Solidarität als Prinzip und Bewegung gehört zum Gründungsmythos des postkommunistischen Polen. Dass Vertreter unterschiedlichster Gruppen der Gesellschaft zusammenarbeiteten und gemeinsam Widerstand leisteten, wird oft als Hauptmerkmal des polnischen Wegs aus dem Kommunismus betrachtet.
Angesichts dieses Erbes ist es umso merkwürdiger, dass sich in den polnischen öffentlichen Debatten der 1990er Jahre ein Stereotyp herausbildete, demzufolge die Mehrzahl der sozialen Proteste in Polen von gesellschaftlich, politisch oder ökonomisch Ausgeschlossenen ausgeht. Der typische polnische Demonstrant ist mithin entweder ein Bergarbeiter, der Reifenstapel anzündet, oder ein Bauer, der Getreide auf Bahngleise schüttet oder Straßen blockiert. Zumal unter Intellektuellen ist die Auffassung verbreitet, nach dem Systemwechsel im Jahr 1989 seien vor allem die Transformationsverlierer auf die Straße gegangen, denen es nicht gelungen sei, sich an die neue Wirklichkeit anzupassen. Wer demonstriert, gilt daher schnell als frustrierter Fanatiker oder bestenfalls als Verfechter von Partikularinteressen bestimmter Berufsgruppen.
Weil wir uns nach dem Systemwechsel nicht mehr zu solchen Höhen der Brüderlichkeit aufschwingen konnten wie Anfang der 1980er Jahre und überdies auch die Kunst des Kompromisses verlernt haben, wurde »Solidarność« mit großem S durch »solidarność« mit kleinem s abgelöst, das Symbol einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung durch ein bloßes Wort.
Sogar Leszek Kołakowski, der Nestor der liberalen polnischen Intelligenzija, warnte in seinem 2004 verfassten Essay »O solidarności z małej litery pisanej« (Über die Solidarität mit kleinem s), dass sich »(…) selbst in Gemeinschaften, die ganz dem Bösen verschrieben sind, eine getrübte Spur des Guten findet. Solidarität bedeutet ja im eigentlichen Sinne selbstlose Hilfsbereitschaft und Unterstützung derer, mit denen uns etwas verbindet. (…) So viele verschiedene Arten von Gemeinschaften es gibt, so viele verschiedene Arten von Solidarität gibt es: dauerhafte und temporäre, starke und schwache, mit guten und bösen Zielen.« Solidarität ist so gesehen keine unverzichtbare gesellschaftliche Tugend, sie ist an sich weder gut noch böse. Da sie sowohl guten als auch bösen bzw. partikulären Zwecken dienen kann, ist sie mit Vorsicht zu betrachten. Kaum vorstellbar, dass der erklärte Kritiker der kommunistischen Ideologie in den 1980er Jahren vergleichbare Vorbehalte formuliert haben könnte, war doch die gesellschaftliche Mobilisierung rund um den Begriff »Solidarität« damals so überwältigend, dass philosophische Differenzierung oder intellektuelle Distanz geradezu als Verrat gegolten hätten.
Nach 1989 fühlten sich viele ehemalige Dissidenten freilich nicht mehr gezwungen, ihre Vorbehalte gegenüber spontanen Protestbewegungen zurückzuhalten. In seinem Essay richtet Kołakowski bittere Worte an die Adresse der »Verfechter von Partikularinteressen«, die nicht für universelle Werte, sondern für eng definierte Gruppeninteressen demonstrieren: »Ideologie ist keine notwendige Voraussetzung für zweckgebundene Solidarität – streikende Bergleute oder Bauern, die zerstörerische Straßenblockaden errichten, bedürfen keiner Ideologie, sie folgen einfach dem gewöhnlichen Gefühl des unmittelbaren Interesses.« Während die Solidarität von Mafiosi oder Terroristen zum Verbrechen führt und die Verbrecher nicht von ihrer Schuld freispricht, ist die ideologiefreie zweckgebundene Solidarität schlicht eine Form von Egoismus. In ihr ist kein Raum für den großen ethischen Konflikt zwischen der Liebe zum eigenen Land und dem universellen Gegensatz von Gut und Böse. Es gibt nur einfache Interessen, kleine Sorgen kleiner Leute, die gleichwohl zerstörerische Konsequenzen haben können. Terroristen sind tragisch, Bergleute und Bauern bloß kurzsichtig. Die einen wie die anderen können sich aber als gefährlich erweisen.
