nicht absoluten Vorrang genießende Optik gewonnen sei. Entsprechend dieser Dynamik wird anderen Formen des Weltzugangs ihre Bedeutung abgesprochen und zugleich schwächt sich der Sinn für das Verborgene, das Geheimnisvolle. In der Konsequenz dieser Privilegierung liegt dann Taylor zufolge der Aufstieg der Leitidee des schon angesprochenen „ausgrenzenden Humanismus“, dessen Verdrängung des Religiösen unter der Formel der Autonomie dann als Selbstbestimmung, Selbstbeherrschung und Selbststeuerung des neuzeitlichen Subjekts gefeiert wird.

Angesichts einer solchen Dominanz kognitivistischer Weltzugänge haben es Erörterungen phänomenologischen Zuschnitts schwer – und zwar selbst dann, wenn sie eine dezidiert phänomenologische Sprache sehr zurückhaltend gebrauchen. Die Sprach- und Sensibilitätssignatur der Gegenwart ‚ist nicht danach‘. Und das gilt nicht nur für die alltäglich dominierenden Lebens- und Weltdeutungen, sondern es gilt insbes. auch für die Soziologie. Hier ist Charles Taylor – nicht zuletzt im Unterschied zu Habermas – ein Verbündeter, insofern sich sein gesamtes Werk der hermeneutisch sensiblen Erhellung menschlicher Lebensformen widmet.

Entsprechend kann für ihn eine Analyse, die sich der Selbstbeschreibung unserer Gegenwart als einer säkularisierten zuwendet, die damit behaupteten Konturen nicht einfach differenzierungsanalytisch verbuchen (also als Geschichte der institutionellen Trennung von Staat und Kirche mit der Etablierung der weltanschaulichen Neutralität des neuzeitlichen westlichen Staates; Säkularität 1), und sie kann diese in seinen Augen ebenso wenig einfach verfallsgeschichtlich als Erosion gläubiger Welthaltungen und (institutionell geformter) gläubiger Praxis (‚des Glaubens‘) deuten (d.h. als Säkularität 2). Sondern, so Taylors Auffassung, eine phänomenal adäquate, hermeneutisch sensible Beschreibung muss den abendländischen Säkularisierungsprozess – wenn er sich denn als historisch vollzogener nachweisen lässt – als Prozess der Veränderung des menschlichen Welt-, Sozial- und Selbstverhältnisses aufzeigen können (Säkularität 3). Dieses Argument bildet den Kern von Taylors Analysen.

Taylors Verständnis von Säkularität zielt also nicht wie dasjenige von Habermas auf die analytischen Konturen einer Diskursform, sondern auf einen Modus des Weltzugangs. Unter diesem Aspekt konturiert sich das Problem, das Taylor ins Auge fasst, und das Habermas gar nicht identifiziert.

V.

In zeitdiagnostischer Absicht haben wir es Taylor zufolge also mit einem ganz anderen Problem als der Frage der Legitimationsgrundlagen zu tun, nämlich mit einer Veränderung der Formen menschlichen Erlebens. Die Verlustanzeige gilt einem „Gefühl der Fülle [fullness]“ (2009a: 18-19), einem „Zustand des Erlebens“ in „unmittelbarer Gewissheit“, den wir – so Taylor – im Zuge der westlichen Zivilisationsgeschichte „großenteils verschlissen haben“ (2009a: 30). Der – wie Taylor weiß – schwierige Begriff der „Fülle“ soll auf die Dimension verweisen, die als „grundlegend für das menschliche Leben in seiner gegenseitigen Verständlichkeit“ zu betrachten ist (2009a: 845f.). Deshalb lautet Taylors Credo: „Um die Auseinandersetzung zwischen Religiosität und Irreligiosität wirklich in unserer Zeit anzusiedeln, müssen wir sie in den Zusammenhang dieser Erfahrung und der diese Erfahrung prägenden Deutungen stellen“ (2009a: 32). Und diese Erfahrung ist für Taylor gespalten: für Gläubige, also für den religiösen Weltbezug, ist er auf Transzendenz gerichtet; für Ungläubige, also für den nicht-religiösen Weltbezug, ist er auf Immanenz gerichtet (2009a: 23-25). Es ist also der jeweilige Richtungssinn des Erlebens, der diesem seine je spezifische Kontur verleiht und fallweise Kommunikabilität oder Inkommunikabilität nach sich zieht.

