Innerhalb der gegenwärtigen sozial- und politikwissenschaftlichen und normativ-philosophischen Diskussion ist Religion zu einem zentralen Thema aufgestiegen. Nicht nur das Verhältnis von Religion und Politik steht zur Debatte, sondern auch die Bedeutung des Säkularismus und sein Stellenwert für die liberale Gesellschaftstheorie und für das Selbstverständnis der politischen Philosophie.
(1) Säkularisierung, Säkularität, Säkularismus
Die Sozial- und Politikwissenschaften sind moderne Wissenschaften. Die gängige Ansicht lautet, dass die Moderne einen Bruch mit der vor-modernen, von Religion und Tradition bestimmten Vergangenheit markiert, und es fortan diesen Wissenschaften zukommt, Formen und Regeln des menschlichen Zusammenleben zu analysieren und zu deuten. In Hinblick auf die Religion bedeutet dies, dass die Sozial- und Politikwissenschaften der Religion zuallererst negativ begegnen: das Religiöse bildet in dieser Modernisierungserzählung den Punkt, von dem aus sich die moderne Gesellschaft entwickelt, indem sie sich von ihm abkehrt und sich seiner Kontrolle entzieht. Innerhalb dieser Realität existiert Religion zwar weiter, allerdings lediglich als ein spezifischer Funktionsbereich der ausdifferenzierten modernen Gesellschaft. Moderne Sozial- und Politikwissenschaften anerkennen die sozialintegrative Funktion von Religion, aber der behauptete Transzendenzbezug praktizierter Religion erscheint dem modernen Wissenschaftler als Anachronismus oder falsches Bewusstsein.
Philosophie ist in einer ähnlichen Ausgangslage. Kants Religionskritik leitete die Zähmung der Religion durch die Vernunft ein. Das Vernunftgebot, welches fortan die Philosophie der Aufklärung bestimmte, definierte Hegel als Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung und machte damit deutlich, dass die moderne Philosophie von den Glaubensgeboten der Religion nicht bloß unabhängig ist, sondern vielmehr eine Alternative darstellen soll. Politische Philosophie käme demnach die Aufgabe zu, ethische Prinzipien für das gedeihliche Zusammenleben von Menschen in einer Gemeinschaft zu formulieren, ohne dabei auf Religion zurück zu greifen oder sich selbst in eine Form von Religion zu verwandeln. Habermas weist jedoch darauf hin, dass dieser Anspruch moderner politischer Philosophie im Laufe des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt durch die viel beschriebene Rückkehr der Religion unter Druck geraten ist:
„Das Selbstbewusstsein verdankt sich dem Zuwachs an Reflexivität im Zustand einer Dauerrevision verflüssigter Traditionen; die Selbstbestimmung verdankt sich der Durchsetzung des egalitär individualistischen Universalismus in Recht und Moral und die Selbstverwirklichung dem Zwang zu Individuierung und Selbststeuerung unter Bedingungen einer hochabstrakten Ich-Identität. Dieses Selbstverständnis der Moderne ist auch ein Ergebnis der Säkularisierung, also der Ablösung von den Zwängen politisch machthabender Religionen. Aber heute ist jenes normative Bewusstsein nicht nur von außen durch die reaktionäre Sehnsucht nach einer fundamentalistischen Gegenmoderne bedroht, sondern auch aus dem Inneren einer entgleisenden Modernisierung selber.“
Das normative Bewusstsein moderner politischer Philosophie wird durch die Rückkehr der Religion ebenso herausgefordert wie durch die Einsicht, dass moderne Politik in totalitäre „religiöse“ Politik „entgleisen“ kann. Beides führt zu einer kritischen Reflexion über Grundannahmen der säkularen Moderne, der die Philosophie und die Sozial- und Politikwissenschaften insgesamt betrifft. Am Bedeutungswandel dreier Begriffe – Säkularisierung, Säkularität und Säkularismus – kann man dieses Umdenken gut darstellen und den geistigen und praktischen Hintergrund für eine postsäkulare politische Philosophie ablesen:
(a) Säkularisierung beschreibt den historischen Prozess der Trennung von Politik und Wissenschaft von der Religion, der zu Beginn der Neuzeit stattfindet. Darüber hinaus bezeichnet Säkularisierung die funktionale Ausdifferenzierung, Privatisierung und den Niedergang von Religion in modernen Gesellschaften. Die historische und soziologische Angemessenheit dieser Definition und der Status der Säkularisation als soziologisches “Paradigma” werden durch die Rückkehr der Religion in Frage gestellt. Peter L. Berger, der in den 1960ern einen unwiderruflichen Niedergang der Religion vorhergesehen hatte, stellt heute fest, dass die Säkularisierungsthese falsifiziert worden ist. Für José Casanova ist die Annahme, dass das europäische Modell der Säkularisierung eine tragfähige Formel für das Verhältnis von Religion und Politik gefunden hätte, falsch. Er weist darauf hin, dass der angebliche Ausgangspunkt des säkularen modernen Staatensystems, der Friedensvertrag von Westfalen, nicht den säkularen, sondern den konfessionell homogenen Staat hervorgebracht und existierende Spannungen zwischen Religion und Politik ungelöst gelassen hat. Sein Buch Public Religions in the Modern World ist eine Bestandsaufnahme von Ereignissen, in denen Religionen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine wichtige öffentliche und politische Rolle gespielt haben; entgegen allen Annahmen der Säkularisierungsthese, laut derer Religion sich in der Moderne zunehmend in den Bereich des Privaten zurück zieht. Es ist außerdem darauf hingewiesen worden, dass die Säkularisierungsthese als These vom Niedergang der Religion in erster Linie die europäische Erfahrung wiedergibt, im Rest der Welt aber kaum eine Entsprechung findet.
