Glancing at the political situation of Ukraine the spectator remains rather helpless. The debacle of the call of early parliamentary elections for December 2008, which had to be postponed ever since, and the elites’ disability to build an efficient coalition after the Orange Revolution in 2004 led to various explanations of the ongoing crisis. Above all, cultural factors are used as an explanatory factor. Culture is said to be different in eastern and western Ukraine due to historic, ethnic and religious circumstances.
This article shows that historic-cultural explanations are not sufficient to get a grip on political ongoings in today’s Ukraine. In fact, it is the present political system, which will be defined as neopatrimonial in the following, that has shaped and stabilised regional variations. It has hindered horizontal networking of actors by instrumentalising vertical and often regionally anchored personal relationships. Furthermore, it has promoted and deepened the regional difference by using regional identities for power strategies. Thus, it has prevented the growth of civil society, which could have become a possible counter-balance to the oligarchic order. Furthermore, it has prevented a broad nation-building leaving the country without the horizon of the “nation” being a motivation for self-binding and long-term oriented political action. Since the year 2000, there have occurred breaks within this development, above all through the events of the Orange Revolution. Although these led to formal changes of the political system after 2004, neopatrimonial elements have remained and still impede civil society. The regional cleavage, which seemed to be overcome for a short period in 2004, is as strong as before, as it is continuously instrumentalised for mobilisation and legitimation.
Die “Orangene Revolution” weckte weltweit Sympathien und die Hoffnung, dass die Ukraine mit dieser zweiten Revolution nach 1991 den demokratischen Durchbruch erlangen würde. Die Realität blieb allerdings bisher weit hinter den Erwartungen zurück, ein erstaunlicher Befund, wenn man an die Emotionalität und Kraft der Massenproteste von 2004 zurückdenkt.
Die Aufmerksamkeit der internationalen Presse richtete sich seit damals immer wieder in erster Linie auf die regionale Zweiteilung der Ukraine. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen 2006 und 2007 offenbarten die Patt-Situation zwischen den reformorientierten Wählern im Westen und den eher konservativen und nach Russland orientierten Wählern im Osten der Ukraine. Gern wird diese Teilung in der Presse gleichgesetzt mit historisch-kulturellen und ethnischen Merkmalen: der ukrainisch-sprachige Westen griechisch-katholischen Glaubens und der russophile, orthodoxe Osten (ips news 2007; online journal 2007; FAZ, 4. Oktober 2007a+b; BBC News 2004). Das Debakel um die zunächst auf Dezember 2008 vorgezogenen Parlamentswahlen, die dann wiederum aufgeschoben werden mussten, zeigt einmal mehr die Zerrissenheit des Landes, denn auch die beiden Hauptakteure der Orangenen Revolution, Viktor Juš?enko und Julija Tymošenko, können, trotz der sie begünstigenden Wahlergebnisse, keine arbeitsfähige Koalition auf die Beine stellen. Jenseits von Bruchlinien entlang von historisch-kulturell begründeten Identitäten oder politischen Programmen müssen folglich andere Faktoren eine Rolle spielen. Es ist die Organisation von Herrschaft, die hier eine Schlüsselrolle einnimmt.
Es ist nicht zu leugnen, dass Ost- und Westukraine sich wirtschaftlich, sozial und historisch-kulturell unterscheiden. Nun ist die heterogene Bevölkerungsstruktur der Ukraine, die mit regionalen Grenzen zusammenfällt, nicht neu und wurde in der Ukraineforschung viel diskutiert (Arel 1995; Riabchuk 1992; Shulman 1998; Wilson 2002). Aber woher kommt diese Kongruenz zwischen regionalen Identitätsprojekten und politischen Präferenzen? Reichen kulturelle und historische Erklärungsansätze aus, um die festgefahrene Situation in der Ukraine zu erklären? Es stellt sich die Frage, wieso siebzehn Jahre Nations- und Staatsbildung nicht zu einer Annäherung zwischen den Extrempolen im Osten und Westen des Landes führte, sondern im Gegenteil, sich die Situation weiter zuspitzte. Und das, obwohl Hrytsak (2000) gezeigt hat, dass sich die Alltagskultur in beiden Landesteilen kaum unterscheidet und zudem ein Pool potentiell verbindender Identitätsprojekte vorhanden ist (Wilson 2002).
Mein Ausgangspunkt für eine Erklärung jenseits kultureller Zuschreibungen ist die unterschiedliche Einbindung der politischen Regionen im Ost- und Westteil des Landes in das politische System. Akteure haben darum andere Gestaltungsmöglichkeiten, unterliegen aber auch anderen Restriktionen (Šabi? 2004; 2007). Die unterschiedliche Einbindung ins Regime bedingt und unterstützt jeweils andere Handlungsmöglichkeiten und bestätigt damit regionale Entwicklungspfade oder stellt sie in Frage. Diese beginnende regionale Teilung sowie Elemente regionaler Identitäten mussten in der Folge für die Machtstrategien der Elite herhalten, die sie sich auf verschiedenen Ebenen zu Nutze gemacht hat: regionale Klischees halfen, Wähler regional zu mobilisieren. Die heraufbeschworene „Teilung“ des Landes musste wiederum für die Legitimierung zentralistischer Maßnahmen herhalten. Die Ereignisse der Orangenen Revolution, die zunächst als Gegenbewegung zu der regionalen Spaltung durch die Eliten verstanden werden kann, vertieften später den symbolischen Charakter der Teilung in Ost und West und verliehen den beiden Polen damit jeweils den Status einer Ikone, die stilisiert und aufrechterhalten wird. Somit hängen die aktuelle Landschaft der Institutionen und das historisch-kulturelle Erbe zusammen, jedoch nicht kausal. Die wirtschaftlichen, sozialen und historisch-kulturellen Unterschiede sind kein unumstößliches Faktum, sie sind nicht statisch, sondern in permanenter Entwicklung ausgelöst sowohl durch pfadabhängige Anpassungen und Gestaltungen der Akteure als auch durch Strategien der Mobilisierung und Legitimierung der Elite. Dass die regionale Zweiteilung sich zementierte, hat folglich mehr mit dem politischen System nach 1991 zu tun, als mit historisch-kulturellen Faktoren.
Dieses System erweist sich als neopatrimonial. Das Konzept des Neopatrimonialismus findet in der Osteuropaforschung häufig als Etikett für vorgefundene Phänomene Verwendung (Eschment 2000; van Zon 2001). In diesem Beitrag hilft es bei der Analyse und wird weiterentwickelt. Die Überlebensfähigkeit und Wandlungsresistenz neopatrimonialer Systeme und ihre korrumpierende Wirkung auf alternative Strukturmuster wird offenbar. Es geht mehr um die Funktionslogik dieser Systeme als um die Messbarkeit von Demokratie, die bei den Ansätzen der „Defekten Demokratie“ (Merkel/Puhle 2003) im Vordergrund steht. Es wird deutlich, dass es sich bei den vermeintlichen „Demokratien mit Adjektiven“ um Hybridsysteme handelt, in denen Paradigmen wie „Nation“ oder „Zivilgesellschaft“ ihre Erklärungskraft verlieren, denn sie stehen hier unter anderen Vorzeichen.