Es geht Taylor damit um eine im Vergleich zu Habermas gänzlich anders gelagerte Ebene der Untersuchung und des Blickes auf Prozesse der Säkularisierung. Dies lässt sich gut verdeutlichen anhand von Taylors Unterscheidung von drei historisch aufeinander folgenden Typen der Verbindung des Individuums mit dem Sakralen (2002: 83ff., 89f.; 2009a: 888f.). Danach folgt einem paläo-durkheimianischen Zeitalter und dessen fraglosen (universellen) Kollektivismus als prinzipiellem Apriori ein sog. neo-durkheimianisches Zeitalter, für das ein historisch-situativer Kollektivismus (Selbstverständigungen im kirchlichen und/oder nationalen Rahmen) und somit – methodologisch gewendet – ein situatives Apriori charakteristisch ist. Die Gegenwart dagegen ist Taylor zufolge adäquat als „post-durkheimianisches Zeitalter“ (2009a: 820), als ein „Zeitalter der Authentizität“ zu bezeichnen, in dem sich ein radikaler, bedingungsloser, expressiver Individualismus durchsetzt und als selbstverständlicher Bezugsrahmen etabliert, der methodologisch auf eine reine Situativität aposteriori hinausläuft. Diese formiert als „immanenter Rahmen“ (2009a: 903) die objektiven strukturellen Möglichkeitsbedingungen des menschlichen Strebens nach „Fülle“ in westlichen Gegenwartsgesellschaften historisch neu. Einen „Verlust an Resonanz, Tiefe oder Fülle“ durch die „Verflachung und Verengung des Lebens“ hatte Taylor – befördert durch Prozesse sowohl der „Entfremdung“ als auch der „Fragmentierung“ – bereits in seiner Studie über „Das Unbehagen an der Moderne“ ausgemacht (1995: 13, 10). Den besagten Möglichkeitshorizont gilt es Taylor zufolge für die Frage möglicher Religiosität in der modernen Welt weiter auszuloten. Taylors Plädoyer kann dabei nicht im Sinne einer reinen Feier des Pluralismus verstanden werden, denn sein kritisches Augenmerk gilt gerade den Prozessen und Risiken fortgesetzter Fragmentierungen (vgl. 1995). Taylors Losung ist die der „Fragilisierung“, des Brüchigwerdens religiöser Einstellungen. Nun lassen sich Prozesse der Fragilisierung allerdings auch strukturell neutral als Bedingungen der Möglichkeit (risikoloser) Konversionen wie auch (risikoloser) Inkongruenzen etc. (also kognitiver wie auch praktischer individueller Mobilitäten) begreifen (im Sinne historisch erweiterter Ambiguitätstoleranzen und erhöhter Kapazitäten des Aushaltens kognitiver Dissonanzen). Gleichwohl scheint der Terminus der ‚Fragilisierung‘ jedoch eher falsche Assoziationen hervorzurufen, insofern es zumindest Taylor nicht um das notwendige Brüchigwerden und die Fragilität der jeweiligen Positionen geht, zu denen oder zwischen denen man wechselt, sondern um die Signatur einer Fragilität, die ihm zufolge womöglich gerade gestärkt aus der (Dauer-)Konfrontation mit Alternativen hervorgeht. Gleichwohl: Die Dauerpräsenz von (kognitiven wie praktischen) Alternativen dokumentiert in der Lebenspraxis eingenommenen Positionen und eingeschliffenen Praktiken ebenso kontinuierlich wie eindrücklich, dass diese nicht selbstverständlich sind, und sie zehren so wie von selbst an der fraglosen Gültigkeit und dem substantiellen Gewicht dieser eingenommenen eigenen Haltungen und Handlungen. Entsprechend scheint das von Taylor bemühte Konzept der Fragilisierung im Kontext seines Ausgriffs auf ein Moment der „Fülle“ durchaus
weiterer Präzisierung zu bedürfen.

Taylors systematische These hat mit der sie anleitenden sozialtheoretischen Reflexionsperspektive dennoch zumindest den Vorzug, dass sie aufgrund ihrer Sensibilität für Erfahrungskonstellationen beides erklären kann: sowohl den Niedergang etablierter, traditioneller Formen des Religiösen wie auch die Karriere neuer Formen religiöser Weltbezüge – eine Gleichzeitigkeit des vermeintlich Ungleichzeitigen gerade in z.T. denselben Regionen der Welt wie bspw. in Europa.