Die neuere historische, soziologische und politische Forschung zu Religion stellt das Narrativ einer progressiven, mit Modernisierung einhergehenden Säkularisierung in Frage. Die Debatte weist heute in eine Richtung, die Säkularisierung nicht mehr als „Paradigma“ oder „These“ verstanden wissen will, sondern sie in einem sehr viel engeren Sinne einfach als historischen Prozess begreift, der in seinem regional und zeitlich unterschiedlichem Verlauf verstanden werden muss. Die ambivalenten Folgeerscheinungen dieses Prozesses werden stattdessen anhand zweier weiterer Begriffe präzisiert: Säkularität und Säkularismus.
(b) Säkularität beschreibt einen Zustand oder eine Verfasstheit: die Verfasstheit des modernen Subjekts, für welches die Möglichkeitsbedingungen religiösen Glaubens in der Moderne radikal andere sind als in vormodernen oder traditionalen Gesellschaften, sowie die Verfasstheit moderner Institutionen und Praktiken, die nicht länger an eine Religion gebunden sind. Mit der Rückkehr der Religion allerdings verschiebt sich der Blick der Forschung von der Untersuchung des Niedergangs oder der Abwesenheit von Religion hin zur Beschreibung ihrer vielgestaltigen Permanenz. Diese Permanenz manifestiert sich zum einen auf der Ebene individueller religiöser Erfahrung, zum anderen in modernen Institutionalisierungen des Verhältnisses von Politik und Religion.
Grace Davies Untersuchungen zum Fortbestehen individueller religiöser Verhaltensformen außerhalb kirchlicher Kontexte geben anschaulich Beispiel für die Permanenz von Religiosität unter Bedingungen der Moderne. Erfahrungen der Selbsttranszendierung – neben religiösen Gefühlen und mystischen Zuständen auch überwältigende Naturerlebnisse, Liebeserfahrungen oder andere Ereignisse, in denen sich Menschen auf die eine oder andere Art und Weise „ergriffen“ fühlen – sind beobachtbare und beschreibbare Phänomene, die in der modernen wissenschaftlichen Arbeitsteilung in erster Linie als Gegenstand der Religionssoziologie Beachtung finden. Es ist das Verdienst der kommunitaristischen politischen Philosophie, darauf hingewiesen zu haben, dass es sich dabei um politisch relevante Formen der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung handelt; selbst wenn sich die Möglichkeitsbedingungen für religiöse Erfahrung und Glauben in der Moderne radikal verändert haben. Säkularität steht aus dieser Forschungsperspektive für ein wissenschaftliches Selbstverständnis, das hinter individuellen religiösen Erfahrungen und Verhaltensweisen nicht von vorneherein ein vormodernes oder „falsches“ Bewusstseins vermutet, sondern der Möglichkeit und praktischen Bedeutung von Transzendenzerfahrungen Rechnung trägt.
Der Begriff Säkularität dient darüber hinaus zur Beschreibung der Verfasstheit moderner Institutionen und politischer Praktiken. Diese sind in der Regel zwar nicht länger an eine Religion gebunden, vielerorts haftet ihnen aber dennoch ein religiöses Erbe an, das es sichtbar zu machen gilt. Ist es auf der individuellen Ebene vor allem die Religionssoziologie, welche die Permanenz des Religiösen beschreibt, so hat für lange Zeit auf politikwissenschaftlicher Ebene das Staats-Kirchen-Recht eine ähnliche Rolle eingenommen. Vergleichende Studien moderner Institutionalisierungen von Staats-Kirchen-Verhältnissen dienen in erster Linie dazu, die Grenzen der Säkularität der modernen Staatssysteme auszuloten und nachzuweisen, dass die Trennung von Politik und Religion in der Moderne nicht so eindeutig ist, wie die Säkularisierungsthese glauben machen wollte.
Zusammengefasst, der Schwenk des Augenmerks von Säkularisierung als Prozess hin zur Säkularität als Zustand, im Englischen oft als „the secular“ bezeichnet, bringt die Ambivalenz der gleichzeitigen Abwesenheit bzw. Überwindung und Permanenz bzw. Rückkehr von Religion in der Moderne zum Ausdruck, eine Ambivalenz, der die klassischen Säkularisierungstheorien von Max Weber und Émile Durkheim durchaus Rechnung tragen.