Ich gehe zunächst auf das Paradigma des Neopatrimonialismus ein und spezifiziere es für die Ukraine. Westlich geprägte Paradigmen wie „Nation“ und „Zivilgesellschaft“ werden für den ukrainischen Kontext neu definiert. Es werden dann die historisch-kulturellen Unterschiede der Ost- und der Westukraine zusammengefasst, die sie zu Beginn der Unabhängigkeit mit unterschiedlichen symbolischen und institutionellen Ressourcen versahen (Šabi?/Zimmer 2004b). Das folgende Kapitel zeigt die unterschiedlichen Entwicklungspfade der Regionen in den 1990er Jahren und deren Instrumentalisierung durch die Eliten. Es werden die Regionen Donec’k und L’viv gegenübergestellt, da sie als Extrempole der regionalen Teilung der Ukraine angesehen werden können. Es entstehen Variationen des politischen Systems auf der regionalen Ebene: im Osten der Ukraine dominieren autoritäre Klientelketten und Fassaden demokratisch-pluralistischer Elemente. Im Westen tritt der hybride Charakter des Neopatrimonialismus deutlicher zu Tage, der das Entstehen pluralistischer Enklaven (Fox 1994), in denen pluralistisch-demokratische Aushandlungsformen stattfinden, ermöglicht. Der Gesamtbefund zeigt dennoch, dass das neopatrimoniale politische System „Gemeinsinn“ – von lokalen Kooperationen über zivilgesellschaftliche Organisation bis hin zum Projekt einer nationalen Idee – sprengt oder instrumentalisiert. Anschließend geht es um die zunehmende zivilgesellschaftliche Organisation seit dem Jahr 2000 als Bruch mit dieser Entwicklung. Es stellt sich dann die Frage nach dem Grund ihres Scheiterns nach 2004. Es zeigt sich wiederum, dass sich die ukrainische Variante des neopatrimonialen politischen Systems nach 2004 fortsetzte und zivilgesellschaftliche Organisation damit nach wie vor auf pluralistische Enklaven begrenzt bleibt.
1. Nation und Zivilgesellschaft unter den Vorzeichen des Neopatrimonialismus
Die Spezifizierung des Neopatrimonialismus-Konzeptes für die Ukraine beruht auf drei Merkmalen. (1) Im Hinblick auf die Elitenkonstellation ist es kompetitiv-autoritär (Levitsky/Way 2002). (2) Macht wird über klientelistische Handlungsmuster generiert. Die klientelistische Umverteilung von Ressourcen unterminiert den Staatsbildungsprozess. (3) „Loyalitätssicherung“ jenseits von Legitimität geschieht über den sogenannten (3) „feckless pluralism“ – wirkungslosen Pluralismus (Carothers 2002). (1) Konkurrierende Elitengruppen verletzen die formalen demokratischen Institutionen Bestechung, Kooptation und subtile Formen der Repression (Levitsky/Way 2002: 53). Ihr Konkurrenzkampf findet nicht im Rahmen von stabilen, formalen Regeln statt. (2) Der kompetitive Autoritarismus der Ukraine funktioniert über ein neopatrimoniales Patron-Klient-System mit einer Durchmischung von patrimonialen und legal-bürokratischen Elementen (Engel/Erdmann 2002). Die Hybridität lässt den Akteuren zumindest prinzipiell die Wahl, nach welcher Funktionslogik sie operieren möchten. Dies setzt erstens die Fähigkeit voraus, beide Formen wahrzunehmen und zu interpretieren. Zweitens kontrollieren die Machteliten, in welcher Situation welche Regeln gelten, so dass die tatsächliche Wahlfreiheit marginalisierter zivilgesellschaftlicher Akteure eingeschränkt ist. Dennoch entstehen dadurch pluralistische Enklaven (Fox 1994), in denen Aushandlungen nicht nur klientelistisch, sondern pluralistisch-demokratisch stattfinden. (3) Die, wenn auch geringe, Institutionalisierung von pluralistischen Elementen erlaubt eine politische Einflussnahme seitens der Bevölkerung, die allerdings kaum über Wahlen hinausgeht. Wahlen werden dadurch dennoch zu einem wichtigen Faktor im Machtkampf der Eliten, denn der Grad an politischer Freiheit ermöglicht Machtwechsel zwischen verschiedenen Gruppen. Diese rütteln nicht an einigen grundlegenden Spielregeln, so dass Machtwechsel nicht Problemlösung bedeutet. Carothers (2002: 10-12) spricht vom Syndrom des „feckless pluralism“, wirkungslosen Pluralismus. Dieses so charakterisierte politische System reproduziert sich. Trotz des Bruches durch die Orangene Revolution setzen sich seine drei Hauptmerkmale, kompetitiv-autoritär, klientelistisch und wirkungslos pluralistisch, wenn auch eingeschränkt, fort und wirken zersetzend auf alternative Strukturmuster, wie beispielsweise „Nation“ und „Zivilgesellschaft“.
Beide sind „westliche“ Konzepte, deren Begrifflichkeiten auf die industrie-kapitalistische Moderne (Kößler/Schiel 1996) zugeschnitten sind. Am deutlichsten definiert Gellner (1991) „Nation“ als eine Funktion des modernen, kapitalistischen Staates, dessen Monopol auf Bildung seine Hochkultur reproduziert und so den „modularen Menschen“ ermöglicht (Gellner 1995). Ferner stärkt eine nationale Identität die Bereitschaft, Macht zu delegieren und Einbußen für das Gemeinwohl zu akzeptieren (Moore 2001), zwei wichtige Momente für Staatsbildung. Zivilgesellschaft gilt gemeinhin als Garant dafür, dass staatliche Strukturen nicht alles vereinnahmen können und autokratische Tendenzen eingedämmt werden. Kubik (2005) stellt eine schrittweise aufeinander aufbauende Definition von Zivilgesellschaft dar, die ebenfalls den Kriterien der industrie-kapitalistischen Moderne entspricht: Eine legale und transparente Zivilgesellschaft besteht dann, wenn Individuen freiwillig und auf Vertragsbasis in sekundäre Gruppen eintreten. Diese Gruppen agieren öffentlich und nach Gesetzmäßigkeiten. Sie lassen sich inspizieren und ihre „Politik“-Empfehlungen können auch von Außenseitern diskutiert werden. Die Gruppen sind untereinander tolerant und kooperieren. Sie sind horizontal vernetzt. Der Staat stellt diesen Netzwerken einen legal geschützten Raum zur Verfügung. Howard (2003) betont, dass die Kooperation von Staat und Zivilgesellschaft, und nicht ihre Konfrontation, ihre Performanz begünstigt.
Außerhalb des westlichen Kontextes sind diese Konzepte schwer übertragbar. „Nation“ kann aus emischer Perspektive definiert werden und stellt dann ein abstrahierendes Integrationsmoment dar, dessen Kehrseite, gerade wenn es sich um ein ethnisches Nationskonzept handelt, Exklusion bedeutet. In der Ukraine gibt es verschiedene nationale Identitätsprojekte, die jedoch regional auftreten und nicht die gesamte Ukraine integrieren können (Wilson 2002, Šabi? 2007). Es wird sich zeigen, dass es nicht im Interesse der machthabenden Elite ist, „Nation“ auf einer umfassenden symbolischen Ebene zu integrieren. Für Zivilgesellschaft wird nach Funktionsäquivalenten gesucht. In der Ukraine kann man von pluralistischen Enklaven (Fox 1994) sprechen, in denen Aushandlungsformen außerhalb der klientelistischen Praxis möglich sind und sich damit horizontale Vernetzung verdichten kann. Sie erreichen allerdings nicht die Funktion eines Gegengewichtes zu den oligarchisch strukturierten Machteliten.
2. Nation-splitting statt nation-building
Mit der Unabhängigkeit existierte die Ukraine erstmals als souveräner Staat, der allerdings weder an eine gemeinsame Nationalbewegung noch an Traditionen von überregionalen Parteien oder anderen Organisationen anknüpfen konnte. Mit der Unabhängigkeit 1991 entstand ein Machtvakuum, denn die Verbindungen zum Moskauer Machtzentrum wurden gekappt, und Kyiv blieb „kopflos“. Die Unabhängigkeit selbst war kein Sieg einer landesweiten, nationalen Bewegung. Sie wurde von alten Eliten ausgehandelt, die darüber ihre Positionen retten wollten. Auf der Ebene der Bevölkerung, mit Ausnahme der westukrainischen Gebiete, war die Unabhängigkeit hauptsächlich mit ökonomischen Zielen verbunden. Die Unabhängigkeit wurde also weder von einer Nationalbewegung gewonnen, noch war sie mit einer gemeinsamen nationalen Idee unterfüttert. Obwohl die Elite sich häufig „nation-building“ auf ihre Fahnen geschrieben hat, trieb sie de facto die regionale Spaltung voran.