Mit dem Generalverdacht gegen öffentliche Proteste, hinter denen man nicht selten den Beginn eines populistischen Umsturzes witterte, und gegen die beteiligten Personen wird, so meine ich, freilich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Auf diese Weise werden Bürgersinn und Zivilcourage unterdrückt, und die Bereitschaft zum öffentlichen Engagement schrumpft. Am Ende bewirkten nicht nur die Proteste von Bergleuten oder Bauern, sondern auch die wenigen Demonstrationen zur Verteidigung von Menschenrechten – und mithin von Werten, die selbst ein so reflektierter Skeptiker wie Leszek Kołakowski als universell und unveräußerlich angesehen hätte – allenfalls noch ein Schulterzucken. Hierin liegt die Ursache für das epidemische Schweigen zur polnischen Präsenz in Afghanistan und im Irak oder später zur Existenz geheimer CIA-Gefängnisse auf polnischem Boden, von dem sich nur eine Handvoll Aktivisten, Juristen und Intellektuelle nicht anstecken ließ.
Kein Logo, kein Risiko, kein Wandel
Vor diesem Hintergrund war es nicht übertrieben, die Welle von Demonstrationen im Januar 2012 gegen die Unterzeichnung des Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) durch die polnische Regierung als »größte Protestbewegung in der polnischen Geschichte nach 1989« zu bezeichnen. Die Teilnehmerzahl und die Reichweite der Proteste waren beispiellos (es demonstrierten Tausende junge Menschen in ganz Polen). ACTA sollte den Schutz des Urheberrechts verbessern, wurde aber nicht nur in Polen heftig kritisiert, u.a. weil die vorgesehenen Bestimmungen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit beschneiden, die Freiheit der Forschung einschränken und Innovationen insbesondere im digitalen Raum bremsen würden. Die Anti-ACTA-Proteste ließen sich nicht einfach so beiseiteschieben, denn hier ging es nicht nur um ein internationales Abkommen, das von der polnischen Regierung hätte unter den Tisch gekehrt werden können, weil es den durchschnittlichen Polen nicht betroffen hätte. Es ging vielmehr um Eingriffe in die tägliche Praxis der polnischen Internetnutzer. Und auch die Demonstranten passten so gar nicht ins stereotype Bild der polnischen Wendeverlierer – sie waren überaus gewandt im Umgang mit den neuen Technologien, viele von ihnen gehörten zu den Pionieren des polnischen Internets, und man konnte ihnen schwerlich mangelnde Anpassungsfähigkeit und Flexibilität vorwerfen. Ohne Präzedenz war auch das Resultat der Anti-ACTA-Bewegung: Die polnische Regierung änderte ihre offizielle Haltung und unterzeichnete das Abkommen nicht.