(c) Säkularismus beschreibt ein bestimmtes Set an ethischen und politischen Prinzipien, in deren Zentrum die Trennung von Politik und Religion festgeschrieben ist. Die genaue Definition dieser Prinzipien und damit des Säkularismus selbst steht unter dem Eindruck der Rückkehr der Religion allerdings erneut zur Debatte; mit der Folge, dass möglicherweise sogar das Präfix post- notwendig wird, um den Bedeutungswandel deutlich zu machen: Post-Säkularismus. Der Grund für diese Neubestimmung des Säkularismus liegt allerdings nicht alleine in der Rückkehr der Religion, sondern auch in einem generellen Bewusstseinswandel in der modernen Wissenschaft und Philosophie, der sich gegen -ismen verschiedenster Art richtet. Gemeint ist der linguistic turn.
Der linguistic turn und die mit ihm verbundenen theoretischen Schulen des Konstruktivismus und der Diskursanalyse stellen die universalistischen Ansprüche der modernen Wissenschaften und Philosophie in Frage, indem sie unter Rückgriff auf die Wittgenstein’sche Sprachphilosophie die Möglichkeit von sprachunabhängiger Welterkenntnis in Abrede stellen. Wir verstehen die Welt immer mittels der Sprache, die wir zur Verfügung haben. Ein kontextunabhängiger, für alle Menschen identischer Zugang zur Wirklichkeit ist nicht möglich. Wenn Prozesse der Wissensgenerierung, -aneignung und -vermittlung in sprachliche Muster eingebettet sind, können sie nicht mehr als universal gültig betrachtet werden. Sie gelten dann als „große Erzählungen“, die sich selbst legitimieren. Jean-François Lyotard, der das moderne Wissenschaftsverständnis in diesem Sinn kritisiert hat, nannte die durch den linguistic turn eingeforderte Haltung postmodern. Er verstand seine Kritik an Metanarrativen als Einspruch gegen vorherrschende Machtverhältnisse.
Wenn man diesen theoretischen Hintergrund mitdenkt, gewinnen die Debatte um den Begriff Säkularismus und der Zusatz des Präfixes post- größere Klarheit. Von einem konstruktivistischen Standpunkt aus betrachtet, erscheint das säkularistische Selbstverständnis der Moderne als eine „große Erzählung“ und der Säkularismus als mögliche Form politischer Autorität. Dies ist zumindest die Schlussfolgerung, die William Connolly in seinem Buch Why I Am Not a Secularist zieht. Connolly kritisiert darin die weit verbreitete Haltung in den Sozial- und Politikwissenschaften, im Säkularismus das einzig richtige Bewusstsein sehen zu wollen. Er beschreibt Säkularismus als eine Weltanschauung neben anderen und schlägt vor, die Existenz anderer religiöser und metaphysischer Vorstellungen von politischer und sozialer Ordnung (er spricht auch von „fundamental perspectives“) anzuerkennen. Diesen Ansatz finden wir auch bei Elizabeth S. Hurd, die Autoritätsmuster im Säkularismus-Diskurs untersucht hat. Sie unterscheidet zwischen Laizismus und jüdisch-christlichem Säkularismus als zwei Spielarten ein- und desselben dezidiert westlichen Religions- und Politikverständnisses. Beide Spielarten „konstruieren“ den Säkularismus auf der Basis westlicher ontologischer Kategorien und blenden andere mögliche „Ontologien politischer und religiöser Ordnung“ aus. Gerade weil Hurd aus der Perspektive der internationalen Beziehungen schreibt, macht ihr Beitrag besonders deutlich, worum es in der Kritik am Säkularismus-Begriff geht: Säkularismus kann als westliche und antireligiöse Ideologie verstanden werden. Um dies zu vermeiden und vor dem Hintergrund des linguistic turn und der damit einhergehenden Absage an Essenzialismen aller Art, wird der Begriff Säkularismus fortan am besten dekonstruktiv, in Hinblick auf seinen begrenzten Geltungsanspruch verwendet.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Rückkehr der Religion eine größere konzeptuelle Trennschärfe in den modernen Sozial- und Politikwissenschaften und politischen Philosophie notwendig macht. Anstatt pauschal von der Säkularisierung als Paradigma auszugehen, steht Säkularisierung in der aktuellen Debatte für einen räumlich und zeitlich definierten Prozess, Säkularität für eine bestimmte Art individueller und politisch-institutioneller Verfasstheit und Säkularismus für einen in seiner Begrenztheit zu begreifenden Machtdiskurs. Für die politische Philosophie hat diese Re-Konzeptualisierung des Säkularen epistemologische und methodologische Konsequenzen:
2. Practice turn
Es gehört zur Aufgabe politischer Philosophie, jene normativen Grundsätze zu formulieren und zu begründen, die in einer Gesellschaft ein gerechtes, gedeihliches und freies Zusammenleben ermöglichen. Diese Aufgabe ist durch eine mit Globalisierung, Immigration und Religion verbundene Pluralisierung komplizierter geworden. Postsäkulare politische Philosophie reagiert auf diese Veränderungen mit einem practice turn. Dieser Begriff findet sich, wohlgemerkt, nicht in den Texten jener Autoren, die ich als Belege für diese Wende anführe. Er könnte aber, so mein Vorschlag, der gemeinsame Nenner sein, der ihr normatives und empirisches Programm beschreibt und dessen Anliegen Tariq Modood folgendermaßen formuliert:
„Our starting point should be […] actual societies, actual multicultural situations, actual multicultural crises, actual political institutions, norms, traditions, and so on. Theories that are normatively relevant to, say, actual multicultural situations and multicultural crises must demonstrate that they map on to those situations in a sufficiently accurate way and cannot take for granted that principles derived from abstract theorizing do indeed fit the situations and do not misread them or distort them through oversimplifications, non sequiturs, and so on.”