2.1 Historisch-kulturelle regionale Unterschiede
Dass nationale Identitätsprojekte sich regional unterscheiden und regionale Besonderheiten gerade in der Ukraine nach 1991 zu Tage traten, ist kaum überraschend. Die verschiedenen Regionen gehörten in der Geschichte zu ganz unterschiedlichen Imperien, die sie auf verschiedene Entwicklungspfade leiteten (Szücs 1990). Zwar entstanden im 19. Jahrhundert ukrainische Nationalbewegungen, sie waren allerdings sehr heterogen und konnten nicht zu einer einheitlichen Kraft gebündelt werden. Es war die westukrainische Nationalbewegung, die sich stärker formierte und bis Mitte des 20. Jahrhunderts versuchte, sich gegen Fremdherrschaft in der Region zur Wehr zu setzen (Himka 1988; Stachura 1999). Organisationsgründungen, wie Parteien, kulturelle Vereinigungen oder Genossenschaften, gab es im habsburgischen Galizien, weitaus weniger und nur unter Repressionen in den zum Russischen Reich gehörenden Regionen (Kappeler 1994). Donec’k blickt im Vergleich zu L’viv auf eine Geschichte zurück, die von Industrialisierung geprägt ist. Nach der brutalen Sowjetisierung wurde die Region zu einer wichtigen Machtbasis in der Sowjetunion.
Diese Charakteristika boten den Regionen in der Umbruchsphase Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre jeweils andere symbolische Ressourcen und institutionalisierte Verhaltensmuster. In L’viv spielte der national-kulturelle Diskurs eine wichtige Rolle. Dabei verstanden die Akteure ihre Region als ukrainisches Piemont, die für die nationale Integration einer ukrainischen Ukraine verantwortlich sei (Šabi? 2004). Akteure der Region L’viv konnten Werte aus des Habsburgzeit explizit machen: Bürgerrechte, Respekt für Recht und Ordnung und das Schätzen von Eigentum waren Werte, die, ob sie nun mit tatsächlichem Verhalten unterfüttert waren oder nicht – als Anknüpfungspunkte für eine Neuorientierung der Region dienen konnten. Daneben bestanden natürlich implizit vorhandene sowjetische Werte, die mit einer bäuerlichen Vergangenheit korrelierten. Ökonomische Fragen traten in den Hintergrund. In Donec’k gab es kaum symbolische Ressourcen zur Neuerfindung der Region oder der Nation. Das Bild von der Schwerindustrie-Region wurde bestätigt. Paternalismus spielte eine wichtige Rolle, die Identifikation mit dem Arbeitskollektiv und den Unternehmen blieb stark, und die Menschen suchten nach wie vor den guten „chozain“ (Hausherren, Patron), der sich für sie einsetzt. Die Aufrechterhaltung der Kontinuität zur Sowjetzeit stand im Vordergrund (Šabi?/Zimmer 2004b). Der Pool an symbolischen Ressourcen war insgesamt in L’viv vielfältiger aber auch widersprüchlicher, als in Donec’k.
2.2 Die zentrifugale Wirkung des neopatrimonialen Systems
Wie eingangs erläutert, sind diese regionalen Muster jedoch weder kulturell determiniert, noch müssen sie sich zwangsläufig reproduzieren. Die Elite hat es allerdings verstanden, sie im Rahmen des in den 1990er Jahren institutionalisierten neopatrimonialen Systems für sich zu nutzen. Regionale Akteure wurden zunächst unterschiedlich in Patronagebeziehungen eingebunden, eine informelle Institutionalisierung regionaler Unterschiede. Später organisierten die konkurrierenden Elitengruppen des kompetitiven Autoritarismus sich über regional eingebundene Parteien und trieben damit die Institutionalisierung der Unterschiede voran. Schließlich nahmen die Legitimationsstrategien zur Loyalitätssicherung, die regionale Klischees bedienten, zu. Regionale Unterschiede wurden auf der symbolischen Ebene festgeschrieben.
2.2.1 Die Weichen werden gestellt
Der erste in pluralistischen Wahlen gewählte Präsident, Leonid Krav?uk, der durch seine Funktionen in den Abteilungen „Propaganda und Agitation“ sowie „Ideologie“ der kommunistischen Partei der Ukraine ein geübter Rhetoriker war, setzte Identitätskonstruktion und Abkehr von Russland ganz oben auf seine Agenda und nutzte sie symbolpolitisch. Er nahm die kulturell-nationalen Ideen der Ruch, der hauptsächlich westukrainischen nationalen Unabhängigkeitsbewegung, die sich zur nationalistischen Partei NRU (Narodnyj Ruch Ukraïny, Volksbewegung der Ukraine) transformierte, auf und förderte die ukrainische Sprache. Damit zog er die westukrainischen regionalen Eliten auf seine Seite. Krav?uk baute ferner den bürokratischen Apparat aus und verlieh den einzelnen Einrichtungen das Prädikat „national“, damit waren die NRU-Eilten schnell zufrieden zu stellen. Mit dem Einräumen von entsprechenden Kompetenzen war er allerdings weniger großzügig. Die NRU-Eliten band er gleichzeitig in sein Patronagenetzwerk ein, sie bekamen Positionen als Botschafter, Berater oder Akademiker (Prizel 1997: 345). Wirtschaftlich bedeutendere Posten, die ihnen eine bessere Basis für Patronage lieferte, erhielten ab 1993 die Akteure aus Donec’k, die sich in der Krav?uk-Regierung etablierten (Varfolomeyev 1998). In der Ostukraine dominierten die Roten Direktoren, die über eine starke ökonomische Basis verfügten und darüber rent-seeking betreiben konnten. Ökonomische Reformen gab es entsprechend den Interessen dieser neuen Rentier-Elite (Havrylyshyn 1997). Die regionalen Eliten wurden also in verschiedene Patronage-Netze eingebunden: die westukrainischen Eliten wurden mit wirtschaftlich eher unbedeutenden Positionen versorgt. Der Donec’ker Clan festigte seinen Platz in der Regierungsstruktur und hatte so maßgeblichen Einfluss auf die Festsetzung der Spielregeln in der unabhängigen Ukraine. Auf der Ebene der Bevölkerung nahm die Identifikation mit der Ukraine im östlichen Landesteil durch die symbolpolitische Ukrainisierung und den wirtschaftlichen Niedergang ab (Kuzio 1998). In der Westukraine war die Reaktion anders. Die Akteure der Nationalbewegung reagierten nur zum Teil mit Ablehnung: sie waren in der Mehrheit ausgesöhnt durch ihre neuen Patronage-Möglichkeiten und die rhetorische Hochhaltung der nationalen Idee. Jedoch führte die Vernachlässigung liberaler und demokratischer Ideen zu einem Split innerhalb der NRU, es setzte sich ihr weniger liberaler sondern zentralistischer und ultra-nationalistischer Flügel durch (Prizel 1997).
In der Präsidentschaftswahl 1994 spiegelte sich bereits deutlich die regionale Spaltung der Ukraine. Westlich des Dnepr’ gewann der Amtsinhaber Krav?uk die Wahl mit 73% der Stimmen, östlich davon sein Herausforderer Leonid Ku?ma mit 75%. Krav?uk hatte sich im Westen die Unterstützung gesichert, weil er sich als Verfechter der ukrainischen Unabhängigkeit gab. Ku?ma bediente die Wähler im Osten mit Wahlversprechen wie unter anderem „mehr Brücken zu Russland“. Im Wahlkampf setzte man also bereits auf den jeweils regionalen Trumpf. Die zahlenmäßig überlegene Bevölkerung im Osten gab schließlich den Ausschlag, und Ku?ma wurde Präsident (Kubicek 2000: 284).