Gleichwohl hatten die Anti-ACTA-Proteste ungeachtet ihrer innovativen Form und des beispiellosen Erfolgs entscheidende Schwächen. Wie Mikołaj Rakusa-Suszczewski darlegt, verhinderte die von den Demonstranten häufig verwendete Formel »NO LOGO« zwar einerseits die Vereinnahmung der Bewegung durch politische Parteien und Interessengruppen, doch andererseits legitimierte sie ebenso oft übermäßige Vorsicht und Distanzierung. Unter Berufung auf Helmuth Plessner konstatiert Rakusa-Suszczewski: »Die Jugend ist [heute] weitaus distanzierter, sie hat eine pragmatische Einstellung zu Leben und Beruf und wenn sie sich zu Heroismus durchringt, dann allenfalls anonym, denn das ist bequemer und sicherer. Das ist das Ergebnis unserer soziologisch-axiologischen Analyse der NO-LOGO-Taktik.« Auch wenn sie auf den ersten Blick alles anders machten, handelten die Anti-ACTA-Demonstranten doch aus ähnlichen Motiven wie die streikenden Bergleute oder die Bauern mit ihren Straßenblockaden – sie wurden von derselben zweckgebundenen, unideologischen und unmittelbar interessengeleiteten Solidarität angetrieben, die Leszek Kołakowski kritisiert hatte. Laut dem Bericht Obywatele ACTA (Die ACTA-Bürger) betonten die Anführer der Proteste selbst, ihr Widerstand sei im Wesentlichen ökonomisch motiviert, er resultiere unter anderem aus »der Armut Polens und anderer vom Protest erfassten osteuropäischer Länder, die am meisten von der Internetpiraterie profitieren«. Man konnte also (und tat es auch) die Demonstranten, die den freien Zugang zu Kulturgütern für alle forderten, durchaus als »Verfechter von Partikularinteressen« bezeichnen, nur dass sie im Namen einer größeren Gruppe agierten als die Aktivisten früherer Proteste. Im Unterschied zu Bergleuten oder Bauern gingen die Anti-ACTA-Aktivisten aber ein wesentlich geringeres Risiko ein, denn sie hüteten ihre Anonymität und vermieden die physische Konfrontation mit den Ordnungskräften. Obwohl der Protest die Regierung überraschte und zur Änderung ihres Standpunkts bewegte, war er in vielerlei Hinsicht für die Protestierenden bequemer und sicherer als frühere Eruptionen der Unzufriedenheit.
Die Strategie der Risikovermeidung unterschied die polnischen Anti-ACTA-Proteste deutlich von den New Yorker Aktionen gegen das Abkommen. Die größte Protestbewegung in der Geschichte Polens nach 1989 brachte keine eigene Cecily McMillan hervor. Natürlich darf man es einer sozialen Bewegung nicht als Schwäche auslegen, wenn sie ohne Gewalt, also etwa ohne gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei auskommt. Auch die Aktivisten von Occupy Wall Street betonten immer wieder den friedlichen Charakter ihres Protests und beriefen sich gern auf Mahatma Gandhi und dessen Methoden des gewaltfreien Widerstands. Gewaltverzicht heißt aber nicht unbedingt, dass man jedes Risiko meidet. Kleine mutige Gesten, etwa der Verzicht auf einen lukrativen Posten oder eine berufliche Karriere, fallen oft viel schwerer als heroische Opfer. Einer der Studenten, die im Herbst 2013 aus Protest gegen die in Bulgarien herrschende politische Korruption die Universität in Sofia besetzten, erzählte mir, er habe gerade sein Promotionsstudium begonnen, doch seit er als Demonstrant landesweit bekannt sei, habe er kaum noch Chancen, seine akademische Laufbahn fortzusetzen. Gleichwohl dachte er nicht daran, sich zurückzuziehen, die Teilnahme am Protest war ihm wichtiger. Rakusa-Suszczewski erwähnt im Bericht Obywatele ACTA ganz andere Geschichten: »Einer der Anführer der Proteste in Siedlce bekannte, er habe einst der führenden nationalistischen Jugendbewegung angehört, sich dann aber enttäuscht zurückgezogen. Er fürchtete, seine bitteren und sicher berechtigten Sorgen (…) könnten ihm schaden – ihm Feinde machen oder ihn kompromittieren. Eine ACTA-Gegnerin aus Opole reagierte wütend auf die Information, dass wir bei einem mehr oder weniger geschlossenen Treffen im Rahmen der Konferenz Generation und Protest in der Batory-Stiftung einen Dokumentarfilm zeigen. Ironischerweise berief sie sich dabei auf das Urheberrecht.«