Veit Bader, der ebenfalls als Vertreter dieser Wende interpretiert werden kann, bringt den epistemologischen practice turn auf ähnliche Art und Weise auf den Punkt: „It is important to demonstrate the huge gap between ideal models of strict separation and the actual muddle we live in.“ Nicht „ideal models“ oder „abstract theorizing“ liefern uns Wissen über das Verhältnis von Religion und Politik, sondern der Blick auf das, was um uns herum stattfindet, auf „the actual“. Der Begriff practice turn entspricht weitgehend dem, was Bader als „institutional and attitudinal turn in political philosophy, political theory and the social sciences“ beschreibt: „[…] institutions and contexts are more worthy of attention in analysis than they were assumed to be […].” Bader geht davon aus, dass unsere Interpretationen des Verhältnisses von Religion und Politik und unsere normativen Annahmen über die richtige oder falsche Ausgestaltung dieses Verhältnisses stark von herrschenden Institutionalisierungen der „religious governance“ beeinflusst sind, ohne dass wir uns dieses Umstands notwendigerweise bewusst sind. Im Vergleich der von Land zu Land verschiedenen Arrangements wird deutlich, dass es kein Modell gibt, das für alle Kontexte passend ist. Bader beharrt daher auf einer vergleichenden Analyse und Bewertung empirisch feststellbarer Institutionalisierungen von Staats-Kirchen-Verhältnissen, auf Basis derer es möglich sein sollte, theoretische und normative Schlussfolgerungen zu ziehen. Normativer Kern dieser Herangehensweise ist der Gedanke, dass etablierte Institutionen und Praktiken eine Form von „Weisheit“ beinhalten, die in den verfügbaren Theorien nicht zum Ausdruck kommt.
Joseph Carens hat diese „contextual approach to political theory“ folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „In a contextual approach to theory, one moves back and forth between practice and theory, connecting theoretical claims about justice, equality, freedom, and other moral categories to actual cases and practices where we have some intuitive views about the rightness or wrongness, goodness or badness of what is going on. The idea is to engage in an ongoing dialectic that involves mutual challenging of theory by practice and of practice by theory.” Die Idee lautet also, dass die Reflexion „guter Praxis“ zu einer „besseren Theorie“ führt, die wiederum, als kontexttranszendierende Theorie, die Hinwendung zu besseren Praktiken ermöglicht.
Für einen epistemologischen practice turn in der politischen Theorie steht auch Will Kymlickas Politics in the Vernacular. Er formuliert sein Anliegen, nicht auf das Thema Religion beschränkt, sondern allgemein in Hinblick auf Minderheitenpolitik, auf ganz ähnliche Art und Weise wie Bader und Modood: “There is a gulf between the real world of liberal democracies, which exhibit these complex combinations of state nation-building and minority rights, and the world of liberal political theory, which has largely ignored the way that liberal states are actively implicated in issues of nationhood and minority rights.” Kymlickas Anspruch: “[…] to close this gap between the theory and practice of liberal states, and to develop a theory that would help us to understand and evaluate these important real-world practices of nation-building and minority rights.”
Mit Blick auf die Werke von Bader, Modood und Kymlicka wird ersichtlich, dass sich mit dem practice turn eine neue wissenschaftliche Textsorte etabliert, in der die Empirie verhältnismäßig viel Raum einnimmt, während die philosophischen Fragestellungen den Rahmen bilden, der den Zugriff auf die Wirklichkeit steuert. Die Texte lassen sich zum Teil daher sowohl als politikwissenschaftliche bzw. soziologische wie auch als philosophische Beiträge lesen. Bei Modood finden wir diesen theoretischen und methodologischen Ansatz folgendermaßen beschrieben: „I have not systematically attempted to construct or expound a theory, but to recognize that some kind of theory or frame is being used. My approach is hybrid or, to use a more self-congratulatory term, interdisciplinary. My empirical analyses are sociological of a kind; the loose frame in which they are held together […] is more normative than explanatory. While I want to understand and explain events and discourses that I see as important, I identify these through an unhidden normative orientation.”