2.2.2 Die Institutionalisierung regionaler Unterschiede
Mit Ku?mas Wahl wurde scheinbar ein anderer Kurs eingeschlagen. Die Staatstruktur wurde stärker zentralisiert, föderalistische Ideen wurden mit der Annahme der Verfassung im Juni 1996 endgültig verworfen. Wirtschaftliche Reformen hatten Priorität, aber die starke staatliche Position wurde nicht aufgegeben und dem Präsidenten und seiner Verwaltung blieben weit reichende Kompetenzen (Šabi? 2007). Das neopatrimoniale politische System der Ukraine, in dem Politik, Verwaltung und Wirtschaft eng miteinander verknüpft bleiben, wurde verfestigt, indem formale Institutionen so gefasst wurden, dass sie klientelistische Verhandlungsformen unumgänglich machten.
Das neopatrimoniale System trieb die Polarisierung der Regionen voran, denn es strukturierte vertikal organisierte Ketten und verschaffte diesen Ketten jeweils eine regionale Basis. Auf der informellen Ebene übernahm jetzt beispielsweise der Dnipropetrovsker Clan die Macht, denn Ku?ma selbst stammte aus Dnipropetrovs’k und verhalf zwischen 1994 und 1996 seiner Seilschaft in wichtige Ämter. Bis zum Ende von 1996 kamen alle Minister des Kabinetts Pavlo Lazarenkos, die für die Industrie verantwortlich waren, aus Dnipropetrovs’k oder dem benachbarten Zaporižžja, mit dessen Elite man kooperierte (Varfolomeyev 1998). Es etablierte sich der Begriff der „Partei der Macht“ für die Insider der Machtstruktur.
Die Ukraine war dennoch kein autokratisches System, das allein nach dem Prinzip persönlicher Herrschaft funktioniert hätte. Formal gab es demokratische Institutionen, die mehr waren als eine reine Fassade. Dies betrifft insbesondere die Wahlen, die, obwohl sie in den 1990er Jahren manipuliert wurden, eine Herausforderung für die Machthaber war. Parteien kam somit eine besondere Rolle zu. Veränderungen des Wahlgesetzes für die Parlamentswahlen von 1998 sollten die Parteiengründung fördern und auf der formal-institutionellen Ebene das regionale Auseinanderdriften verhindern. Dieses Gesetzt nutzten prominente Politiker, die sich in der Folge der Parteien als Vehikel bedienten. Ku?ma selbst initiierte die zentristische Volkdemokratische Partei NDP (Narodna Demokraty?na Partija, Demokratische Volkspartei), deren nomineller Führer der damals amtierende Premierminister Valerij Pustovojtenko aus Dnipropetrovs’k war (Kubicek 2000: 286). Die NDP repräsentierte die „Partei der Macht“. Weitere Gründungen zentristischer Parteien haben ihre Basis in den Interessen regionaler Clans, die sich bemühten, sich an die neuen Regeln des politischen Spiels anzupassen. Wir können für die Ostukraine bereits 1998 beobachten, dass regionale Clans Parteien gründeten oder sie sich aneigneten. Der frühere Premierminister Pavlo Lazarenko gründete die zentristische Partei Hromada (Gemeinde). Auf deren Zug sprang auch Julija Tymošenko auf, die ehemalige Präsidentin des Unternehmens „YES“ mit Basis in Dnipropetrovs’k. Die Donec’ker Business-Elite wurde durch die liberale“ und die Labour-Partei repräsentiert, die sich „Razom“ (gemeinsam) nannten. Der Block Razom hatte den höchsten Anteil von Geschäftsleuten auf der Wahlliste, über 30%, die meisten davon aus Donec’k. Die nordöstliche Region Kharkiv wurde durch den Block SLON vertreten, die Union der Sozial-Liberalen, die sich für die Gleichstellung von Russisch und Ukrainisch einsetzte (Varfolomeyev 1998). Ideologisch unterschieden sich diese zentristischen Parteien kaum. Um sich bei den Wahlen eine Basis zu verschaffen, bedienten sie sich populärer Forderungen und spielten damit die Klaviatur der regionalen Unterschiede, beispielsweise wenn es um die Sprachfrage ging.
Neben diesen rein populistischen Kräften gab es Ansätze von Programmparteien. Dies waren zum einen die Parteien der Linken. In allen Bezirken, außer denen der Westukraine, konnten die Kommunisten eine Mehrheit gewinnen. In der Westukraine war die programmatische Orientierung eine andere: hier gewannen die National-Demokraten, geführt von der NRU. Die NRU unterschied sich in ihrer Qualität von den anderen Parteien, denn sie war ursprünglich eine Proto-Partei der Dissidenten und Oppositionellen, die auf der einen Seite zum Opfer von Machtkämpfen wurde und auf der anderen an ihrer eigenen Heterogenität scheiterte. Trotzdem war sie die zweitstärkste Partei in den Wahlen zum Parlament 1998. Die Westukraine unterschied sich nicht nur programmatisch, sondern auch im Wahlverhalten selbst. Die Wahlbeteiligung war höher. In der Region hatten Parteien insgesamt eine andere Position als in anderen Regionen, denn die Anzahl der Abgeordneten, die über die Parteien gewählt wurden, waren hier deutlich höher als beispielsweise in Donec’k (Zimmer 2004). Das Parteiensystem spiegelt die regionalen Unterschiede: Erstens haben die Parteien eine regionale Basis und zweitens haben die regional verankerten Parteien eine andere Qualität.
[13]Der regionale Faktor wurde durch die Legitimationsdiskurse, die die politischen Maßnahmen begleiteten, noch verstärkt. Ku?ma näherte sich beispielsweise vorsichtig an Russland an und verbesserte die Position der russischen Sprache in der Ukraine – die Bevölkerung im Osten begrüßte natürlich die neue Politik, während sie in der Westukraine auf Ablehnung stieß. Zunehmende Kontakte der Ukraine zu westlichen Industrienationen halfen, IWF-Gelder zu bekommen (Kubicek 2000: 286). Die Ausrichtung nach Westen wurde wiederum eher in der Westukraine unterstützt, und das führte dazu, dass Ku?ma zunehmend von Nationaldemokraten unterstützt wurde, während sich die Anhänger im Süden und Osten abwandten. Seine Wiederwahl zum Präsidenten 1999 – mit 56,25% der Stimmen im zweiten Wahlgang – verdankte Ku?ma diesmal stärker dem Westen des Landes, denn die Bevölkerung dort sah ihn als die stärkste Kraft gegen die linken Kandidaten Petro Symonenko von der KPU und Oleksandr Moroz von der SPU (The Project on Political Transformation and the Electoral Process in Post-Communist Europe). Der vorangegangene Wahlkampf richtete sich gegen die „rote Gefahr“. Ku?ma entschied sich damit für Jelzins erfolgreiche Strategie in Russland.
Die Entwicklung zeigt drei Trends: (1) Es gibt landesweit in der Bevölkerung Ansätze programmatischer Orientierungen, eine national-demokratische im Westen des Landes und eine linke, kommunistische in den anderen Landesteilen. (2) Der Westteil der Ukraine hebt sich hier noch einmal besonders ab: die Wahlbeteiligung war höher und die Stellung der Parteien stärker. (3) Die regionalen Clans unterwandern diese Ansätze eines programmatischen Parteiensystems. Sie agieren stattdessen populistisch und benutzen Parteien als Vehikel für partikulare, regional verankerte Interessen. Damit treiben sie die regionale Polarisierung voran, indem sie zum einen ihre regionalen Interessen über quasi-nationale Parteien vertreten und zum anderen dafür die regional betonten Identitäten ansprechen. Statt national-orientierter Programmparteien gibt es zunehmend Wahlblöcke, die sich programmatisch kaum unterscheiden, aber regional verwurzelt sind und die Klaviaturen der regionalen Identitäten beherrschen.