Es geht Taylor um eine Schicht menschlicher Existenz, die von den Prozessen, die gewöhnlich unter dem Label „Säkularisierung“ verbucht werden, im Kern betroffen ist und deren Veränderung seiner Auffassung zufolge damit zugleich den zentralen Aspekt dieses irrigerweise zumeist ausschließlich auf gesellschaftlicher Ebene verorteten Wandels ausmacht.

VI.

In der Debatte zwischen Habermas und Taylor um Säkularität und Postsäkularität sind zweifellos Züge einer Revitalisierung der Frontlinien der Debatte zwischen Kantianismus und Kommunitarismus bzw. Neoaristotelismus im philosophischen Diskurs erkennbar. Und diese Frontlinien drücken sich in den für einen Vergleich der Auffassungen von Taylor und Habermas hinsichtlich der (Post-)Säkularitätsfrage vorstehend unterschiedenen sechs Problemaspekten durch: 1) ihrer Reflexionsebenen, 2) des jeweiligen analytischen Fokus, 3) der jeweils leitenden Modernitätsperspektive, 4) der eingenommenen Perspektive zu einer Kritik der Aufklärung, 5) der Einschätzung der Relevanz von Religion sowie 6) des die Argumentationen anleitenden Verständnisses
von Säkularität.

Auf diese sechs Punkte lassen sich die unterschiedlichen Voten von Taylor und Habermas im Kern zuspitzen. Insgesamt kommt sicherlich die grundsätzlich eingenommene Perspektive als Differenzmarkierung zwischen beiden hinzu: Während Habermas – wenn man so will – mit dem Blick der nunmehr als lernbegierig begriffenen diskursiven Vernunft analysiert, die ihren Artikulationsrahmen extensiv erweitern möchte, beobachtet Taylor aus dem Horizont einer Motivlage menschlichen Lebens, die sich aus den Quellen einer „Sehnsucht“ für eine „über das Immanente hinausgehenden“ Perspektive, aus einem originären Gemeinschaftsbedürfnis und dem Ringen um eine „bedeutungsvolle Sprache“ speist (2009a: 886ff.). Das eine wie das andere lässt sich nicht gegeneinander ‚verrechnen‘ und lassen die scheinbar gegenläufigen Diagnosen von Habermas und Taylor als unterschiedlichen Phänomenorientierungen geschuldet erkennen. Den konstitutiven Bedingungen der Möglichkeit von Religiosität geht dabei jedoch ausschließlich Taylor nach.

Literatur

Endreß, Martin (2011): „Postsäkulare Kultur“? Max Webers Soziologie und Habermas‘ Beitrag zur De-Säkularisierungsthese. In: Agathe Bienfait (Hrsg.), Religionen verstehen. Zur Aktualität von Max Webers Religionssoziologie. Wiesbaden: VS, S. 123-149.

Habermas, Jürgen (1980): Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. In: ders., Kleine Politische Schriften I-IV. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 444-464.

Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen (2001): Glauben und Wissen (Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen (2007): Replik auf Einwände, Reaktion auf Anregungen. In: Langthaler, Rudolf /Nagl-Docekal, Herta (Hrsg.): Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Wien: Oldenbourg, S. 366-414.

Habermas, Jürgen (2009): Die Revitalisierung der Weltreligionen – Herausforderung für ein säkulares Selbstverständnis der Moderne? In: ders., Philosophische Texte Bd. 5: Kritik der Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 387-407.

Habermas, Jürgen / Mendieta, Eduardo (2010): Ein neues Interesse der Philosophie an der Religion? Zur philosophischen Bewandtnis von postsäkularem Bewusstsein und multikultureller Weltgesellschaft, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58, S. 3-16.

Habermas, Jürgen / Ratzinger, Joseph (2005): Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Taylor, Charles (1995): Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Orig. 1991).

Taylor, Charles (2002): Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Taylor, Charles (2009a): Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Orig. 2007).

Taylor, Charles (2010): Für einen neuen Säkularismus. In: Transit 39, S. 5-28.


Martin Endreß ist Professor für Soziologie an der Universität Trier. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den der Autor am 3. Mai 2012 in der Reihe Beyond Myth and Enlightenment. Re-thinking Religion in the Modern World am IWM gehalten hat.

Tr@nsit online, 2012
Copyright © 2012 by the author & Transit – Europäische Revue.
All rights reserved. This work may be used, with this header included, for noncommercial
purposes. No copies of this work may be distributed electronically, in whole or in part, without written permission from Transit.