Die Anti-ACTA-Bewegung beeindruckte durch ihr Ausmaß und ihre Konsequenz und sie erzielte konkrete Ergebnisse. Dabei war sie für die Akteure mit keinem großen Risiko verbunden. Eine gesellschaftliche Mobilisierung, die es selbst den engagiertesten Aktivisten erlaubt, ihre Individualität und Anonymität zu wahren, ist ein interessantes Phänomen. Dennoch wird man kaum erwarten können, dass sie ein ähnliches Transformationspotenzial entfaltet wie andere, »riskantere« Proteste. Çağla Aykac, eine Teilnehmerin der Proteste 2013 zur Verteidigung des Gezi-Parks in Istanbul schrieb: »Gezi erlebte man über Klänge und Gerüche. Die Menge gab den Rhythmus vor, sie schlug gegen Türen und rüttelte an Barrikaden. (…) Wenn deine Stimme zu skandieren beginnt, findest du deinen inneren Ton. Das Gas brennt in der Nase, es greift den Kehlkopf an, es treibt dir Tränen in die Augen und zerreißt dir die Lungen. Geräusche und Klänge können mitunter schmerzhaft sein. Die sanften Töne eines Klaviers oder einer Gitarre können dir den Atem wiedergeben. Als erstes musst du das Schweigen brechen. Du setzt dich in Bewegung, gehst immer tiefer in den Nebel hinein. Und dann trittst du aus ihm heraus.« Das ist eine pathetische, vielleicht etwas prätentiöse, aber umso authentischere Beschreibung dessen, was im Inneren von protestierenden Menschen vorgeht. Die Anti-ACTA-Bewegung brachte keine vergleichbaren Bekenntnisse hervor. Sie veränderte ein wenig die Wirklichkeit, doch die Verantwortlichen für diese Veränderung wollten dieselben bleiben wie vorher und sind es geblieben.
Bis 99 zählen
Protest braucht keine Begleitmusik in Gestalt zischender Tränengasgranaten oder rhythmischen Trommelns von Demonstranten. Doch er führt stets zur Konfrontation – nicht unbedingt mit den Ordnungskräften, aber doch mit anderen Standpunkten, Lebensweisen, Gruppeninteressen. Ich werfe den Anti-ACTA-Kämpfern nicht vor, dass sie sich nicht den Gummiknüppeln der Polizei aussetzten, nicht ihr Studium oder gut bezahlte Arbeitsplätze aufgaben und keine Zeltlager vor der Kanzlei des Ministerpräsidenten aufschlugen. Ich denke aber, die Anti-ACTA-Bewegung hat die Chance vertan, den verlorenen Schatz des gesellschaftlichen Engagements wiederzugewinnen. Im Geiste des NO-LOGO-Manifests gelang den Teilnehmern eine Verständigung über politische, wirtschaftliche und weltanschauliche Grenzen hinweg. Doch sie hatten nicht den Anspruch, eine langfristige gesellschaftliche Bewegung zu formen, die sich über ein konkretes Handelsabkommen hinaus auch mit anderen Problemen befasst. Indem sie eine breite, amorphe Front bildeten, ersparten sie sich die mühsame Suche nach Kompromissen zwischen konfligierenden Interessen und Weltanschauungen. Sobald die Regierung ihren Standpunkt geändert hatte, verlor die Bewegung an Schwung. Die Vergleiche mit der Solidarność-Bewegung erwiesen sich als übertrieben. Anders als die streikenden Arbeiter in der Danziger Werft gaben sich die Anti-ACTA-Kämpfer mit der Verwirklichung ihrer ursprünglichen Forderung zufrieden. Stellen wir uns vor, die Danziger Werftarbeiter wären nach Hause gegangen, nachdem Anna Walentynowicz an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war und man ihnen Lohnerhöhungen versprochen hatte. Die Geschichte wäre anders verlaufen.