2.3 Donec’k und L’viv 2000: eine Momentaufnahme der Regionen
Ein Blick auf die regionale Ebene zeigt die Wirkung, die das neopatrimoniale System der Ku?ma-Zeit in den 1990er Jahren hatte: seine Doppelbödigkeit lässt Raum für unterschiedliche institutionelle Arrangements, wie die kurze Gegenüberstellung von Donec’k und L’viv zeigt. Die Akteurssets in den Regionen haben unterschiedliche Pfade eingeschlagen. Der Dialog darüber wird durch die populistische Instrumentalisierung durch die Elite verhindert.
Einflussfaktoren für regionale und lokale Politik waren bis zu den Ereignissen im Jahre 2004 (1) die Einbindung in das neopatrimoniale politische System, (2) die Wirtschaftsstruktur und (3) die historisch-kulturellen Vermächtnisse. Es stellte sich heraus, dass in beiden Regionen das neopatrimoniale Ku?ma-System der dominierende Faktor war, aber die jeweiligen Akteure bedienten sich verschiedener Strategien, um damit umzugehen. (1) Die Region Donec’k war mit dem Regime der Ku?ma-Ära viel dichter verwoben, als die Region L’viv. Das bedeutete allerdings nicht nur einen besseren Zugang zu Klientelketten, sondern auch stärkere autoritäre Tendenzen. Hingegen konnten in L’viv eher pluralistische Enklaven (Fox 1994) entstehen. (2) Dies hing eng zusammen mit der Wirtschaftsstruktur, die in Donec’k mit der dortigen Schwerindustrie und dem Rohstoffsektor eine Basis für Macht und Bereicherung bilden konnte. Die Region L’viv hat eine schwächere wirtschaftliche Basis mit nur marginaler Bedeutung ihrer Energiewirtschaft. Diese aus der Sowjetzeit ererbten Wirtschaftsstrukturen der beiden Regionen boten eine jeweils andere Basis für Netzwerke und Kooperationen zwischen Unternehmen und Unternehmen und staatlicher Verwaltung. (3) Als Orientierungshilfen dienende Wertvorstellungen und formal oder informell institutionalisierte Verhaltensweisen verstärkten die Unterschiede zwischen den Regionen. Das institutionelle Erbe und die symbolischen Ressourcen ermöglichten es Akteuren in L’viv, die Chancen der Ambivalenz des Neopatrimonialismus wahrzunehmen und lokal pluralistische Enklaven aufzubauen (Šabi? 2004; Zimmer 2004).
Das institutionelle Arrangement in Donec’k setzte auf die Klientelketten und die Mitbestimmung der Spielregeln des Systems. Innerhalb der Region verließen sich die Akteure aus Politik und Wirtschaft auf Kontrollstrategien, wie beispielsweise Kooptation oder Marginalisierung unerwünschter Akteure, aber auch Einschüchterungsversuche und Repressionen. Akteure wie Gewerkschaften oder NROs waren nur schwach in der Gesellschaft verankert und wurden so von der Machtelite instrumentalisiert. Das regionale Arrangement stabilisierte sich auch durch die Loyalität der Elite gegenüber Präsident Ku?ma. Ein nennenswertes Gegengewicht zur Machtelite – beispielsweise zivilgesellschaftliche Akteure oder kleine und mittlere Unternehmen als Alternativ-Struktur – gab es nicht (Zimmer 2006: 134).
In L’viv agierten die Akteure vielfältiger und auch das Set von Akteuren war heterogener. Die lokalen und regionalen Akteure versuchten auf der einen Seite, das Spiel mitzuspielen, dessen Regeln sie nicht gemacht hatten. Auf der anderen Seite gab es Versuche, diese Regeln zu ändern. Mit der Gründung von Organisationen, die sich für gemeinsame Interessen einsetzten oder auch Gerichtsverfahren für die Wahrung von Bürgerrechten einberiefen, unterstützten sie Rechtstaatlichkeit. Neben der in die Präsidialverwaltung eingebunden Akteure gab es auf der lokalen Ebene Akteure mit einer anderen Legitimität: sie waren gewählt oder führten Interessenorganisationen und mussten somit die Belange der Basis berücksichtigen oder zumindest deren potentielle Reaktionen mit einkalkulieren (Šabi? 2004: 193). Neben der reinen Patron-Klient-Rationalität entstand eine andere, die sich auf gemeinsame Regeln und Normen und legale Herrschaft beruft (Šabi?/Zimmer 2004b). Während also die Akteure der Region Donec’k auf das neopatrimoniale System mit affirmativen Strategien reagierten, entstanden in der Region L’viv alternative Strukturmuster. Wenn wir auf die eingangs erwähnten historisch-kulturellen Unterschiede und die daraus gewachsenen symbolischen Pools zurückkommen, dann steht den affirmativen Strategien der Donec’ker Akteure auf der symbolischen Ebenen wenig gegenüber, während in der Region L’viv alternative Strukturmuster mittels symbolischer Werte legitimiert werden können.
3. Teile und herrsche?
Diese regionalen Variationen der sich stabilisierenden politischen Ordnung sind wegweisend für die Zeit nach dem Jahr 2000. Die „Partei der Macht“, die ihre Position nach der Wiederwahl Ku?mas festigen konnte, setzte weiterhin auf klientelistische Umverteilung und auf die populistische Mobilisierung von Wählern und damit auf den wirkungslosen Pluralismus. Wie auf der regionalen Ebene in L’viv deutlich wurde, bewirkte der Pluralismus aber doch etwas: das Entstehen pluralistischer Enklaven, die zunächst zu Inseln legal-bürokratischer Aushandlungsformen wurden. Dieses Kapitel zeigt zu Beginn die eingefahrenen Strategien der Insider der Machstruktur, die weiterhin auf eine regionale Mobilisierung setzten und die regionalen Unterschiede wie gehabt instrumentalisierten. Es beschreibt dann den Bruch mit diesen Strategien, der den Auftakt zur Orangenen Revolution darstellte. Sie hat gezeigt, dass wirkungsloser Pluralismus nicht wirkungslos bleiben muss und dass es nicht allein ausreicht, Wähler zur Stimmabgabe zu mobilisieren.
3.1 Wählermobilisierung im wirkungslosen Pluralismus
Die herrschende Elite dominierte die Wahlkämpfe 2002 und 2004 und nutzte dafür geschickt die regional strukturierte Parteienlandschaft. Zu den Wahlen traten Parteien an, die um ihre jeweilige Führungspersönlichkeit mit einem hinter ihr stehenden regionalen „Clan“ organisiert waren und kaum programmatische Elemente hatten. Es wurden regionale Differenzen instrumentalisiert, Ost und West gegeneinander ausgespielt. Die Elite hatte noch nicht einmal den Anspruch, eine gesamtukrainische Politik zu machen und die regionale Teilung zu schmälern oder gar zu überwinden.
Obwohl Ku?ma zu Beginn seiner Amtszeit Reformen versprach und durch personelle Entscheidungen auch anging, änderte sich nichts an den Rahmenbedingungen des politischen Systems. Die angestoßenen Reformen blieben punktuell. In dieser Zeit festigte sich die Partei der Macht um den Präsidenten, und die Exekutive mit Ku?ma an der Spitze gewann ein Übergewicht. Allerdings erreichte Ku?mas Machtzentrum nicht dieselbe Autonomie wie die des russischen Präsidenten Putins, die Elitenkonkurrenz des kompetitiven Autoritarismus blieb bestehen. Geschwächt wurde Ku?ma durch das Auftauchen von Kassetten, die eine Beteiligung Ku?mas an der Ermordung des Journalisten Georgyj Gongadze zeigten (s. unten). Das führte zu einer neuen Konfliktlinie, die entlang der Person Ku?mas selbst verlief.