Methodologisch bedeutet der practice turn für die politische Philosophie, erstens, dass sie verstärkt in einem interdisziplinären Zusammenhang mit den Sozialwissenschaften und ihren empirischen Methoden steht. Damit verbunden sind die Auseinandersetzung mit einem breiten politikwissenschaftlichen, religionswissenschaftlichen und möglicherweise theologischen Literaturapparat und die Zusammenarbeit mit Fächern wie Religionswissenschaft, Religionssoziologie, Anthropologie, Politikwissenschaft, Staats-Kirchen-Recht und Theologie und Geschichte. Die zweite methodologische Konsequenz lautet, dass vergleichende Verfahren gegenüber Einzelstudien an Bedeutung gewinnen: zum einen der Vergleich verschiedener Institutionalisierungen und Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Religion und Politik, zum anderen der Vergleich von Religionen oder von Stimmen innerhalb einer Religionsgemeinschaften. „Our images of secularism are often more fixed than our practices of it“ schreibt zum Beispiel Geoffrey Levey in der Einleitung zu einem Sammelband und bringt damit zum Ausdruck, dass der Vergleich von praktischen Arrangements eine größere Bandbreite an Konzepten zum Vorschein bringt, als dies bei einer Einzelstudie der Fall wäre. Vergleichende Perspektiven sind auch wesentlich für die Erfassung der „Vielstimmigkeit“ von religiösen Doktrinen: „Die verschiedenen Religionen treten uns nicht als monolithische Blöcke entgegen. Im Gegenteil zeichnen sie sich durch innere Pluralität verschiedener Strömungen aus, die durchaus im Widerspruch und in Konkurrenz zueinander stehen. Innerhalb jeder dieser Strömungen ist darüber hinaus mit verschiedenen Traditionsschichten zu rechnen, die die Ambivalenz und Komplexität der jeweiligen Religionen noch weiter erhöhen.“ Diese Vielstimmigkeit innerhalb einer religiösen Tradition kann nur mittels vergleichender Analyse erfasst und beschrieben werden.
Vergleichende Verfahren sind zielführend, wenn es um die normative Einschätzung von Entwicklungen innerhalb einer Religion geht. Liedhegener hat, zum Beispiel, in Bezug auf das Zweite Vatikanische Konzil der katholischen Kirche darauf hingewiesen, dass die „von Sozialwissenschaftlern kaum gewürdigten innerkatholischen Veränderungen […] darauf aufmerksam [machen], dass religiöse Überlieferungen und Traditionen selbst keine statischen philosophischen Gebäude sind, sondern Deutungskulturen, die sich zum Teil mit einer erstaunlichen Flexibilität an sich ändernde politische Rahmenbedingungen anzupassen wissen.“ Er schließt daraus, dass das Wissen um solche Entwicklungsmöglichkeiten für Debatten um die Demokratiefähigkeit von anderen religiösen Traditionen, insbesondere des Islam, von Nutzen sein kann. In eine ganz ähnliche Richtung geht ein Aufsatz von Casanova, in dem die Modernisierungsbestrebungen der katholischen Kirche und des Islam verglichen werden. Der Gedanke hinter solchen vergleichenden Studien ist, dass Modernisierungsprozesse in religiösen Gemeinschaften untereinander vergleichbar und gegen die Folie besser erforschter Entwicklungen, wie jener der katholischen Kirche, leichter erkenn- und interpretierbar sind.
Der epistemologische practice turn in der politischen Philosophie hat zunächst also ganz konkrete Konsequenzen in Hinblick auf die Art und Weise, wie politische Philosophie betrieben wird. Anstatt über die Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens vom unabhängigen Standpunkt transzendentalisierter Vernunft nachzudenken, so wie es dem ursprünglichen Selbstverständnis moderner Philosophie entsprechen würde, werden Hinweise auf diese Prinzipien nunmehr in der Praxis gesucht. Eine solche politische Philosophie ist auf Interdisziplinärität und Empirie angewiesen, und auch wenn es ihr Ziel bleibt, kontexttranszendierenden Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens zu beschreiben, ihre Formulierung bleibt doch an die Praxis rückgebunden.
3. Praxis und Normativität
Es sollte nicht aus den Augen verloren werden, dass der practice turn in gewisser Hinsicht einen Ausweg aus einer festgefahrenen normativen Diskussion darstellt, bei der von der einen Seite die mögliche Feststellung von rationalen und allgemeingültigen Regeln menschlichen Zusammenlebens behauptet wird, während von der anderen Seite die Existenz solcher Regeln in Abrede gestellt wird. Habermas hat diese Debatte zugespitzt als Auseinandersetzung zwischen „Aufklärungsfundamentalisten“ und „relativistischen Multikulturalisten“ beschrieben. Der practice turn könnte der unfruchtbaren Debatte zwischen dem Liberalismus und dem Multikulturalismus ein Ende setzen beziehungsweise die Pattstellung zwischen modernem Universalismus und Pluralismus aufheben. Die Frage, die sich die postsäkulare politische Philosophie stellt, ist, wie Regeln für ein gerechtes und demokratisches Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft begründet werden können, ohne sie als Prinzipien einfach zu postulieren und ohne ihre Festlegung partikularen und möglicherweise miteinander unvereinbaren Kontexten zu überlassen. Die Besonderheit der durch einen practice turn gekennzeichneten postsäkularen politischen Philosophie läge demnach darin, diese Regeln auf der Basis einer Auseinandersetzung mit konkreten Praktiken und in Verschränkung von normativer Theorie und Empirie beschreiben und theoretisieren zu wollen.