Ich will damit nicht sagen, die Anti-ACTA Bewegung hätte es verpasst, Polen von einem ähnlich oppressiven Regime wie dem der 1980er Jahre zu befreien. Eine engagierte soziale Bewegung steht heute vor ganz anderen Herausforderungen. Die Gefahr liegt nicht in brutaler Unterdrückung, sondern in der Atomisierung der Gesellschaft. Der Status quo, der Protest hervorrufen müsste, besteht heute nicht in einer mittels staatlicher Gewalt aufrecht erhaltenen Illusion von Gleichheit, sondern in einem vom Staat ignorierten Fortbestand gravierender Ungleichheiten.
Mit der Parole »Wir sind die 99 Prozent« artikulierten die Occupy-Wall-Street-Aktivisten ihren Protest gegen zwei bedrohliche Tendenzen. Sie grenzten sich nicht nur im negativen Sinne von dem einen Prozent der vermögendsten Amerikaner ab – der Elite, in der das niedrigste Jahreseinkommen im Jahr 2010 eine halbe Million Dollar betrug und die über 20 Prozent des Gesamtvermögens der US-Bürger verfügt. Vielmehr handelte es sich im positiven Sinne auch um einen Aufruf zur Solidarität zwischen Absolventen, die in einen unsicheren Arbeitsmarkt drängen, Arbeitern, die schon länger um einen Arbeitsplatz kämpfen, und der Mittelschicht, der bewusst wird, dass das Versprechen eines kontinuierlich steigenden Einkommens und Lebensstandards nicht mehr gilt. Der Slogan war kein Aufruf zur Schaffung einer Utopie, in ihm manifestierte sich vielmehr der Verlust von Illusionen.
Der Schatz des gesellschaftlichen Engagements, den man in Polen während des Karnevals der Solidarność entdeckt hatte, ging verloren. Wer in den vergangenen 25 Jahren nach ihm suchte, wurde oft wie ein Verrückter behandelt, der mit irrem Blick auf eine Karte herumlief, auf der das Versteck eingezeichnet war. Dass man es je finden könnte, galt als reine Phantasie. Keine soziale Bewegung versuchte, bis 99 zu zählen. Skeptiker könnten argumentieren, im polnischen Kontext habe der Occupy-Slogan keinen Sinn, weil die ökonomische Ungleichheit in Polen weniger drastisch sei als in den Vereinigten Staaten. Das stimmt tatsächlich – laut Eurostat vereinte im Jahr 2012 das eine Prozent der reichsten Polen etwa sechs Prozent aller Einkünfte auf sich. Betrachten wir aber die reichsten zehn Prozent, so verfügen sie bereits über 27 Prozent aller Einkünfte. Darüber hinaus verharrt das ökonomische Ungleichgewicht in Polen mehr oder weniger auf demselben Niveau. Die 20 Prozent der reichsten Polen verdienen etwa fünfmal so viel wie die ärmsten 20 Prozent.
Die Demonstranten in den Vereinigten Staaten konstatierten mit Recht, die Vertiefung der ökonomischen Ungleichheit untergrabe eines der Grundprinzipien der amerikanischen Republik: das gleiche Recht auf Streben nach Glückseligkeit. Mit gleichem Recht könnten polnische Aktivisten sagen, das Akzeptieren der in Polen bestehenden Ungleichheit widerspreche dem Römischen Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, mithin einem grundlegenden Text für das Entstehen der Europäischen Union. In diesem Vertrag verpflichten sich die Unterzeichner unter anderem, »die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker als wesentliches Ziel anzustreben«. Zwar hat sich die ökonomische Ungleichheit in Polen seit dem EU-Beitritt zunächst verringert, um dann aber wenige Jahre später zu stagnieren. Daher klingt das Versprechen einer »stetigen Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen« für viele Polen wenig glaubwürdig.