Bei den Parlamentswahlen 2002 wurden daher die Parteien noch stärker auf ihre mehr oder weniger charismatischen Führer zugeschnitten. Elemente einer Programm-Partei hatten nach wie vor lediglich die KPU – die in den Gebieten der Ost-Ukraine in der Zweitstimme die Mehrheit gewann – und der Wahlblock „Unsere Ukraine“ um den Herausforderer Viktor Juš?enko, der die Mehrheit der Zweitstimmen in den westlichen Gebieten errang. Die Klientelpartei des Präsidenten, der Wahlblock „Für eine geeinte Ukraine“ setzte sich trotzdem über seine zahlreichen Direktmandate durch (Siemers 2002: 37, 40).
Die Elite verhinderte eine Auseinandersetzung auf der programm-politischen Ebene. Wieder wurden die kulturellen regionalen Unterschiede zum Trumpf gemacht. Ku?ma und seine Entourage, die den Westen der Ukraine von vornherein als für sich verloren betrachteten, setzten alles daran, mit den Stimmen aus der bevölkerungsreicheren Ostukraine zu gewinnen. Sie bedienten sich der Strategie, den wichtigsten Herausforderer Juš?enko als „Nationalisten“ zu diffamieren, benutzten damit traditionell sowjetische Methoden der Verleumdung und bedienten gleichzeitig die Ängste der russophonen Bevölkerung vor Ukrainisierung und einer weitgehenden Abgrenzung von Russland. So wurden beispielsweise auch Gerüchte verbreitet, die Grenze zu Russland werde geschlossen und eine Visa-Pflicht eingeführt (Riabchuk 2002: 7). Auf Verordnung des Ministerkabinetts wurde vor den Wahlen eine Gedenkfeier zum 85. Geburtstages des „herausragenden Staatsmannes“ Volodymyr Š?erbyc’kyj begangen (Boeckh/Völkl 2007: 239), ein Hardliner in der KPdSU, der dafür sorgte, dass Reformen in der Sowjetukraine ausblieben. Mit dieser Symbolpolitik erreichte man die Wähler im Osten des Landes. Im Präsidentschaftswahlkampf von 2004, in dem Juš?enko den von Ku?ma eingesetzten und ihm loyalen Viktor Janukovy? herausforderte und der in die Ereignisse der Orangenen Revolution mündete, wurde noch mit weitaus härteren Bandagen gekämpft. Janukovy? setzte nach wie vor auf populistische Ziele, die regional verknüpft waren: Zusammenarbeit mit Russland, russische Sprache, Integration in Russland, Kooperation mit Putin (Karatnycky 2006: 37f.). Das Eingreifen internationaler Akteure unterstützte in der nationalen Wahrnehmung die regionale Teilung. Der Westen betonte die Bedeutung von freien und fairen Wahlen, einzelne Politiker bekundeten offen ihre Sympathien für Juš?enko. Es gab politische Deklarationen, und Finanzhilfen für ukrainische NROs sowie Wahlbeobachtungen. PR-Firmen boten ihre Dienste an, allerdings wertneutral, einige arbeiteten auch für Janukovy? (Sushko/Prystayko 2006: 130). Weitaus direkter war das Eingreifen Russlands, das die Ukraine offensichtlich nach wie vor als Teil seiner direkten Einflusssphäre betrachtete: das Wahlkampfbudget Janukovy?s stammte zu einem großen Teil von dem russischen Erdgaskonzern Gazprom, russische PR-Experten unterstützten die Kampagne Janukovy?s und russische Medien – die gerade in der Ostukraine konsumiert werden – stellten Janukovy? als verlässlichen Partner Russlands und Juš?enko als von den USA infiltriert dar (Boeckh/Voelkl 2007: 246; Petrov/Ryabov 2006: 161). Die Wahl bekam durch dieses massive Eingreifen eine geopolitische Komponente.
3.2 Von pluralistischen Enklaven zu zivilgesellschaftlicher Organisation
Der Erfolg der Orangenen Revolution beruhte auf einer Mobilisierung der Massen gelenkt durch organisierte und geschulte Akteure der Zivilgesellschaft, die wiederum eng mit der oppositionellen Elite kooperierten. Auf der Ebene der zivilgesellschaftlichen Organisation konnte man in den 1990er Jahren alternative Strukturmuster in pluralistischen Enklaven beobachten. Um das Jahr 2000 herum wurde die zivilgesellschaftliche Organisation dichter und trat selbstbewusster auf. Zeichnete sich der kompetitive Autoritarismus bisher durch Elitengruppen aus, die jeweils ihre partikularen Interessen verfolgten, so entstand jetzt ein breites Oppositionsbündnis.
In den 1990er Jahren blieb die zivilgesellschaftliche Organisation in der Ukraine gering, nicht nur wegen der eher atomisierten, apolitischen Bevölkerung, sondern vor allem aufgrund finanzieller Schwäche und staatlicher Willkür (O’Loughlin/Bell 1999). Das Protestpotential der Umbruchzeit verpuffte und hinterließ größtenteils isolierte Organisationen, die an persönlichen, vertikalen Verbindungen zum Machtzentrum hingen. Eher die Ausnahme als die Regel waren die pluralistische Enklaven in der Region L’viv.
Erneut sichtbar wurde das Protestpotential der Bevölkerung in den Jahren 2000 und 2001 durch die Initiative „Ukraine ohne Ku?ma!“ (Ukraïna bez Ku?my!, UBK). Die „Kuchma-Gate“-Affäre um den Mordfall Gongadze führte zu einer Mobilisierung großer Teile der Bevölkerung. Angestoßen von Führern der Sozialistischen Parteien, der NRU und der Nationalbewegung UNA-UNSO wurde die Kampagne schnell zu einer Massenbewegung. Gewalttätige Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten im März 2001 diffamierten sie und entzogen ihr den Boden. Kurze Zeit später wurde sie für beendet erklärt (The Ukrainian Weekly, August 25, 2002). Wie 1989-90, gab es auch dieses Mal ein Potential, das Menschen aus allen Regionen der Ukraine verband.
Trotz der 2001 als beendet erklärten Proteste verliefen die Aktionen nicht im Sande, sondern führten zu einer Stärkung der Opposition. Dies lag nicht zuletzt an der Unterstützung aus Elitenkreisen. Nachdem Juš?enko später im Jahr 2001 als Premier abgesetzt wurde, schloss er sich der Opposition an. 2002 sagte einer der Führer der UBK-Bewegung, Volodymyr ?emerys, dem neopatrimonialen Staat den Kampf an: „Es geht nicht nur darum eine Person gegen eine andere auszutauschen. Wir wollen nicht, dass die Situation in der Ukraine und das Schicksal der Menschen vom Charakter einer des Mannes abhängen, der Präsident ist.“ (The Ukrainian Weekly, August 25, 2002, übersetzt aus dem Englischen). Die Akteure der Kampagne waren eng verbunden mit den Oppositionsparteien, Jurij Lucenko selbst gehörte zur Sozialistischen Partei und den Zirkel um Moroz, ?emerys war parteiloser Abgeordneter des Parlaments, andere unterstützten die Oppositionsparteien von Juš?enko und Tymošenko (www.justus.com.ua/persons/lucenko; gska2.rada.gov.ua/pls/radac-gs09/d-ank-arh?kod=25
902). Wichtig für den Erfolg der Opposition war ihre Einigkeit: so konnten Juš?enko, Tymošenko und Moroz sich gemeinsam gegen Ku?ma einsetzen. Diese neue Einigkeit setzte man jetzt auch zur Mobilisierung ein und vermied 2004 bewusst einen Wahlkampf, der regionale Klaviaturen bediente. Juš?enko knüpfte an die Kampagne der UBK-Bewegung an, indem er beispielsweise Slogans übernahm. Themen waren außerdem Freiheit und eine Kampfansage gegen die Korruption. Geschickt gewählt war die Farbe orange, denn sie ermöglichte auch in der Ostukraine eine Identifikation mit den Zielen der Revolution, denn das Symbol der blau-gelben ukrainischen Flagge ist nationalistisch besetzt, und sie diente in vorangegangenen Protesten häufig den Westukrainern als Symbol (Diuk 2006: 82). Damit vermied er eine direkte regionale Mobilisierung.