Zwar versteht Modood seinen Ansatz als Alternative zu „normative theory as it is typically discussed by Anglo-American political theorists“ und entwickelt Bader seinen Standpunkt in polemischer Abgrenzung von John Rawls, aber es spricht nichts dagegen, das Spätwerk von Rawls als Baustein eben dieses practice turn zu lesen. Dies zumindest ist das Anliegen von Alessandro Ferrara, einem weiteren Vertreter postsäkularer politischer Philosophie, der zwischen dem frühen und dem späteren Werk von Rawls und Habermas eine schrittweise Entwicklung von einem konstruktivistischen zu einem kontextualen Ansatz ausmacht. Während Rawls und Habermas in ihrem Frühwerk nämlich noch darüber nachdenken, welche Regeln in einem idealisierten Zustand der diskursiven Gleichheit für das Zusammenleben festgelegt würden, und sie davon ausgehen, dass die erfolgreiche Feststellung solcher Regeln – vorausgesetzt alle Bedingungen der idealen Sprechsituation sind erfüllt – möglich ist, lautet ihre Frage in späteren Texten, wie normative Gültigkeit im Kontext widerstrebender weltanschaulicher Ausgangspositionen in einer Gesellschaft erreicht werden kann.
Vor allem bei Habermas, der seine Philosophie als „nachmetaphysisch“ und „detranszendentalisiert“ begreift, wird dieser kontextuale Ansatz deutlich. In Hinblick auf das Verhältnis von Religion und Politik ist die Einbeziehung der praktischen Sphäre eine logische Konsequenz seines normativen Anliegens: Seinem Konzept der postsäkularen Gesellschaft liegt die Beobachtung zu Grunde, dass der moderne säkulare Staat nicht alle Bürger als gleichberechtigt behandelt, wenn er religiöse Äußerungen aus der öffentlichen Debatte ausnimmt. Es könnte dabei die institutionelle Trennung von Religion und Politik zu einer unzumutbaren mentalen und psychologischen Bürde für religiöse Bürger werden. In einer postsäkularen Gesellschaft sollten sich nicht-religiöse und religiöse Bürger daher einer gegenseitigen „Übersetzungsleistung“ verpflichtet fühlen, die zu einer „ reziproken Verschränkung sozialer Welten“ führt. „Die streitenden Parteien lernen, sich gegenseitig in eine gemeinsam konstruierte Welt so einzubeziehen, dass sie dann kontroverse Handlungen im Lichte übereinstimmender Bewertungsstandards beurteilen und konsensuell lösen können.“ Diese Übersetzungsarbeit setzt freilich auf Seite nicht-religiöser Bürger einen „Mentalitätswandel“ und auf Seite religiöser Bürger einen „Formwandel des religiösen Bewusstseins“ voraus, „verstanden als die Fähigkeit, die Tatsache des Pluralismus und die Partikularität der eigenen Position anzuerkennen sowie die Bereitschaft, in faire Kooperation miteinander zu treten, eine Kooperation, die auf Prinzipien beruht, die alle teilen können.“ Habermas setzt in der Konzeptualisierung der gegenseitigen Übersetzungsleistung voraus, dass die streitenden Parteien sich „vernünftig“ verhalten, nicht im Sinne einer als universal angenommenen „Vernunft“, sondern im Sinne einer der Situation gerecht werdenden „Vernünftigkeit“.
Die Beschreibung und Feststellung eines solchen Mentalitäts- bzw. Formwandels verlangt von der Philosophie eine empirische Rückbindung an reale Debatten und Kontexte. Ferraras Aufsatz „Religion und postsäkulare Vernünftigkeit“ endet daher nicht zufällig mit einer Diskussion der spezifischen Situation Italiens in Hinblick auf die Neutralität politischer Institutionen: „ Kein Prinzip vermag ein so komplexes Verhältnis wie das zwischen Religion und Politik zu regeln, wenn sich ihm nicht Urteilsvermögen und die Fähigkeit beigesellen, es im jeweiligen lebensweltlichen Kontext zu verankern.“ Auch Habermas koppelt seine Aussagen über die „Vernünftigkeit“ säkular-religiöser Debatten an die Lebenswelt und nimmt damit in Kauf, dass die normative Theorie von der Wirklichkeit eingeschränkt wird: „Nur die Beteiligten und ihre religiösen Organisationen können die Frage entscheiden, ob ein ‚modernisierter‘ Glaube noch der ‚wahre‘ Glaube ist. Und ob nicht, auf der anderen Seite, ein szientisch begründeter Säkularismus am Ende Recht behält gegenüber dem komprehensiven Vernunftbegriff des nachmetaphysischen Denkens, ist einstweilen auch unter Philosophen eine unentschiedene Frage.“ Die Selbsteinschränkung postsäkularer politischer Philosophie liegt darin, dass sie „offen lassen muss, ob die funktional notwendigen Mentalitäten überhaupt auf dem Weg von Lernprozessen erworben werden können“ und gleichzeitig „anerkennen [muss], dass ihre normativ begründete Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs unter den Bürgern selbst ‚wesentlich umstritten‘ bleibt.“ Die Konsequenz dieser empirischen Rückkoppelung normativer Theorie lautet nicht, wie Habermas betont, dass eine starke Lesart liberaler Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaats aufgegeben werden soll; sie bedeutet jedoch schon, dass die Kontroverse über die Richtigkeit der Grundsätze nicht mehr nur im Rahmen normativer Philosophie ausgetragen wird, sondern in andere diskursive Bereiche hineinragt, allen voran in die Theologie.
Die große normative Herausforderung für eine politische Philosophie, die an die Praxis rückgebunden wird, liegt zweifellos darin, den Mittelweg zwischen Universalismus und Partikularismus einzuhalten und ihren normativen Anspruch trotz der eingestandenen Unabgeschlossenheit und Selbstbeschränkung nicht aufzugeben. In der aktuellen philosophischen Debatte gibt es zwei unterschiedliche Strategien für den Umgang mit dieser Herausforderung: die Festlegung auf eine ‚schwache‘ universale Gültigkeit oder auf einen agonistischen Pluralismus. Für die erste Strategie steht das Werk von Ferrara, für die zweite die Arbeiten von Bader.
Ferrara entwickelt sein Konzept des „oriented reflective judgment“ und eines „exemplarischen Universalismus“ im Anschluss an Rawls und Habermas. Er versteht den exemplarischen Universalismus als Fortführung und Ausformulierung eines in den Werken von Rawls und Habermas angelegten „judgment model of justice“. Im obigen Zitat von Carens wurde festgehalten, dass Menschen über eine „intuitive Einsicht“ verfügen, was als richtig und was als falsch anzusehen ist. „Intuitive Einsicht“ ist allerdings ein schwer zu operationalisierendes Konzept. Ferrara geht daher einen anderen Weg und schlägt vor, Urteile über „gute“ und „schlechte“ Praxis als eingebettet in einen breiteren Konsens darüber zu sehen, was „gutes Leben“ ausmacht. Dieser Konsens entsteht durch ein Urteil darüber, was als „gut“ beziehungsweise „beispielhaft“ gelten kann. Die theoretische Grundlage für die philosophische Handhabung von Exemplarität findet Ferrara in Kants Dritter Kritik der Urteilskraft, der Kritik des ästhetischen Urteils. Dabei handelt es sich um ein Urteil, das vom Partikularen zum Universalen aufsteigt: „What emerges from within a historical and cultural context – be it a theory, a constellation of cultural values, a political institution – can exert a cogency outside its original context by virtue of entering a relation of exceptional congruency with the subjectivity, individual or collective, that has brought it into being.”
Träger des Konsenses darüber, was als beispielhaft zu gelten hat, ist dabei nicht, oder nicht notwendig, die ganze Menschheit an sich, sondern möglicherweise bloß eine bestimmte Gruppe, zum Beispiel „we Western moderns of the beginning of the twenty-first century“. Ferrara räumt also ein, dass es unterschiedliche Ansichten darüber geben kann, was „gutes Leben“ ausmacht. Er stellt allerdings in Abrede, dass diese Ansichten in letzter Konsequenz völlig unvereinbar sein können, solange der Horizont eines erfüllten oder authentischen Lebens nicht aus den Augen verloren wird: “[A judgement] may legitimately claim universality by appealing to a layer of intuitions that we have reason to consider accessible from a plurality of perspectives insofar as these intuitions are linked with the universal human experience, along with mortality and embodiment, of the flourishing or stagnating of one’s own life. It is the task of a philosophical theory of sensus communis to reconstruct these intuitions as completely as possible.“ Laut Ferrara kann die postmetaphysische politische Philosophie einen Mittelweg zwischen abstraktem Universalismus und radikalem Partikularismus gehen, indem sie normative Urteile in Hinblick auf einen kontexttranszendierenden sensus communis rekonstruiert. Dabei nimmt sie in Kauf, dass es keine Garantie dafür gibt – Ferrara spricht stattdessen von einer schwachen „Erwartung“ – dass eine Einigung darüber erzielt wird, welches Prinzip als „richtig“ oder „das beste“ anerkannt wird.