Man kann die Enttäuschung über das Scheitern der Vision einer besseren Zukunft nicht in konkretes Handeln überführen, solange man sich nicht klar macht, dass dies eine gemeinsame Aufgabe ist und dass es in diesem Fall weder um Entscheidungen geht, die den Geldbeutel einzelner Berufsgruppen betreffen, noch um eine Politik, die der Weltanschauung einzelner Teile der Gesellschaft entspricht oder nicht. Das Recht auf bessere Lebensbedingungen lässt sich nicht in Kategorien der von Leszek Kołakowski so kritisch betrachteten zweckgebundenen Solidarität interpretieren. Es ist vielmehr eng mit einem zentralen Element des demokratischen Staates verbunden, dem sich sogar die skeptischsten Liberalen verpflichtet fühlen – den Menschenrechten.
Instrumentalisierte Proteste und authentisches Engagement
Nach ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen im Herbst 2015 begann die rechtsnationale Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unter Führung von Jarosław Kaczyński bald damit, alle Hindernisse für eine uneingeschränkte Machtausübung zu beseitigen. Inspiriert durch die erfolgreichen Praktiken der seit 2010 in Ungarn regierenden Fidesz-Partei schwächte die PiS die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts und brachte die öffentlichen Medien unter ihre Kontrolle. Als Reaktion darauf formierte sich das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD), dessen Name auf das berühmte, 1976 von antikommunistischen Intellektuellen gegründete Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) verweist, das nach einer Welle von Streiks und Arbeiterprotesten in Radom, Ursus und Płock den von Repressionen betroffenen Arbeitern half. Ähnlich wie seinerzeit KOR wollte auch KOD über gesellschaftliche Trennlinien hinweg alle Bürger mobilisieren, die Menschenrechte und demokratische Werte für unveräußerlich halten. Den Höhepunkt der Aktivitäten des Komitees bildete eine Demonstration in Warschau am 7. Mai 2016, bei der schätzungsweise 240 000 Menschen auf die Straße gingen. Man sprach vom »Erwachen der Bürger«. Le Monde und die schwedische Dagens Nyheter schrieben von den größten Bürgerprotesten nach 1989. Es schien, als bringe die PiS-Regierung die Polen dazu, den verlorenen Schatz des gesellschaftlichen Engagements wiederzuentdecken.
Im Nachhinein fällt es leicht, diese Hoffnung als allzu optimistisch abzutun – inzwischen ist das Verfassungsgericht als Kontrollorgan der Regierungspolitik faktisch lahmgelegt, die Hauptnachrichtensendung des öffentlichen Fernsehens berichtet im völligen Einklang mit der Linie der Regierungspartei und der Anführer der KOD-Bewegung wird von Gegnern und Mitstreitern öffentlich kritisiert, weil er auf undurchsichtige Weise von Geldern des Komitees profitierte. Tatsächlich aber konnte man schon auf dem Höhepunkt der gesellschaftlichen Mobilisierung bezweifeln, dass sich im Komitee zur Verteidigung der Demokratie wirklich die über alle Parteigrenzen und sozialen Trennlinien hinweg wiederbelebte Solidarität im Namen grundlegender demokratischer Werte manifestierte.
Bei der Demonstration am 7. Mai 2016 marschierten in der ersten Reihe auch die Vorsitzenden der Oppositionsparteien mit, was den begründeten Verdacht weckte, abgewählte Politiker wollten die KOD-Bewegung instrumentalisieren, um wieder selbst an die Regierung zu kommen. Das rückte die KOD-Demonstrationen nolens volens in die Nähe einer in den letzten Jahren von Parteien in Mitteleuropa neu entwickelten Strategie, die – mit dem Signum der Spontaneität und Authentizität versehene – Straßenproteste als Fortsetzung der Parteipolitik mit anderen Mitteln betrachtet. Mateusz Falkowski vom Warschauer Collegium Civitas, ein Experte für soziale Bewegungen, weist zu Recht darauf hin, dass lange bevor sich Politiker der Bürgerplattform (PO) den Protesten gegen die PiS-Regierung anschlossen, die PiS selbst mithilfe sympathisierender Organisationen vor allem aus dem Umfeld der rechten Tageszeitung Gazeta Polska und dem nationalkatholischen Radionsender Radio Maryja das sogenannte »Smolensker Monatsgedenken« in Erinnerung an den Tod des Staatspräsidenten Lech Kaczyński und der ihn begleitenden Delegation bei der Flugzeugkatastrophe in der Nähe von Smolensk am 10. April 2010 sowie den »Marsch der Unabhängigkeit und Solidarität« zum Jahrestag der Einführung des Kriegsrechts ins Leben gerufen hatte. Wie im Fall der Ausschaltung des Verfassungsgerichts konnte sich die PiS dabei fertiger Muster aus Ungarn bedienen. Falkowski zeigt, wie die Fidesz-Partei aus der Opposition heraus eine gesellschaftliche Bewegung aufbaute, indem sie 10 000 lokale Zellen schuf, in denen politische Debatten stattfanden und in denen der Boden für die kommende Machtübernahme bereitet wurde.