Bereits zu Beginn des Jahres 2004 begannen die NROs, sich auf die Präsidentschaftswahlen vorzubereiten. Sie antizipierten massive Verletzungen der Wahlfreiheit und Wahlbetrug und entwarfen das Programm „Welle der Freiheit“, um dem entgegenzuwirken. Das Programm wurde von mehreren NRO-Koalitionen und zahlreichen Einzelorganisationen unterzeichnet und sah die Bildung und Information der Wähler, Wahl-Monitoring sowie die Vorbereitung von Mobilisierungen sozialer Bewegungen vor. Viele der Organisationen hatten ihren Hauptsitz in Kyiv, kooperierten aber mit Organisationen in den Regionen. Unter diesem Schirm oblag der Jugendbewegung „Pora!“ („Höchste Zeit!“) die Wählerinformation und Mobilisierung. Pora! bestand aus mehr als 150 verschiedenen nationalen, regionalen und lokalen NROs (Demes/Forbrig 2006: 87f.) und wurde bereits 2002-3 von Aktivisten unter anderem aus der UBK-Bewegung organisiert. 2003 wurden Verbindungen zu Serbiens OTPOR aufgenommen (Jamestown Publications, 2.2.2005). Die Kampagne der NROs und insbesondere von Pora! vermied das Ausspielen regionaler Trümpfe. Herausgestellt wurden demokratische und bürgerliche Werte und gleichzeitig die Anklage des „Ku?ma-ismus“ und der zerstörerischen Kräfte des Regime für die ukrainische Gesellschaft (Demes/Forbrig 2006: 90ff.).
Sowohl Diuk als auch Kuzio (beide 2006) betonen, dass zum Zeitpunkt der Orangenen Revolution Nationsbildung soweit vorangeschritten sei, dass ein neuer, bürgerlicher Nationalismus entstanden sei, der zur gesamtukrainischen Mobilisierung tauge. Dieser sei an Europa orientiert und nicht ethnisch besetzt (Diuk 2006: 82; Kuzio 2006: 62). Die gesamtukrainische Mobilisierung war jedoch schon aus Kosten-Nutzen-Kalkülen dringend notwendig, denn die Bevölkerung der westukrainischen Gebiete und Kyivs, die traditionell eher reformorientiert ist, hätte zahlenmäßig nicht ausgereicht, um einen derart schlagkräftigen Protest aufrechtzuerhalten. Jegliches Unterstreichen von Symbolen oder Werten, die regional besetzt sind, hätte dem entgegengewirkt.
Beachtlich ist die gesamtukrainische Vernetzung der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die außerdem transnationale Anbindungen hatten. Waren horizontale Kooperationen Ende der 1990er Jahre noch äußerst schwierig auf die Beine zu stellen (Šabi? 2007), so gab es diesmal keine vertikalen Fragmentierungen dieser Netzwerke. Es sei dahin gestellt, ob dies nicht an einer ohnehin vertikal initiierten Integration und der engen Verknüpfung mit den Oppositionseliten lag, die in diesem Fall zusammenarbeiteten. Die seit 2001 fortschreitende Zuspitzung auf zwei Gruppen – für oder gegen Ku?ma – ermöglichte neue Kooperationen und dies setzte sich dann in die Ebene der Zivilgesellschaft fort.
Dennoch kann man die Orangene Revolution nicht allein als Elitenprojekt oder gar als extern ausgelöst betrachten. Die Jugendbewegungen Pora!, Chysta Ukraina (Saubere Ukraine) und Znayu (Ich weiß) wurden zu einem großen Teil aus ukrainischen Mitteln finanziert, denn die Unternehmer der neuen Mittelklasse sympathisierten mit der Bewegung (Diuk 2006: 82). Dadurch wird deutlich, dass diese Bewegungen, trotz transnationaler finanzieller Unterstützung (Diuk 2006: 82), einen Rückhalt in der ukrainischen Bevölkerung der neuen Mittelklasse hatten und eben nicht ein reines Implantat westlicher Geber waren. Die Zusammenarbeit von Opposition, zivilgesellschaftlichen Akteuren, mittelständischen Unternehmen und mobilisierter Bevölkerung unter Vermeidung regionaler Klischees hat gezeigt, welche Schlagkraft dann von ihr ausgehen kann. Hunderttausende demonstrierten in Kyiv für mehr Demokratie und erhofften sich von Juš?enkos Sieg bei der dritten Runde der Wahlen am 26. Dezember 2004 weit reichende Veränderungen. Das geschwächte Zentrum konnte die Großdemonstrationen nicht verhindern. Der „wirkungslose Pluralismus“ war plötzlich ausgehebelt, und der eigentlich wichtigste Faktor in einem demokratisch verfassten Staat – die Bevölkerung – verschaffte sich endlich Gehör.
4. Triumph der Zivilgesellschaft?
Dieser „Triumph der Zivilgesellschaft“ (Diuk 2006) erwies sich leider nicht als nachhaltig. Möglich war dies, weil hinter den Umbrüchen in der formalen institutionellen Ordnung die Kontinuität informeller Institutionen und neopatrimonialer Elemente erhalten blieb. Die geeinte Oppositionselite brach auseinander, so dass erneut konkurrierende Elitengruppen mit partikularen Interessen agieren. Die Eliten bewiesen auch in ihren Strategien Kontinuität: sie greifen erneut auf eine populistische Mobilisierung zurück, die regionale Differenzen instrumentalisiert. Diese haben durch die Ereignisse der Orangenen Revolution eine neue Qualität: sie werden jetzt gleichgesetzt mit für oder wider „orange“ und haben eine moralische Komponente. Der vormals erstarkte Faktor der zivilgesellschaftlichen Organisation wird somit von neuem geschwächt.
4.1 Formale Umbrüche und informelle Kontinuitäten
Mit dem Amtsantritt Juš?enkos am 23. Januar 2005 änderten sich einige Rahmenbedingungen des politischen Systems: die Verfassung wurde zugunsten eines präsidentiell-parlamentarischen Systems geändert. Am 1. Januar 2006 ging die Vollmacht der Regierungsbildung auf das Parlament über. Im Februar 2005 wurden das Verhältniswahlrecht und eine neue, dreiprozentige Sperrklausel eingeführt, um die Parteien zu stärken. Die Einführung des imperativen Mandats sollte die Fluktuation der Abgeordneten eindämmen (Flikke 2008: 387)). Die Parlamentswahlen 2006 wurden von den internationalen Beobachtern der OSZE als “frei und fair” eingestuft. Juš?enko bemühte sich ferner, die Korruption zu bekämpfen (Schneider-Deters 2006: 60). Die Korruption konnte begrenzt werden (Transparency International 2006).
Die formalen Änderungen sind allerdings nur eine Seite der Medaille, deren Kehrseite die informellen Prozesse sind. Das Verfassungsgericht wurde beispielsweise an seiner Arbeit gehindert. Das vor 2006 von Janukovy?-Anhängern dominierte Parlament weigerte sich, neue Richter zu ermächtigen, mit der Begründung, diese würden die Verfassungsreformen von 2004 zurücknehmen. So wurde das Verfassungsgericht zunächst einmal für beinahe ein Jahr lahm gelegt (RFE/RL 2006). Das Parteiengesetz stärkte nicht die Parteien, sondern vermehrte sie lediglich. Die Personalisierung nahm sogar zu, denn die Parteien und “Blöcke”, in denen sie sich zusammentaten, wurden noch nicht einmal mehr programmatisch bezeichnet, sondern trugen überwiegend die Namen der jeweiligen Führer. Sie vertraten eher die verschiedenen Interessen innerhalb der Elite, als die der Bevölkerung (Schneider-Deters 2006: 61).