Einen ‚schwachen‘ Universalismus vertritt diese Strategie insofern, als dass sie an der Möglichkeit von universaler normativer Gültigkeit im Prinzip festhält, die Möglichkeitsbedingungen für die Formulierung solcher Normen allerdings im lebensweltlichen Kontext definiert. Ferrara selbst spricht in diesem Zusammenhang zwar nicht von einem practice turn, aber es erscheint durchaus gerechtfertigt, seine Strategie als Spielart eines solchen epistemologischen und methodologischen Programms zu lesen.
Bader verfolgt eine andere Strategie, um einen normativen Mittelweg zwischen Universalismus und Partikularismus einzuhalten. Er postuliert einen Maßstab der „minimal morality“, den er unter Berufung auf Debatten in liberaler politischer Theorie definiert. Um dem Vorwurf zu entgehen, „minimal morality“ könnte nur eine andere Form von Universalismus sein, koppelt er die Feststellung von Regeln der „minimal morality“ an eine „agonistische demokratische Praxis“. Im Umgang mit Pluralismus sollte, so die Grundaussage, neben Lösungsvorschlägen mit hohem moralischen Anspruch die realistischere Minimalforderung nach „gritting teeth tolerance“ und „agonistic respect“ gelten. Aus der Perspektive dieser zweiten Strategie ist politischer Konsens „frei- oder selbsttragend“, und nicht etwa in einem vor-politischen Begriff des „guten Lebens“ verankert, wie bei Ferrara. Diese Haltung rechnet damit, wie Willems anmerkt, dass Politiken mit einem „Ablaufdatum“ versehen werden und verhandelbar bleiben, und sie setzt voraus, dass unter TeilnehmerInnen am politischen Prozess die Bereitschaft besteht, Spannungen auszuhalten (Willems 2002, 109).
So unterschiedlich diese beiden Strategien auch sind, bei beiden ist normative Gültigkeit in einem empirischen Kontext verankert. Ferrara, Bader und die anderen oben zitierten Autoren sind bei weitem nicht die einzigen Vertreter eines practice turn in der normativen politischen Theorie; die Analyse ihrer Werke legt vielmehr die Grundzüge eines Paradigmenwechsel offen, der die Verschränkung von normativer Theorie und Empirie vorsieht. Für die postsäkulare politische Philosophie bedeutet dies, erstens, Interdisziplinarität und praxisorientiere Epistemologie, zweitens, prinzipielle Unabgeschlossenheit und Selbsteinschränkung.
Schluss
Was hat es mit dem practice turn in der politischen Philosophie auf sich? Ist es die Religion, die als empirisches Faktum in die Philosophie hineindrängt, wie die Aussage der Rückkehr der Religion nahelegt? Ist der practice turn eine Reaktion? Ja und nein. Ja, weil mit der Rückkehr der Religion eine öffentliche, weltanschauliche und gemeinschaftsbildende Dimension des religiösen Phänomens ersichtlich wird, die die politische Philosophie nicht ignorieren kann. Nein, weil der practice turn wissenschaftstheoretisch in der zeitgenössischen politischen Philosophie bereits angelegt ist und weil diese nachmetaphysische Philosophie sich, ganz unabhängig von der Rückkehr der Religion, dadurch auszeichnet, dass sie die Welt „wie sie ist“ der Welt „als Ganzes“ vorzieht. Postsäkulare politische Philosophie reagiert nicht bloß mit einem practice turn auf die Rückkehr der Religion, der practice turn macht diese Rückkehr zum Teil auch erst möglich. Mein Anliegen war es, in Hinblick auf einige zentrale Texte und Schlüsselwerke von Habermas, Bader, Ferrara, Modood und anderen grundsätzliche Überlegungen zur Theorie und Praxis postsäkularer politischer Philosophie anzustellen und aufzuzeigen, welche Grundeinstellungen damit einhergehen, welche Fragestellungen sich daraus ergeben und was die normativen und methodologischen Implikationen sind. Diese Zwischenbetrachtung kann der Systematisierung aktueller politisch-philosophischer Debatten dienen, sie hat allerdings auch einen normativen Anspruch: philosophische Forschung zu verstehen als Vertiefung in aktuelle Kontroversen, in möglicherweise unbequeme Kontexte und fremde Texte und Sprachen, um somit die größtmögliche Wechselwirkung zwischen Wirklichkeit und normativer Debatte zu erzielen.
Kristina Stoeckl ist Marie Curie Post-Doctoral Fellow am Institut für Philosophische Forschung an der Universität Rom II “Tor Vergata”. Ihre Forschungsschwerpunkte sind politische Philosophie und Religion sowie Modernitätstheorien mit besonderem Augenmerk auf das Orthodoxe Christentum und Russland. Mitbegründerin des CSPS – Centre for the Study and Documentation of Religions and Political Institutions in Post-Secular Society, University of Rome, Tor Vergata (http://csps.uniroma2.it).
Monographie: “Community after Totalitarianism. The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity”, Frankfurt: Peter Lang, 2008 (Erfurter Studien zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christenums, Vol. 4).
Information und Kontakt: www.kristinastoeckl.eu.
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