Proteste und gesellschaftliche Bewegungen, die von politischen Parteien geschaffen wurden oder sich durch politische Parteien vereinnahmen lassen, schaffen es selten, dem von ihnen postulierten Prinzip umfassender Solidarität dauerhaft treu zu bleiben und sich zum Beispiel selbst als neue politische Parteien zu formieren. Die Großstadtbewohner vergessen bei ihren Demonstrationen leicht die weniger vermögenden Mitbürger aus der Provinz, und die »wahren Patrioten« beschwören auf ihren Kundgebungen einen Nationsbegriff, in dem für Andersgläubige oder Andersdenkende kein Platz ist. Doch allein die Tatsache, dass die einander bekämpfenden politischen Parteien Mitteleuropas – unabhängig davon, ob an der Regierung oder in der Opposition – sich über soziale Proteste zu legitimieren versuchen, ist bezeichnend. Sie zeugt davon, dass es in der Region ein echtes Bedürfnis nach Solidarität gibt, das freilich bislang allenfalls durch Ersatzmittel und Surrogate gestillt wird.
Kein Surrogat war hingegen der sogenannte »Schwarze Protest« am 3. Oktober 2016. In ganz Polen demonstrierten Frauen aus allen sozialen Milieus und aus verschiedenen politischen Lagern gegen einen Gesetzesentwurf der Regierungspartei zur Verschärfung des Abtreibungsrechts. Die Umfragewerte der PiS verschlechterten sich merklich, die Regierung war gezwungen, den Gesetzesentwurf zu verwerfen. Die Verteidigung der reproduktiven Rechte erwies sich als Grundlage authentischer Solidarität, doch man befürchtete, der Frauenprotest könne nach Erreichung des unmittelbaren Ziels ebenso schnell im Sande verlaufen wie die Anti-ACTA-Bewegung. Doch die Forderungen der Frauen verschwanden nicht aus der öffentlichen Debatte. Für den 8. März 2017 wurde der nächste »Schwarze Protest« angekündigt und wieder gab es zahlreiche große Demonstrationen. In den entsprechenden Aufrufen formulierten die Organisatorinnen ein breites Spektrum weiterer Forderungen, darunter die Verbesserung der Schwangerschafts- und Geburtenfürsorge und der Zugang zu Empfängnisverhütungsmitteln, aber auch der Rückzug der Religion aus der Schule. Man muss abwarten, wie erfolgreich diese Bewegung langfristig sein wird. Postulate wie Trennung von Kirche und Staat, welche die Trennlinien zwischen Liberalen und Sozialisten, aber auch zwischen den Generationen und Geschlechtern überschreiten, weisen darauf hin, dass authentische Solidarität in Polen weiblich sein könnte.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
Anmerkungen
Mikołaj Rakusa-Suszczewski, »Komunikat NO LOGO«, S. 108.
Mikołaj Rakusa-Suszczewski, »Komunikat NO LOGO«, S. 104.
Dave Gilson, »Who Are the 1 Percent?”, in: Mother Jones, 1.10.2011.
http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=en&pcode=tsdsc260&plugin=1
Mateusz Falkowski, Marching Democracy, »Eurozine«, 28.04.2016.