Nach den Wahlen 2006 verschärfte sich die Situation. Juš?enko wurde von den Wählern abgestraft und verlor dadurch große Teile seiner Basis. Das Machtzentrum blieb schwach, und die Konkurrenz der Elitengruppen nahm erneut zu. Nachdem eine zuerst angestrebte “Orangene Koalition” zwischen den Blöcken Unsere Ukraine und Julija Tymošenko zerbrach, nahm man die Partei der Regionen ins Boot, und Juš?enkos ehemaliger Rivale Janukovy? wurde im August 2006 Ministerpräsident, ein Schachzug, der als „Vereinigung von Ost- und Westukraine“ verkauft werden sollte (Jamestown Publications, 10.8.2006). Diese Legitimitätsstrategie versucht darüber hinweg zu täuschen, dass der Wählerwille, der eine orangene Mehrheit ergab, ignoriert wurde.
4.2 Die Ikonisierung regionaler Differenzen
Die Elitenkonkurrenz wird erneut symbolpolitisch ausgetragen. Die konservativen Kreise forderten das Zentrum auf verschiedenen Ebenen heraus: innerstaatlich wurde die Sprachfrage geschürt. Gleich nach Juš?enkos Amtsantritt 2004 haben regionale Autoritäten in der Süd- und Ostukraine Russisch zur so genannten „Regionalsprache“ ernannt. Trotz Erklärungen aus Kyiv, dass dieses Vorgehen nicht verfassungsgemäß sei, stand das Zentrum diesen Aktionen hilflos gegenüber, denn das Verfassungsgericht war ja außer Gefecht gesetzt. Dazu kam die Instrumentalisierung der internationalen Politik, um die regionale Teilung zu forcieren. Vorwände für Proteste bot die angestrebte NATO-Mitgliedschaft durch Juš?enko. Die Opposition um die Partei der Regionen, den Vitrenko-Block und die KPU nutzte hier jede Gelegenheit, Juš?enkos Politik zu diffamieren (RFE/RL 2006). Die Art der Auseinandersetzung ist dabei der springende Punkt: denn es geht nicht um den Austausch politischer Argumente, sondern man instrumentalisiert die Ängste regionaler Bevölkerungsgruppen.
Im Zuge der vorgezogenen Neuwahlen vom September 2007, die nötig wurden, weil sich keine der Koalitionen als arbeitsfähig erwies, wurde wieder auf die regionale Karte gesetzt, allerdings diesmal von Seiten des Unsere Ukraine – nationale Selbstverteidigung-Blocks um Juš?enko. Juš?enkos manifestierte: “Unser Ideal ist ein starker Staat, ein Volk, eine offizielle Sprache, eine christlich orthodoxe Kirche und eine Nation.“ (RFE/RL 2007, übersetzt aus dem Englischen) und benutzte damit die Sprache der westukrainischen Nationalisten. Lucenko, der ebenfalls zu den führenden Persönlichkeiten des Blocks gehörte, hielt eine leidenschaftliche Rede und verwies darauf, dass seine Wahlliste keinen “Judas” enthalte, der die Ideale der Orangenen Revolution verraten habe. Er nannte Moroz namentlich und beschuldigte ihn des Verrats wegen seiner Zusammenarbeit mit der Partei der Regionen (RFE/RL 2007). Dabei ignorierte er natürlich, dass Juš?enko selbst Janukovy? als Premier ins Boot geholt hatte. Juš?enko bediente die westukrainischen nationalistischen Kräfte auch, indem er die Erinnerung an die Kämpfer der UPA Mitte des 20. Jahrhunderts unterstützte. Diesen Kurs behielt er nach den Wahlen bei: Im Oktober 2007 wurde Roman Šuchevy? zum “Held der Ukraine” erklärt und beschlossen, den 65. Jahrestag der UPA im Oktober 2007 erstmals in der Nachkriegsgeschichte der Ukraine offiziell zu begehen. Dies löste Proteste der pro-russischen Bevölkerungsteile und der Linken aus, die in der UPA weniger ukrainische Befreiungskämpfer als Nazi-Kollaborateure sehen. Auf Gegendemonstrationen zeigten die Flaggen des Vitrenko-Blocks unter anderem Stalin. Natalija Vitrenko selbst empörte sich lauthals und wenig vornehm: „Ich schlage vor den Sicherheitsdienst der Ukraine in ‚Sicherheitsdienst der orangenen Missgeburten umzubenennen.’“ (Ukraine-Nachrichten, 15.10.2007). Die Instrumentalisierung der regionalen Differenzen wird offenkundig zunehmend populistisch und plakativ betrieben. Dabei scheut man sich auch nicht, sich regionaler Galionsfiguren, wie auf der einen Seite Bandera, Šuchevy? und auf der anderen Stalin, die mit Demokratie und Menschenrechten nichts zu tun haben, zu bedienen. Damit erreicht man eine Ikonisierung, die jeglichen Dialog verhindert.
5. Ausblick: die Vielfältigkeit der Hybridität nutzen
Die Massenproteste von 2004 führten zunächst tatsächlich zu einem Elitenwechsel und zu einem Wandel auf der formalen Ebene des politischen Systems, ein wichtiges Moment, denn es wird klar, dass kein Machtinhaber sich auf den wirkungslosen Pluralismus verlassen kann. Die Kraft lag in der Einigkeit der Oppositionseliten, ihrer Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und großer Teile der Bevölkerung, und zwar landesweit. Die keimende Zivilgesellschaft erwies sich jedoch nach wie vor als zu schwach, um ein Gegengewicht zu den autokratischen Tendenzen der oligarchisch strukturierten Eliten zu bilden. Die Gründe dafür liegen in der Funktionslogik des neopatrimonialen Systems, dem die formalen Reformen aufgrund der Schwäche des Zentrums wenig anhaben konnten. Es erschwert eine horizontale Vernetzung, fördert informelle, vertikale Beziehungen und benötigt populistische Legitimationsstrategien – Bedingungen, die der „patrimonialen Hälfte“ des Hybridsystems entsprechen und die die legal-bürokratische unterwandern. Staatsbildung wird so behindert und damit fehlt zivilgesellschaftlicher Organisation ihr Pendant – der Staat. Auf der symbolischen Ebene könnte ein integrierendes Nationskonzept ein Anreiz für zivilgesellschaftliches Handeln sein. Wie gezeigt wurde, ist so ein Konzept von Nation nicht im Interesse der konkurrierenden Eliten. Stepanenko (2006) hat auf ein weiteres Moment verwiesen, in dem er eine bottom-up Perspektive wählt: ob Individuen ihre partikularen Interessen mittels Patronage-Beziehungen durchsetzen, oder ob sie Organisationen gründen, um ihre Rechte durchzusetzen und zu verteidigen, seien zwei verschiedene politische Kulturen. Neopatrimoniale Systeme sind jedoch hybride und ermöglichen vielfältige Strategien, auch solche, die einem liberalen Bürger-Verständnis entspringen. Die daraus entstehenden pluralistischen Enklaven können wachsen und den Boden für eine zivilgesellschaftliche Organisation bereiten.
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Claudia Šabi? ist Politikwissenschaftlerin und Ethnologin. Seit 1998 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Sie war u.a. beteiligt an dem Projekt „Actors and Institutions in Regional and Local Development Policy in Central East and Eastern Europe“; an der Entwicklung des interdisziplinären Studienprogramms „Europäische Stadt- und Regionalentwicklung“; an der Arbeitsgruppe „Osteuropa“ der Promovierenden des Internationalen Promotionszentrums (IPC) am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Frankfurt am Main. Zuletzt erschien: „Ich erinnere mich nicht, aber L’viv!“ Zur Funktion kultureller Faktoren für die Institutionalisierung und Entwicklung einer ukrainischen Region, Stuttgart: ibidem-Verlag, 2007.
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Zeitungsartikel
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Notes: